„Loki“: Schabernack in der Timeline-Behörde - First-Look-Review – Review

Dritte Marvel-Studios-Serie baut faszinierendsten Schurken des MCU surreal schillerndes Podest

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 08.06.2021, 20:53 Uhr

Loki for President? Der gehörnte Gott (Tom Hiddleston) ist ein begnadeter Trickster. – Bild: Disney
Loki for President? Der gehörnte Gott (Tom Hiddleston) ist ein begnadeter Trickster.

Weiter geht’s im Marvel-Beat. Im Dreimonatsrhythmus schleudert der Comic-Gigant derzeit neue, in den eigenen Marvel Studios für Disney+ produzierte Miniserien heraus. Im Mittelpunkt stehen dabei Helden und Antihelden aus der zweiten Reihe, die in den ersten drei Phasen des „Marvel Cinematic Universe“ (MCU) keine eigenen Kinofilme verpasst bekamen, aber beliebt genug sind, um eine eigene Serie zu tragen. Nachdem „WandaVision“ und „The Falcon and the Winter Soldier“ schon gut vorgelegt hatten, zelebriert die neueste Produktion nun eine der absoluten Kultfiguren des MCU: Loki, Gott der Lüge und der Streiche, Adoptivsohn Odins und Bruder des hammerschwingenden Donnergottes Thor. Tom Hiddleston verkörpert den Lieblingsschurken auch in diesem heiß ersehnten Sechsteiler, der Marvel-Mythologie und Zeitreise-Science-Fiction kühn mit Detektivfilm-Motiven verbindet. Wir haben die ersten zwei Episoden gesehen und werden in dieser First-Look-Review keine einschneidenden Twists spoilern – wer aber gar nichts wissen will vor der eigenen Sichtung, sollte den Text besser erst später lesen.

Zunächst die obligatorische Frage: Kann man „Loki“ auch anschauen und verstehen, wenn man die Filme des MCU nicht kennt?

Disney und Marvel würden sicher behaupten: natürlich! Klar aber ist: Das Vergnügen an der Serie ist definitiv deutlich größer, wenn man die drei „Thor“-Filme sowie den ersten und die beiden letzten „Avengers“-Sammelabenteuer gesehen hat. „Loki“ knüpft (wie die beiden ersten Miniserien aus den Marvel Studios ebenfalls) direkt an die sogenannte Infinity Saga und deren zeitebenenverwirbelnden Schlusspunkt „Avengers: Endgame“ an. Zwar wird mit allerhand (man könnte vielleicht sogar monieren: ungelenk vielen) Ausschnitten aus diesen Filmen dem Gedächtnis auch jener Zuschauer auf die Sprünge geholfen, bei denen die Ansicht dieser Werke schon länger zurückliegt, aber schöner ist’s, wenn man mit den mal mehr, mal deutlich weniger vertrauenswürdigen Gesichtern des sinistren Streichespielers vertraut ist.

Worum geht’s in der Serie?

Vor allem um die sogenannte „Time Variance Authority“ (TVA). Das ist eine fiktive Behörde, die in den Marvel-Comics schon 1986 eingeführt wurde: Sie operiert außerhalb von Zeit und Raum und überwacht im Auftrag mysteriöser „Time-Keeper“ den ordnungsgemäßen Ablauf der „heiligen Timeline“. Sprich: Wo immer irgendwer versucht, aus dem Lauf der Zeit auszubrechen, durch einen sogenannten „Nexus Event“ eine neue Timeline zu begründen und aus der Haupt-Zeitleiste auszuscheren, schreitet die Behörde mit ihren Agenten, Jägern und Minutemen ein, um einen Reset zu initiieren. Wer „Avengers: Endgame“ gesehen hat, weiß, dass Loki darin, während einer Zeitreise zurück ins Jahr 2012 und damit in die Zeit der Ereignisse aus dem ersten „Avengers“-Film per Zufall in den Besitz des „Tesseract“ kam, jenes kosmischen Hyperwürfels, hinter dem schon in diversen MCU-Filmen hinterhergehetzt wird. Loki verduftete damit – und eröffnete so eine neue Timeline, in der die Geschehnisse aus den weiteren „Thor“- und „Avengers“-Filmen nichtig sind.

Für TVA-Agent Mobius (Owen Wilson, r.) ist der endgenervte Loki bloß die Variante L1130. Disney

Die Serie zeigt jetzt, dass es Loki in die Wüste Gobi verschlug, wo er sofort von Jägern der TVA eingesammelt und fortan verwaltungstechnisch nur noch als „Variante L1130“ betitelt wird, angeklagt einer Zeitsequenzverletzung mit dem Aktentitel 7–20–89. Weite Teile der ersten Episode zeigen, wie Loki durch surrealistische, an Monty Python oder die Filme von Jean-Pierre Jeunet erinnernde Abfertigungsstationen der Behörde geschleust wird, wie er von Robotern seiner Götterkluft entledigt wird, wie er Wartetickets ziehen muss wie auf dem trübsten Meldeamt, wie er Unterlagen unterschreiben soll, in denen alles aufgeführt ist, was er „jemals gesagt hat“, wie seine „temporale Aura“ gemessen wird und er sich ein im Comic-Stil gehaltenes Einführungsvideo anschauen muss, in dem ihm (und uns) eine Künstliche Intelligenz namens „Miss Minutes“ (Stimme: Tara Strong) die TVA erklärt. Loki fühlt sich dabei natürlich in seiner Göttlichkeit beleidigt, mit süffisanter Überheblichkeit bespöttelt er die Ereignisse als „vergnügliche Pantomime“, die jetzt aber doch bitteschön mal ein Ende haben müsse – doch in der Behörde, außerhalb der Zeit, stehen ihm weder seine magischen Kräfte zur Verfügung, noch hat er sonst noch sonderlich viele Argumente auf seiner Seite: Er muss sich erst einmal fügen.

Dann gerät er an den erfahrenen TVA-Agenten Mobius, den der wunderbare Owen Wilson („Die Hochzeits-Crasher“, „Starsky & Hutch“) mit grauen Haaren und Schnurrbart und vor allem sehr viel Spielfreude als Hommage an all die legendären Detektive, Hard-Boiled-Ermittler und Blade-Runner der Filmgeschichte anlegt. Mobius ermittelt gerade im Fall eines Unbekannten, der offenbar von Timeline zu Timeline springt und Morde begeht – auch an den Jägern der TVA. Wen Mobius als Täter vermutet, erfährt das Publikum am Ende der ersten Episode: Wir sagen an dieser Stelle mal nix. Die Serie wird aber erst so richtig aufs Gleis gesetzt, wenn Loki sozusagen als „Assistent“ von Mobius in die Ermittlungen einsteigt.

Autor Michael Waldron (der für Marvel auch den zweiten, für kommendes Jahr erwarteten „Doctor Strange“-Film geschrieben hat) nähert sich recht bald einer Frage, die für alles, was mit der ambivalenten Titelfigur zusammenhängt, zentral ist: Ist Loki ein unverbesserlicher Trickster – oder kann Mobius ihm letztlich trauen? Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, das gilt auch, wenn man, wie Loki in der bisherigen Timeline der MCU-Filme, vom Schurken zum Ehrenmann reifte. „Loki“, die Serie, spielt sich daher vor einem höchst interessanten Hintergrund ab: Die Geschehnisse aus den Filmen – und mit ihnen Lokis Entwicklung – sind für die Zuschauer nicht vergessen, zugleich aber wird Lokis Charakter in der alternativen Timeline auf Null gestellt.

Angriff aus dem Funzellicht: Richterin Ravonna Renslayer (Gugu Mbatha-Raw) mit ihren Minutemen. Disney

Wie sieht die Serie aus?

Wie ein düsterer Cop-Krimi aus den Siebzigern, der stilistische Ausflüge in beliebige andere Genres unternimmt. Die TVA-Behörde, die zumindest in den ersten beiden Episoden der Hauptschauplatz ist, sieht mit ihren orange-braun-staubigen, kafkaesk-verbunkerten Interieurs und retro-futuristischen Technologien keineswegs nach „außerhalb von Zeit und Raum“ aus, sondern sehr entschieden nach späten Sixties und frühen Siebzigern bzw. nach den Vorstellungen von Zukunft aus dieser Zeit. Der Loki, wie wir ihn kennen, mit wallendem Mantel und Hörnern, ist so ziemlich das Letzte, was in dieses Setting passen würde – und gerade das ist das Reizvolle an dieser kuriosen Zwangsverpflanzung. In Sträflingskleidung gesteckt und zum Archivdienst verdonnert strolcht die Titelfigur genervt durch die Amtsstuben, Regisseurin Kate Herron dreht dazu die Lichter so weit runter, wie es eben nur geht: Vom Streamen der Folgen bei hellem Tageslicht raten wir unbedingt ab! Auch die verschiedenen Tatorte, an die die TVA-Jäger ausströmen (eine Kirche in der Provence des 16. Jahrhunderts, Oklahoma 1858, ein Mittelaltermarkt in den Achtzigern oder ein Supermarkt anno 2050), werden wahlweise in Dämmerlicht oder gleich völlige Dunkelheit getaucht. Loki ist eben kein Mann der Sonne.

Wie ist denn Hiddleston?

Großartig! Klar, seine Loki-Darstellung galt auch bislang schon als eine der schauspielerischen Glanztaten des Marvel-Universums, doch in „Loki“ kann er nochmals eine Schippe drauflegen. Wie er in der ersten Folge den Bogen spannt von geradezu slapstickhafter Körperkomik hin zu abgrundtiefem Entsetzen, wenn Loki von Mobius per Video vorgeführt bekommt, welche Tragödien in seiner „richtigen“ Timeline geschehen: Das ist schon eine echte Schau. Während Lokis unerwarteter Tod in „Avengers: Infinity War“ bei der TVA schlicht als „End of File“ vermerkt ist, dreht Hiddleston in der neuen Timeline richtig auf: lateinische Reden schwingend vor dem ausbrechenden Vesuv, ungläubiges Staunen demonstrierend angesichts der in TVA-Beamtenschubladen achtlos herumliegenden Infinity-Steine („Manche benutzen sie als Briefbeschwerer!“) oder in einer Art Therapiesituation, wenn Loki von Mobius ins Kreuzverhör genommen und gefragt wird, ob er es liebe, andere Leute zu verletzen.

Hiddleston zieht alle Register, verfügt mit Wilson zusammen über beträchtliche Chemie und darf ab der zweiten Folge dann ungeniert ins genial-manipulative Trickster-Repertoire verfallen. Loki wird eben niemals der sein, für den man ihn gerade hält, er ist der „verlässlichste Lügner der Welt“, wie es einmal heißt, ein Gestaltwandler, ein Shapeshifter, dessen Geschlecht schon auf den TVA-Aufnahmebogen als „fluid“ bezeichnet wird, und auf dessen gerissene Intrigen quer durch die alternativen Timelines man sich weiter freuen kann. (Auch wenn natürlich die Gefahr gegeben ist, dass das ganze Zeitreisen-Setup am Ende logisch auseinanderbricht. Loki würde wohl drüber lachen.)

Von Beginn an Bad Ass: Hunter B-15 (Wunmi Mosaku) steht Mobius zur Seite. Disney

Und die anderen Darsteller und Darstellerinnen?

Neben Hiddleston und Wilson stehen Gugu Mbatha-Raw („Dido Elizabeth Belle“, „„Die Erfindung der Wahrheit“) und Wunmi Mosaku („His House“, „Lovecraft Country“) ganz oben auf der Cast-Liste. Sie spielen die TVA-Richterin Ravonna Renslayer und die TVA-Jägerin mit dem funktionalen Namen B-15. Mbatha-Raw hat bislang noch nicht viel zu tun, Mosaku marschiert mit viel Bad-Ass-Energie durch ihre Szenen. Eugene Cordero amüsiert als TVA-Bürohengst Casey, der früh mit Loki aneinandergerät, aber durchaus das Zeug dazu hat, ein guter Sidekick zu werden.

In der zweiten Folge stoßen noch Sophia di Martino („Yesterday“) und Sasha Lane („American Honey“) dazu – wir schweigen an dieser Stelle darüber, in welchen Rollen. Was man aber unbedingt erwarten sollte, ist, dass Shapeshifter Loki wie schon in den Filmen immer mal wieder in anderer, übrigens auch nicht unbedingt männlicher Gestalt auftaucht – was den entsprechenden Schauspielern und Schauspielerinnen die Aufgabe stellt, den inneren Loki in sich zu wecken. Das macht schon in der zweiten Folge viel Spaß – mal sehen, wie viele alternative Lokis uns begegnen und wie diese miteinander agieren werden. Wird Loki genervt von sich selbst sein, wenn sich ein Alternativ-Loki ihm gegenüber so verhält, wie sich ein Loki nun mal verhält? Unendliche Möglichkeiten!

Wie lautet das Zwischenfazit nach zwei Folgen?

Für Fans des MCU ist „Loki“ zweifellos Pflichtprogramm. Und das Ergebnis macht – nach den ersten zwei Stunden – Lust auf mehr. Das liegt auch, aber eben nicht nur an den famosen Darstellerleistungen, der irren Ausstattung und der überraschend gut funktionierenden Synthese aus Marvel-Themen, Detective Story und Sci-Fi.

Besonders faszinierend ist vielmehr der Umstand, dass es den Autoren jetzt, 13 Jahre nach dem Start des Marvel-Universums, möglich ist, auf den ganzen aufgebauten Mythenschatz zurückzugreifen – und damit nach Belieben Schabernack zu treiben. Und was würde besser zu Loki passen? Buch und Regie bedienen dieses Thema immer wieder. Sei es im Großen, wie etwa im Thema der Behörde, die über „die richtige Timeline“ herrscht wie ein akribischer Dramaturg (tatsächlich ist die TVA 1986 als Hommage an Mike Gruenwald konzipiert worden, den langjährigen Continuity-Beauftragten von Marvel). Das ist auch als selbstironischer Kommentar aufs moderne Blockbuster- und Franchisewesen zu verstehen, in denen, wie bei Marvel, gerne mal die Timelines verwirbelt werden, wenn Figuren von den Toten zurückgeholt werden sollen. Wo war die TVA eigentlich damals in der sechsten Staffel von „Lost“?

Im Kleinen treibt die Serie diesen Schabernack aber auch in der Inszenierung, wenn sich etwa ein Mittelaltermarkt, in dem die TVA-Jäger landen, auf den zweiten Blick als Kopie aus den Achtzigerjahren herausstellt, in der der Timeline-Fight zu Bonnie Tylers „Holding Out for a Hero“ abläuft; oder im Design, wenn der „Loki“-Titel im Vorspann in fluktuierenden, gestaltwandlerischen Buchstaben erscheint, oder eben im Drehbuch, wenn die heiligen Kühe des MCU zärtlich veralbert werden.

So murmelt Casey, der den blau glimmenden Kosmos-Würfel in Verwahrung nehmen soll, bloß: Was ist das? Ein Tesseract? Klingt bescheuert. Und wenn Loki sich über seine Jäger echauffiert und ruft: Ihr werdet nicht bestimmen, wie meine Geschichte endet!, wird ihm das ewige Schicksal selbst noch der besten filmischen Nebenfiguren ins Gedächtnis gerufen: Es ist nicht deine Geschichte, Loki, und das war sie auch nie. Zum Glück aber ist Loki hier sechs Folgen lang tatsächlich mal die Hauptfigur, und auf die Themen, die dabei noch anklingen werden, darf man gespannt sein.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten beiden Episoden der Miniserie „Loki“.

Meine Wertung: 4/​5

DIe sechsteilige Serie „Loki“ wird bei Disney+ ab dem 9. Juni mit neuen Folgen immer mittwochs veröffentlicht.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

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