„Matrjoschka“: Und täglich grüßt der Badezimmerspiegel in meisterlicher Netflix-Comedy – Review

Serie verbindet Zeitschleifen-Dramaturgie mit New Yorker Neurosenhumor

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 15.07.2019, 19:57 Uhr

Natasha Lyonne in „Matrjoschka“ – Bild: Netflix
Natasha Lyonne in „Matrjoschka“

Derselbe Tag, immer wieder von vorne: Was manch Arbeitnehmer aus eigener Hamsterrad-Erfahrung bestens zu kennen meint, wird im Kino gern beim Wort genommen und zur Grundlage aller möglichen Genres. In sogenannten „Time Loop“-Filmen durchlebt ein Protagonist einen bestimmten Zeitabschnitt, meistens einen Tag, immer wieder neu, ehe es am Ende – in der Regel aus Gründen einer charakterlichen Läuterung – einen Ausweg aus dieser Zeitschleife gibt. Im Unterschied zu allen anderen Figuren, deren Bewusstsein mit jedem Zurückspringen wieder auf Null gesetzt wird und die sich über den Loop also nicht im Klaren sind, weiß der Protagonist Bescheid über die Zeitschleife – sein eigenes Bewusstsein setzt sich stetig fort, er kann auf die Erlebnisse und Erkenntnisse der vorangegangenen Loop-Durchläufe reagieren, daraus lernen und zum Beispiel gezielt Alternativen ausprobieren.

Dieses reizvolle narrative Konstrukt ist vor allem im Kino in immer neuen Varianten durchgespielt worden, zuletzt etwa in den „Happy Deathday“-Horrorfilmen, in der Young-Adult-Schnulze „Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie“ oder im Sci-Fi-Reißer „Edge of Tomorrow“. Wichtigster Vertreter des Genres ist natürlich immer noch „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Der Hit von 1993 spielt das Sujet als (Slapstick-)Komödie durch und hält sich dabei konsequent an den erwähnten Läuterungsaspekt: Bill Murray darf darin (wie in so vielen seiner Filme) vom Stinkstiefel zum netten Menschen reifen – in einem Trial-&-Error-Verfahren, das während der Loops nur er selbst mitbekommen hat.

Die grandios schwarzhumorige Serie „Matrjoschka“ (Originaltitel: „Russian Doll“), die seit ihrer Veröffentlichung auf Netflix im Februar zu Recht als beste neue US-Comedy des laufenden Kalenderjahrs gefeiert wird, knüpft an vieles an, vor allem aber eben an den Murmeltier-Film. Natasha Lyonne (Nicky aus „Orange is the New Black“) spielt darin die brutal-sarkastische Computerspiel-Entwicklerin Nadia Vulvukov, die ausgerechnet an ihrem 36. Geburtstag in die Zeitschleife gerät, während der Party, die ihre beste Freundin Maxine (Greta Lee) in ihrem spektakulär stylischen Brooklyner Loft für sie ausrichtet: Ständig stirbt Nadia aufs Neue, immer wieder erwacht sie vor dem Spiegel im Badezimmer, an dessen Tür gerade ungeduldige Partygäste mit Harndrang klopfen. Die Todesarten, die ihr widerfahren, können es dabei mit jeder Folge der „Final Destination“-Filmreihe aufnehmen: Autounfall, offenes Loch auf der Straße, Treppensturz, Erfrieren, Gasexplosion und so weiter. Die Plötzlichkeit und Grausigkeit dieser Tode kontrastiert dabei wunderbar garstig mit Harry Nilssons Song „Gotta Get Up“ von 1971, der jedes Mal genau in dem Moment die Geburtstagsparty beschallt, wenn Nadia im Badezimmer an den Loop-Beginn gestellt wird (was sich Nilssons Erben, so war zu hören, von Netflix fürstlich bezahlen ließen).

Die brutal-sarkastische Computerspiel-Entwicklerin Nadia Vulvukov (Natasha Lyonne) lässt normaler Weise nichts an sich heran.

Wie aus der schwarzhumorigen, sarkastischen, nichts Emotionales auch nur annähernd an sich heranlassenden Nadia im Laufe der acht beeindruckend ballastfrei gebauten, meist nur knapp halbstündigen Episoden ein – sagen wir mal – zumindest deutlich offener Mensch werden kann, das folgt einerseits konsequent dem Murmeltier-Prinzip (bis zum Schluss wird immer wieder neu „geresettet“), andererseits wird es hier klar psycho-analytischer interpretiert. Der Serientitel bezieht sich auf die ineinander verschachtelten russischen Holzpuppen, diesem Prinzip vergleichbar werden in der Serie sukzessive neue Facetten Nadias sichtbar, die gegen Ende der Serie auch tief an ein persönliches Trauma rühren und so einen (möglichen) Weg hinaus aus dem Loop weisen.

Nadia, die einen russisch-jüdischen Migrationshintergrund hat, ist auch selbst eine solche „Russian Doll“: Mit ihrer feuerroten Lockenpracht, das sie wie einen Helm auf ihren stets etwas eingezogenen Schultern mit sich herumträgt, hat sie etwas grotesk Puppenhaftes. Wie Lyonne dabei immer wieder ihr patentiertes Augenaufreißen einsetzt, trägt ebenso zu diesem Eindruck bei wie ihr anderes Markenzeichen: der krächzende Sprechduktus. (Sollte Lyonne in der nächsten Award Season keine Nominierungen erhalten, wäre das äußerst überraschend.)

Nadia (Natasha Lyonne) schleppt ihren Ex-Freund (Yul Vazquez) mit auf ihre Suche nach Antworten, etwa zu einem Rabbiner

Trotz Charakterentblätterung ist hier indes keine dröge vierstündige Therapiesitzung zu erwarten. Lyonne, die „Matrjoschka“ als Female-Only-Projekt zusammen mit der Regisseurin Leslye Headland („Die Hochzeit unserer dicksten Freundin“) und „Parks and Recreation“-Star Amy Poehler entwickelte, verquickt das Murmeltier-Prinzip mit Versatzstücken typischer New-York-Comedies: „Broad City“ und Konsorten blitzen immer wieder durch, Woody Allen auch, und selbst in Kleinstrollen sind Comedians der aktuellen Stand-Up-Szene zu sehen. Trotzdem ist es verblüffend, wie mühelos in den einzelnen Folgen zwischen absurdem Slapstick, geschliffenen Dialogscharmützeln, böser Szenesatire und existenzialistischem Drama hin- und hergesprungen wird, teils von einem Moment auf den nächsten.

Was Nadia widerfährt, sollte man natürlich nicht verraten, um das Vergnügen an den mit einigen Aha- und noch mehr Oha-Effekten aufwartenden Episoden nicht zu schmälern; man darf aber erwähnen, dass nach den ersten beiden Folgen, die das Zeitschleifenthema einführen und das (durchaus anstrengende) Brooklyner Hipster-Milieu vorstellen, der Schluss der dritten Folge einen größeren Wendemoment liefert. Dieser bezieht eine neue Perspektive ein und bricht die gängige Loop-Dramaturgie auf – es ist eine sehr erfrischende Erweiterung des Murmeltier-Sujets. Fortan mischen sich Comedy und analytisches Drama mit einem fast kriminalistischen Ermittlungsaspekt.

Die Figuren, mit denen Nadia in dieser Party-Nacht auf Repeat (manchmal weit in den kommenden Tag hinein) zu tun bekommt, reichen vom älteren Ex-Freund (Yul Vazquez als Immobilienmakler in der Midlife-Krise) über die ältliche Psychologin Ruth, unter deren Obhut Nadia ihre Teenagerjahre verbrachte (die 79-jährige Elizabeth Ashley, bei uns aus der Sitcom „Daddy schafft uns alle“ bekannt – ihre Reibeisenstimme kann es mit der von Lyonne allemal aufnehmen!), bis zum einsamen Yuppie Alan (Charlie Barnett aus „Chicago Fire“), der gerade erfahren hat, dass ihn seine Freundin Beatrice (Dascha Polanco, „Orange is the New Black“) verlassen will. Es gibt einen schmierigen Literaturprofessor (Jeremy Bobb, „Godless“), einen Obdachlosen, der von sich behauptet, das Dark Web erfunden zu haben, eine lesbische Künstlerin (Rebecca Henderson, „Manhunt“), einen netten Kioskbesitzer, einen Drogenhändler, einen Rabbi und einen ältlichen Mieter, als dessen Darsteller „Rocky“-Veteran Burt Young zwei wunderbare Auftritte hat. Chloë Sevigny („Boys Don’t Cry“) taucht als Nadias Mutter in Rückblenden auf. Tatsächlich gibt es kaum eine Sequenz in diesen acht Folgen, die nicht mit darstellerischen Kabinettstückchen aufwarten, die nicht überraschend sind.

Natashas Freundinnen Lizzy (Rebecca Henderson) und Maxine (Greta Lee) zusammen mit Alan (Charlie Barnett) im Kiosk, den auch Nadia immer wieder frequentiert.

Und doch, wer knobeln, rätseln und philosophieren will, bekommt ebenfalls zu tun. Man könnte zum Beispiel auf jene drei Nebendarsteller achten, die im Laufe der Staffel in gleich mehreren Rollen auftauchen, als Kioskkunden etwa, als Nadias Bosse, als Passanten: Ist dies ein Hinweis darauf, dass sich die Timeline auch für andere Menschen in Nadias Umfeld ändert, dass sie in ganz andere Lebensläufe „resettet“ werden könnten? Auch Äpfel und Orangen, die in den Wohnungen und Geschäften immer mehr verschimmeln, deuten darauf hin, dass nicht alles in der Zeit zurückgesetzt wird. Der eingangs erwähnte Umstand, dass die Loops für alle anderen jenseits des Protagonisten keine Folgen haben, diesen Menschen das Bewusstsein für das in den einzelnen Loops jeweils Geschehende fehlt, wirft die Frage danach auf, was mit all den gecancelten Lebensbruchstücken innerhalb der Loops geschieht: verschleuderte Lebenszeit? Was, wenn sie sich in der Zeit verlieben, wenn sie sterben, Glück erfahren, neue Bekanntschaften machen: alles dahin? Die letzte Episode („Ariadne“ betitelt) spielt mit diesem Problem, verwirbelt noch einmal die Realitäts- und Zeitebenen, um dann in ein ebenso beglückendes wie rest-diffuses Finale zu münden.

Netflix hat inzwischen eine zweite Staffel bestellt, die man sich allerdings nur als völlig neue Story denken kann – als Teil eines Anthologiekonzepts. Für sich allein genommen (und sofern man nur ein bisschen Freude hat am traditionell überspannten Personal von New-York-Comedies) ist diese erste Staffel jedenfalls annähernd perfekt.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der kompletten ersten Staffel von „Matrjoschka“.

Meine Wertung: 4,5/​5


Gian-Philip Andreas
© Alle Bilder: Netflix


Die achtteilige erste Staffel von „Matrjoschka“ ist beim Streaming-Dienst Netflix erschienen und steht dort zum Abruf bereit. Eine zweite Staffel wurde bestellt, über deren Inhalt es noch keine Details gibt.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • am

    "das (durchaus anstrengende) Brooklyner Hipster-Milieu" - was ein Euphemismus! Für den einen bedeutet "ich bin ja so crazy" wohl mehr als "eigentlich gehst du nur total auf den Keks". Gerade in den ersten drei Folgen sind diverse Charaktere schon sehr nervtötend! Das "grandios schwarzhumorige" ist wohl auch ziemlich an mir vorbei gegangen - Herzhaft lachen konnte ich weniger, mitfühlen mit den vielen Haupt- und Nebencharakteren auch nicht wirklich, dafür gingen sie mir zu sehr am Allerwertesten vorbei. Von mir wohlwollende 3/5 Sternen für die (abgeschlossene?) erste Staffel.
    • am

      Ich habe nie verstanden, wieso die Protagonisten solcher Geschichten die Zeitschleifen als Fluch empfinden und mit aller Gewalt nach einer Möglichkeit suchen, diesen zu brechen. Niemand zwingt diese Trottel, ihren Tag mit geringen Abweichungen immer wieder gleich ablaufen zu lassen. Innerhalb der zeitlich bedingten Mobilitätsgrenzen kann man doch praktisch unendlich viele verschiedene Sachen machen und erleben. In Eigenzeit sollte es Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauern, bevor einem vielleicht langweilig werden könnte und bis dahin hat mal viele Erlebnisse aus der Anfangsphase längst wieder vergessen.

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