„The Wilds“: Überlebenskampf als Katharsis im „Lost“-Inselszenario – Review

Amazon-Produktion fesselt mit faszinierenden weiblichen Hauptfiguren

Rezension von Rosanna Großmann – 10.12.2020, 17:30 Uhr

Die gestrandeten Mädchen müssen sich erst orientieren – „The Wilds“ – Bild: Amazon.com Inc., or its affiliates
Die gestrandeten Mädchen müssen sich erst orientieren – „The Wilds“

Eine Gruppe jugendlicher Mädchen ist in „The Wilds“ im Privatflieger auf dem Weg nach Hawaii, zu einem therapeutischen Camp für junge Frauen. Hunderte andere seien ebenfalls auf dem Weg zum Dawn of Eve-Selbsterfahrungstrip, sagt ihnen die künstlich-aufgesetzt daherkommende Gretchen Klein (Rachel Griffiths) von der Organisation per Video im Flieger. Doch ausgerechnet dieses Flugzeug stürzt ab und die neun Teenagerinnen stranden auf einer einsamen Insel mitten im Pazifischen Ozean. Dort heißt es, ums Überleben zu kämpfen und Überblick über die Lage zu gewinnen – doch die eigentlichen Probleme der jungen Frauen haben bereits in ihrem vorherigen Leben in den USA ihren Ursprung. Durch Rückblicke wird die Geschichte des Unglücks erzählt, indem in jeder Folge eine andere Protagonistin von zwei Ermittlern des FBI befragt wird. Was die Zuschauenden noch eher bemerken als die Hauptfiguren, ist jedoch, dass die Mädchen schon auf der Insel beobachtet werden.

Die erste Folge der Amazon-Serie wirft das Publikum direkt hinein ins Geschehen: Erinnerungsfetzen bebildern die Gefühlswelt der ersten Interviewten, Leah (Sarah Pidgeon). Die 17-Jährige findet poetische Worte für das Leben der jungen Menschen in Nordamerika. In einer gelungenen Exposition ihrer Schicksalsgenossinnen erzählt sie von der erwachsenen Verantwortung, die viel zu früh auf ihrer aller Schultern gelegt wurde, und von der Suche nach Liebe, die sie im Grunde alle vereine. Wir sollten goldene Götter sein, und das 24/​7, kommentiert sie die Last der hohen Ansprüche, und nennt den Alltag als Teenagerin in den United States eine Hölle auf Erden. Eine Perspektive, mit der frau sich durchaus auch in Deutschland identifizieren kann.

Trotz dieser gemeinsamen Lebenserfahrung könnten diese Mädchen grundverschiedener nicht sein – es drängt sich gar der Eindruck auf, die Charaktere seien zu sehr nach polarisierenden Eigenschaften ausgewählt worden. Viele der dargestellten Charaktereigenschaften sind jedoch auch offensichtliche Schutzmechanismen, die die Mädchen gegen die grausame Welt der Pubertät aufgebaut haben. Und es ist bereits zu ahnen, dass die gemeinsame Krisenerfahrung sie einander näherrücken lassen wird: Ihre Schutzmechanismen müssen im Survivalmodus früher oder später fallen.

Verliebt in den Schriftsteller: Erste Protagonistin Leah (Sarah Pidgeon) Amazon.com Inc., or its affiliates

Leah, die äußerlich graumäuslich wirkende Leseratte, lebt angetrieben von Liebeskummer. Die Affäre mit einem Schriftsteller ging in die Brüche, da sie über ihr wahres Alter log und für ihr erstes Mal angab, 18 zu sein – ein US-amerikanisches Problem. Fatin (Sophia Ali) hingegen ist ein beliebtes girly girl mit Sprüchen auf den zierlichen Shirts und hinreichend Erfahrung im Bett. Basketballerin Toni (Erana James) ist männlich-tough und erzählt, auch schon mal mit ihrem eigenen Urin eine Rivalin beworfen zu haben.

Die offenherzige Martha (Jenna Clause), deren menschliches Grundvertrauen man als Naivität deuten könnte, freundet sich schnell mit der Blondine Shelby (Mia Healey) an, welche ständig das Ruder an sich reißen muss. Letztere kennt sich scheinbar mit allem aus, nimmt an Schönheitswettbewerben teil und lässt sich von ihrem Glauben tragen – doch sie versteckt ein Geheimnis vor den anderen Mädchen.

Überhaupt nicht grün sind sich die Zwillingsschwestern Nora (Helena Howard) und Rachel (Reign Edwards) – die eine hochintelligent mit autistischen Zügen, die andere eine verbissene Leistungssportlerin, deren ganzes Leben aus Turmspringen besteht. Die letzten beiden im Überlebensbunde sind die ganz unmädchenhafte Dot (Shannon Berry), die von Fatin gleich eine Menge Lesbenwitze hören muss (Ablenkung von sich selbst?) und die quirlige, kindliche Jeanette (Chi Nguyen).

Dot (Shannon Berry) ist schon vor dem Flugzeugabsturz im Survivalmodus. Amazon.com Inc., or its affiliates

Besonders deutlich werden die Unterschiede in den Handlungen, in die sich die Mädchen flüchten, während sie sich wahrhaftig im freien Fall befinden: Weinen, Nähe suchen, nach ewigem Verzicht Kuchen in sich hineinstopfen, Beten – oder den Liebesbrief des Verflossenen erneut lesen. Der Kuchen findet bei einigen der Mädchen seinen Weg zurück ans Licht, nachdem sie sich aus den schwimmenden Wrackteilen an den Strand gerettet haben. Zwei von ihnen sind verwundet, und man wundert sich doch, dass anscheinend alle überlebt haben und nach und nach alle wieder auftauchen.

Erste Verwunderung entsteht unter den Mädchen, als sie feststellen, dass jede von ihnen Wiederbelebung beherrscht. Als eine weitere Seltsamkeit erscheint das Smartphone, das Jeanette vor den anderen versteckt hielt und das mitten in der Nacht verräterisch klingelt. Doch niemand der engsten Kontakte, die die Gestrandeten anwählen, geht ans Telefon – und dann sind die Akkus auch schon alle. Als hätten sich die Eltern der Mädchen abgesprochen …

Wie in „Stranger Things“ wabert 80er-angehauchter Synth-Wave-Pop durch die Szenerien. Schnelle, aber nicht zu hektische Schnitte fesseln den Blick an den Bildschirm. Auch bei dieser Amazon-Produktion wird bald deutlich, dass eine mexikanische Mango-Limo wie auch Coca Cola Geld zur Produktion zugeschossen haben. Coke light ist, plakativ, etwa das Einzige, das die Mädchen erst einmal zu „essen“ finden – Alles mit Zucker ist gesunken, erklärt die nerdig-schlaue Nora. Natürlich hat es auch das Buch des geliebten Schriftstellers geschafft, sowie der gesamte Koffer der reichen Fatin.

Der Koffer war zwar wasserdicht, aber alles andere ist zum Schreien: Fatin (Sophia Ali) Amazon.com Inc., or its affiliates

Wie bedeutend die gewohnten Elemente der Realität wirklich sind, wird klar, als Fatin sich wie eine Verdurstende endlich wieder selbst im Spiegel ansehen kann – oder als Dot kulturelle Artefakte in Form eines Feuerzeuges und eines Handys im Sand begräbt. Sie sind nutzlos geworden. Tatsächlich werden sofort Freundschaften geschlossen, man nimmt einander auf einmal viel deutlicher wahr, schwelende Uneinigkeiten werden zur Krise. Auf etwas ungeschickte Weise hypen mehrere Figuren der Serie die Sängerin Pink. Als dann die Jugendlichen den Song „Raise Your Glass“ singen, ist das doch irgendwie nicht nur gruselig fehl am Platz, sondern auch berührend traurig.

Am Strand wird von den Mädels eine angeschwemmte Reisetasche gefunden, deren medizinischer Inhalt sich als sehr praktisch erweist. Und als Zuschauerin kommt man nicht umhin, abgesehen von „Lost“ oder „Cast Away – Verschollen“ auch an die Hungerspiele aus „Die Tribute von Panem: The Hunger Games“ zu denken: Dort segeln unterstützende Päckchen von Sponsoren stets an kleinen, silbernen Fallschirmen hernieder.

Beim später spielenden Verhör wirken die Mädchen äußerlich und auch innerlich kaputt – aber die einzelnen porträtierenden Folgen zeigen, dass dies eindeutig nicht nur den traumatischen Erlebnissen auf der Insel geschuldet ist. Die Hoffnungen, die infolge der Einsamkeit und der Extremsituation langsam sterben, waren schon zuvor nur ein wackeliges Konstrukt. Und so ist die Frage der Sportlerin Rachel, deren Minderwertigkeitskomplex sie in die Essstörung getrieben hat, eine entscheidende: Wollt ihr nicht in euer Leben zurückkehren? Sehr wahrscheinlich nicht in das alte, wie es einmal war. Auch die Serie wirkt manchmal konstruiert – doch es ist ein funktionierendes Konstrukt. Man bleibt gespannt auf den Weg, den die Charaktere in ihrer Entwicklung weitergehen.

Dieser Text beruht auf der Sichtung der ersten beiden Episoden von „The Wilds“.

Meine Wertung: 4,5/​5

Alle zehn Folgen „The Wilds“ stehen ab dem 11. Dezember 2020 bei Prime Video zum Abruf bereit.

Über die Autorin

Rosanna Großmann wurde schon früh zur Cineastin. Als Kind bettelte sie jahrelang darum, Filme wie „Jurassic Park“ oder „Tanz der Vampire“ sehen zu dürfen – die dann auch zu liebgewonnenen Dauerbrennern auf ihrem Fernseher wurden. In das Serienbusiness stieg sie erst später ein: Die ersten Serien, die die Wahlkölnerin mit Vorspann und Haaren verspeiste, waren „Star Trek – Next Generation“ und „Die Simpsons“. Seit 1999 schreibt sie jede Menge Zeug in einer wilden Mischung; seit 2020 auch Serienkritiken, Horror-Empfehlungen und Interviews für fernsehserien.de.

Lieblingsserien: Peaky Blinders – Gangs of Birmingham, Family Guy, Wir Kinder vom Bahnhof Zoo

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