„Utopia“: Schwungvolles US-Remake des britischen Science-Fiction-Kults – Review

Eine neue Gruppe von Comicfans findet sich in einer gefährlichen Verschwörung wieder

Rezension von Christopher Diekhaus – 29.10.2020, 17:30 Uhr

„Utopia“ – Bild: Prime Video
„Utopia“

Wenn sich Fiktion und Wirklichkeit erschreckend ähnlich sind: Schon der beunruhigend-mysteriöse Vorspann von „Utopia“ lässt erahnen, dass tödliche Viren in der US-Adaption der gleichnamigen britischen Kultserie eine zentrale Rolle spielen werden – und dem Geschehen angesichts der Verschärfung der Corona-Lage einen beklemmenden, hochaktuellen Anstrich verleihen. Kreiert wurde die amerikanische Neuinterpretation von der als Romanautorin bekannt gewordenen Gillian Flynn, die unter anderem die Vorlage für David Finchers doppelbödigen Ehethriller „Gone Girl – Das perfekte Opfer“ lieferte. Unter ihrer Federführung scheint ein zackig-wendungsreiches Remake mit einer aufregenden Heldentruppe entstanden zu sein – das zumindest legen die ersten beiden Episoden nahe, die für die vorliegende Kritik gesichtet wurden.

Alles beginnt mit dem jungen Pärchen Olivia (Maya Kazan) und Ethan (Calum Worthy), das das Haus ihres Großvaters erbt und für das baldige Eheleben auf Vordermann bringen möchte. Mitten im Chaos, das die beiden vorfinden, stoßen sie auf einen vergilbten Comic namens Utopia, den sie bei einer Convention zu Geld machen wollen. Die Begeisterung ist riesig, als der Fund einer Nerd-Gruppe zu Ohren kommt, die dem Comic-Buch Dystopia verfallen ist, bei dem es sich um den Vorgänger des frischentdeckten Werkes handelt. Nach dem unverhofften Auftauchen der lange erwarteten Fortsetzung machen sich Becky (Ashleigh LaThrop), Ian (Dan Byrd), Wilson Wilson (Desmin Borges), Samantha (Jessica Rothe) und Grant (Javon „Wanna“ Walton), die Mitglieder der Chatclique, auf den Weg zu besagtem Comic-Event, um sich zum ersten Mal live zu treffen und gemeinsam den Bieterwettstreit um den neuen Band zu gewinnen.

Ihre Leidenschaft für Dystopia rührt vor allem daher, dass sie, im Gegensatz zu anderen Comic-Fans, nicht nur die Mythologie des düsteren, schön schaurig gestalteten Buches verehren. Vielmehr sind sie überzeugt, dass die Geschichte der schlagkräftigen Heldin Jessica Hyde Prophezeiungen mit eindeutigen Bezügen zur realen Welt enthält. Überall in Dystopia – so glauben sie – gibt es versteckte Hinweise auf Pandemien, die tatsächlich über die Menschheit hereingebrochen sind. Von Utopia erhofft sich die Truppe weitere verschlüsselte Botschaften. Ein besonderes Interesse für das neu entdeckte Werk zeigt auch das zwielichtige Duo Arby (Christopher Denham) und Rod (Michael B. Woods), das nicht vor Mord zurückschreckt, um in den Besitz des sagenumwobenen Comics zu gelangen.

Sasha Lane als Jessica Hyde, Dan Byrd als Ian, Desmin Borges als Wilson Wilson (liegend), Jessica Rothe als Samantha und Ashleigh LaThrop als Becky in „Utopia“ Elizabeth Morris/​Amazon Prime Video

In der Titelsequenz erscheint sein Name gleich an erster Stelle. Die Bühne betritt Hollywood-Mime John Cusack jedoch erst in der zweiten Folge. Der von ihm gespielte Pharmaunternehmer Dr. Kevin Christie, der im Labor einen Fleischersatz entwickelt hat, muss sich hier während eines Interviews kritischen Rückfragen zum Ausbruch einer seltsamen Grippe in den USA stellen. Ebenfalls eingeführt wird in dieser Episode der um Forschungsgelder kämpfende Wissenschaftler Michael Stearns (Rainn Wilson), der auf dem Virenfeld aktiv ist.

Im Mittelpunkt der Serie stehen allerdings die Comicfreunde, die sich mit größter Hingabe dem Dystopia- und Utopia-Universum widmen und in eine unglaubliche Verschwörung hineinschlittern. Schon im Rahmen der Convention spielen Showrunnerin Gillian Flynn und Regisseur Toby Haynes („M.I. High“), der neben den ersten drei Folgen auch die letzte inszeniert hat, mit dem klischeehaften Bild, das Comic-Liebhabern gemeinhin anhaftet. Bei der Veranstaltung tummeln sich lauter lustig verkleidete Frauen und Männer, über die man ein wenig schmunzeln muss. Mit Herablassung begegnen die Macher diesem Personenkreis allerdings nicht. Immer wieder blitzt Sympathie für das Nerdtum auf. Und gerade die einnehmende Zeichnung der Hauptfiguren lässt den Zuschauer mit Freude in den skurrilen Kosmos eintauchen. Während Grant anfangs eigene Wege geht und in Episode zwei etwas aus dem Blick gerät, finden Becky, Ian, Wilson Wilson und Samantha nach einem feuchtfröhlichen Abend schnell zueinander.

John Cusack als Dr. Kevin Christie in „Utopia“ Elizabeth Morris/​Amazon Prime Video

Auch wenn Flynn öffentlich betonte, dass ihre Serienversion weniger brutal sei als das deftige britische Original, erwischt einen der oft plötzliche Stimmungsumschwung manchmal mit voller Wucht. Blutige Eskalationen hält auch das US-Remake bereit. Zum Beispiel im für eine potenzielle Apokalypse bestens ausgestatteten Bunker des paranoiden, aber liebenswerten Wilson Wilson. Nicht selten kippt eine Szene, die eigentlich absurd-komischen Charakter hat, ins nachhaltig Verstörende. Großen Anteil daran hat Darsteller Christopher Denham, der dem Bösewicht Arby trotz eines übertrieben schrulligen Aussehens eine erstaunlich unheimliche Aura verpasst. Wie kontrolliert und stoisch er seinem mörderischen Treiben nachgeht, lässt einen wiederholt erschaudern. Was genau er und sein Komplize im Schilde führen, bleibt übrigens zunächst im Dunkeln.

Überraschend und eher ungewöhnlich ist, dass „Utopia“ seine Protagonisten nicht mit Samthandschuhen anfasst. Schon früh geht es einem der Comicfreunde so sehr an den an den Kragen, dass man Angst um sein Leben haben muss. Ins Bild passt auch der Paukenschlag, mit dem die zweite Folge endet. Im weiteren Verlauf sollte man, das unterstreicht diese Wendung deutlich, auf alles gefasst sein.

Rainn Wilson als Dr. Michael Stearns in „Utopia“ Elizabeth Morris/​Amazon Prime Video

Für Staunen sorgt bei Becky, Ian, Wilson Wilson und Samantha das Auftauchen einer temperamentvollen jungen Frau, die sich als Jessica Hyde (Sasha Lane) vorstellt: Die Heldin aus ihren Lieblingscomics ist offenkundig nicht fiktiv, sondern befindet sich, wie im Buch, auf einer heiklen Befreiungsmission. Mit ihrem Erscheinen am Ende der ersten Folge bekommt die Serie zusätzliche Dynamik, die sich auch auf die Comictruppe auswirkt. Jessicas skrupelloses Verhalten könnte zu einem echten Prüfstein für die kleine Gemeinschaft werden. Bleibt zu hoffen, dass die Serie es schafft, ihre unberechenbare Energie in den restlichen Episoden zu konservieren und ihre reizvolle, mit den Grenzen von Fiktion und Realität spielende Prämisse clever auszuweiten.

Dieser Text basiert auf Sichtung der ersten beiden Episoden von „Utopia“.

Meine Wertung: 3,5/​5

In Deutschland veröffentlicht Prime Video am 30. Oktober 2020 seine Serie „Utopia“ sowohl in deutscher Synchronfassung als auch im englischen Originalton.

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