„This is Going to Hurt“: Wohl und Wehen auf der Geburtsstation – Review

Fulminante Krankenhausserie mit Ben Whishaw ist endlich in Deutschland zu sehen

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 01.11.2022, 17:00 Uhr

Chaos in der Klinik: Adam Kay (Ben Whishaw) schwankt zwischen Idealismus und Resignation. – Bild: BBC/AMC
Chaos in der Klinik: Adam Kay (Ben Whishaw) schwankt zwischen Idealismus und Resignation.

Richtig gute Krankenhausserien hat es in letzter Zeit kaum gegeben – diese hier ist eine. Ben Whishaw spielt in „This is Going to Hurt“ einen noch relativ jungen, aber schon desillusionierten Arzt auf der Station für Geburtshilfe und Gynäkologie eines staatlichen Krankenhauses in London, der zwischen medizinischen Idealen, privater Unentschiedenheit und permanenter Überforderung zerrieben zu werden droht. Die bereits vielfach gefeierte Co-Produktion von BBC und AMC ist via MagentaTV jetzt endlich auch in Deutschland zu sehen, kongenial balanciert sie galligen Humor und harte Tragödie miteinander aus, packend kritisiert sie die Zustände im (nicht nur britischen) Gesundheitssystem. Eine der besten Serien des Jahres.

Nach den ersten paar Minuten von „This is Going to Hurt“ dürften die meisten Zuschauer für sich entschieden haben, ob sie sich diesen sieben Episoden aussetzen wollen oder nicht. Da läuft Adam Kay (Whishaw), der die Nacht zwischen Überstunden und Frühschicht in seinem auf dem Parkplatz abgestellten Auto schlafend verbracht hat, auf seine Arbeitsstätte zu, ein staatliches Krankenhaus im Londoner East End. Davor findet er eine hochschwangere Frau vor, die neben erkennbaren Wehen auch von Ratlosigkeit geplagt ist – irgendwas scheint nicht in Ordnung zu sein.

Adam schaut kurz nach und entdeckt einen Säuglingsarm, der bereits aus der Vagina der Frau herausragt. Das Baby liegt quer. Ist das normal?, fragt die Frau. Raten Sie mal, entgegnet Adam – allerdings sagt er das nicht der Frau, sondern den Zuschauern, die er dabei vielsagend anblickt. Noch in seinen Alltagsklamotten schleppt er die Patientin dann (Sind Sie wirklich Arzt?, fragt sie zwischen ihren Schmerzensschreien) durch die Hintertür ins Krankenhaus, und während einer abenteuerlichen Fahrt mit dem Paternoster baumelt plötzlich die Nabelschnur aus der Frau heraus. Die letzten Meter bis zum rettenden Kaiserschnitt sind kein Waldspaziergang.

Werdende Väter am Rande des Nervenzusammenbruchs: Hebamme Tracy (Michele Austin) beruhigt. BBC/​AMC

Mit diesem Notfall – so absurd, wie es Notfälle nicht selten sind – poltert die britisch-amerikanische Produktion direkt mit der Tür ins erzählerische Haus. Es wird nicht das letzte Mal sein, dass sich in dieser Serie Dinge im gynäkologischen Bereich ereignen, die sich so nicht ereignen sollten, und die Regisseure Lucy Forbes und Tom Kingsley gehen da grundsätzlich nicht vornehm drüber hinweg. Wer in solchen Sachen empfindlich ist, zumal es dabei oft um die Gesundheit oder gar das Leben der beteiligten Frauen und Säuglinge geht, sei hiermit vorgewarnt – die beschriebene Einstiegssequenz ist ideal dafür geeignet, das, was da im Folgenden zu erwarten sein wird, einschätzen zu können. Meine Empfehlung lautet jedenfalls: dranbleiben, es lohnt sich!

Diesen Adam Kay, den gibt es übrigens wirklich. Auf seinen Erinnerungen (die in Deutschland 2018 unter dem Titel „Jetzt tut es gleich ein bisschen weh“ bei Goldmann erschienen sind) basiert die Serie, auch wenn der frühere Arzt die Gesundheitsbranche inzwischen verlassen hat und ausschließlich als Autor und Comedian tätig ist. In seinem Buch schildert er, mit typisch britischem Trockenhumor und schonungsloser Offenheit, die Zustände, die er Mitte der Nullerjahre als junior doctor (bei uns etwa: Arzt im Praktikum) in der Geburtsstation eines NHS-Krankenhauses in London vorgefunden hatte. Das waren keine guten Zustände: zu wenige Ärzt*innen und Hebammen für zu viele Patientinnen, permanente Übermüdung des Personals, strukturelle Defizite an allen Ecken. NHS, das ist der sogenannte National Health Service, das staatliche Gesundheitssystem Großbritanniens, einst der Leuchtturm des Nachkriegs-Wohlfahrtsstaates, später, wie so vieles, immer rabiater zusammengespart. Adam Kays Erinnerungen spielen nach den sozialen Kahlschlägen unter Maggie Thatcher, aber noch lange vor Brexit und Corona, die die Probleme noch dringlicher gemacht haben – weshalb die Serie ganz gut passt in eine Zeit, in der sich viele an die Balkonklatsch-Events für Pflegekräfte zu Beginn der Pandemie kaum noch erinnern mögen.

Eine dröge soziale Anklage sind aber weder das Buch noch jetzt die Serie, deren Drehbücher Kay höchstselbst verfasste; im Gegenteil, die Episoden mixen, in teilweise durchaus atemberaubendem Tempo, herrlich bösen Witz mit emotional aufwühlenden Szenen. Adam, dessen gelegentliches Beiseitesprechen in die Kamera an „Fleabag“ erinnert (und damit an die beste britische Comedyserie der letzten Jahre), hat das Glück, von Ben Whishaw gespielt zu werden. Der Filmstar („Das Parfum“, Q in den Bond-Filmen) kann mühelos zwischen unglaublich witzig und gottverlassen trübselig hin- und herswitchen. Die alles durchdringende Müdigkeit, die seine arbeitsüberlastete Figur plagt, ist in jeder Szene präsent. Unterstützt wird das durch eine dynamische, aber nie aufdringliche Inszenierung, die Übermüdung und -forderung in entscheidenden Momenten durch verkantete Blickwinkel und Perspektivspiralen unterstützt.

Ein Privatleben in Trümmern: Wo andere Leute die Liebe feiern, steht Adam ratlos im Eck. BBC/​AMC

Von Folge zu Folge wirft die Serie Schlaglichter auf die Zustände im Krankenhaus, wobei die Fehleinschätzung, die sich Adam in der ersten Episode leistet, als er eine junge Patientin irrtümlicherweise für eine Simulantin hält, eine Art roten Faden liefert, der sich durch die weiteren Episoden zieht. Das Frühchen, das nach einem Notkaiserschnitt in einem Brutkasten liegt, wird zu Adams unwahrscheinlichem Vertrauten: Immer wieder setzt er sich vor den Kasten und hält (einseitige) Zwiesprache, während ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet wird.

Nach und nach lernen wir das Personal in Adams Umfeld kennen: Dr. Jennings etwa, den Chefarzt der Station (herrlich ölig: Alex Jennings aus „The Lady in the Van“), dessen Opportunismus schwer zu ertragen ist und der Organisatorisches gern vom Golfplatz aus erledigt, während die Untergebenen beständig übers Limit hinausgehen müssen. Oder die No-Nonsense-Hebamme Tracy (Michele Austin). Der ruppige, aber ehrliche Kollegen Julian (Kadiff Kirwan, „Ich schweige für dich“). Oder „Non-Reassuring Trace“ (Josie Walker), die grundsätzlich immer besorgt ist, meist mit Grund. Wunderbar amüsant ist Ashley McGuire als Fachärztin Ms. Houghton, die in brenzligen Situationen noch die ärgste OP auf Leben und Tod mit der stoischen Gelassenheit einer Veteranin durchführt.

Und dann ist da noch die junge und unerfahrene Shruti (Ambika Mod), die sich gerade aufs medizinische Staatsexamen (bzw. dessen britisches Pendant) vorbereitet. Adam soll für sie den Mentor spielen, hat aber kaum Lust dazu. Schroff und herablassend verhält er sich gegenüber der ambitionierten Anfängerin, die in der Folge in eine erdrückende Sinnkrise abdriftet, die „This is Going to Hurt“ dem Serientitel gemäß konsequent ausbuchstabiert. Newcomerin Mod macht Shruti schleichend zum eigentlichen emotionalen Zentrum der Staffel – eine Darstellerin, die man sich merken sollte.

Während auf der Station buchstäblich die Wände einstürzen, integriert Kay das aus bewährten Krankenhausserien bekannte Patient-der-Woche-Prinzip in den Plot, zumindest am Rande; in jeder Episode gibt es eine oder mehrere Patientinnen, an denen beispielhaft vorgeführt wird, was auf so einer Geburtsstation alles geschehen (und schiefgehen) kann. Es geht um medizinische Probleme ebenso wie um soziale, um unschöne Gespräche, die geführt werden müssen, und auch um häusliche Gewalt. Adams und Shrutis Idealismus zerschellt immer wieder an den durch die Zustände gesetzten Limitierungen.

Quo vadis Shruti (Ambika Mod)? Die junge Ärztin hatte sich was anderes unter ihrem Job vorgestellt. BBC/​AMC

Adam ist dabei alles andere als ein „Held“; der Stress und die Unzulänglichkeiten seines Arbeitsalltags haben sich auch in seine Umgangsformen eingeschrieben. Einerseits ist seine Sensibilität klar erkennbar – als eine ältere Patientin stirbt, die er betreute, setzt ihm das sichtlich zu. Andererseits ist es der Serie (und Whishaw) hoch anzurechnen, dass sie den Mut haben, den Protagonisten immer wieder deutlich unsympathisch zu zeichnen, nicht nur, wenn er mal wieder alle helfenden Hände beiseiteschiebt, die sich ihm anbieten, oder wenn er seine Freunde regelmäßig verprellt und enttäuscht. Letzteres gilt auch für seinen Partner Harry (Rory Fleck Byrne, „Pixie“), der unter der Distanziertheit seines Workaholic-Freundes am meisten zu leiden hat. Zu seiner Homosexualität steht Adam nur in ausgewählten Fällen: Im Krankenhaus verschweigt er sie konsequent, und seine snobistische Mutter (Harriet Walter) reagiert ausnehmend kühl auf das späte Coming Out.

Zunehmend gebannt folgt man Adams Versuchen, Arbeit und Privatleben, Freundes- und Kollegenkreis erfolglos miteinander auszubalancieren. Eine Verlobungsfeier endet in einem schwer mitanzusehenden Desaster: Whishaw spielt Adams Selbsthass so intensiv, dass es schmerzt. Am Ende, nach schmerzlichen Verlusten, bleibt ein bisschen Hoffnung zurück – auch im NHS-Hospital. Zwischenzeitlich ließ Adam sich in ein sündhaft teures Privatkrankenhaus verleihen, in dem die Ärzte von Kellnern bedient werden und einzelne Patienten ganze Etagen für sich reservieren; an einem markanten Beispiel wird dort gezeigt, dass auch im medizinischen Privatsektor längst nicht alles Gold ist, was da so glänzt in den mahagonigetäfelten Suiten.

Ob „This is Going to Hurt“ fortgesetzt wird, auch über das durch Kays Erinnerungsbuch vorgegebene Material hinaus, das ist, scheint’s, noch nicht entschieden. Fest steht jedoch: Wohl und Wehe(n) auf Adams Geburtsstation würde man gerne auch jenseits des Miniserien-Formats folgen. Eine gelungenere und unterhaltsamere Mischung aus Witz und Bitterkeit, Charakterporträt und Sozialkritik war zuletzt selten zu erleben.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der kompletten Staffel von „This is Going to Hurt“.

Meine Wertung: 4,5/​5

Alle bisherigen sieben Episoden von „This is Going to Hurt“ wurden Ende Oktober beim Streamnganbieter MagentaTV veröffentlicht.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

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