„John Sugar“: Noir-Hommage mit haarigem Twist und Colin Farrell in Bestform – Review

Enigmatischer Privatdetektiv verbeißt sich in Vermisstenfall

Rezension von Christopher Diekhaus – 04.04.2024, 19:25 Uhr

Privatdetektiv John Sugar (Colin Farrell) lässt im Fall der vermissten Olivia nicht locker. – Bild: Apple TV+
Privatdetektiv John Sugar (Colin Farrell) lässt im Fall der vermissten Olivia nicht locker.

Bis heute übt der Film Noir eine seltsame Faszination aus. Ist er ein eigenständiges Genre? Oder aber eine Stilrichtung? Über diese Frage lässt sich nach wie vor trefflich streiten. Klar ist nur, dass die französische Filmkritik den Begriff nach dem Zweiten Weltkrieg prägte, um Ähnlichkeiten zwischen bestimmten US-amerikanischen Kriminalwerken aufzuzeigen. Eine pessimistische Grundstimmung, gebrochene Protagonisten, oft Privatermittler, ein als bedrohlich empfundenes urbanes Setting und markante Schattenspiele wurden als zentrale Merkmale ausgemacht. Die klassische Phase des Film Noir reichte von John Hustons „Die Spur des Falken“ von Anfang der 1940er-Jahre bis zu Orson Welles’ „Im Zeichen des Bösen“ Ende der 1950er-Jahre – so die allgemeine Definition. Was folgte? Die Zeit des Neo-Noir, der Stilmittel, Themen und Stimmungen der frühen Arbeiten reproduzierte und/​oder variierte. Roman Polanskis „Chinatown“, Lawrence Kasdans „Heißblütig – Kaltblütig“ und Curtis Hansons „L.A. Confidential“ sind hier prominente Beispiele.

Dem Film Noir verbunden ist auch die neue Apple-Serie „John Sugar“ (in den USA nur als „Sugar“ an den Start gehend), in der Colin Farrell den titelgebenden Privatdetektiv verkörpert. Schon der in Schwarz-Weiß gehaltene Auftakt zeigt: Dieser Mann ist kein 08/​15-Schnüffler, sondern ein Experte auf seinem Gebiet, schick gekleidet, polyglott und für seine diffizilen Aufträge bereit, rund um den Globus zu reisen. Spezialisiert auf Vermisstenfälle, spürt er gleich in den ersten Minuten ein entführtes Kind in Japan auf. Gewalt verabscheut er. Nur dann, wenn er keine andere Chance hat, packt Sugar die Fäuste aus, erzählt er in seinen ersten Voice-over-Kommentaren. Wie in vielen klassischen Noir-Filmen bekommen wir über Johns innere Monologe Einblick in seine Gefühls- und Gedankenwelt. Wir erleben ihn grüblerisch, zuweilen aber auch herrlich pointiert. Etwa, wenn er trocken anmerkt, dass die Aufforderung, sich zu verpissen, auf Fortschritte in seiner Ermittlungsarbeit hindeute.

John Sugar (Colin Farrell) überlässt nichts dem Zufall. Apple TV+

Geraten sinnierende Einschübe der Hauptfiguren in Filmen und Serien häufig übertrieben pathetisch, zeichnen sie sich in der englischen Originalfassung der Apple-Serie – Farrells sanfter, bedächtiger Intonation sei Dank – durch eine leise Melancholie aus. Sein John Sugar ist keineswegs der Typ Zyniker, der uns in so vielen Noir-Streifen begegnet. Vielmehr möchte er an eine gute Welt glauben. An eine Welt, in der Hoffnung und glückliche Momente existieren. Dass Menschen grausame Dinge tun, weiß er ganz genau. Und doch bemüht er sich, seinen Teil dazu beizutragen, den Planeten zu einem etwas besseren Ort zu machen. Empathie und Hilfsbereitschaft zeigt Sugar, wo andere wegschauen. Gleichzeitig will er sich allerdings nicht binden, nicht niederlassen, sondern zieht es vor, nach der Rückkehr aus Japan in seinem Lieblingshotel in Los Angeles zu logieren. Selbstgewählte Einsamkeit ist sein Rezept fürs Leben, auch wenn die Sehnsucht nach Intimität hier und da zum Vorschein kommt.

Gänzlich frei von persönlichen Bindungen ist Sugar jedoch nicht. Mit Ruby (Kirby) lernen wir eine Frau kennen, die seine Einsätze koordiniert, sich um sein Wohlbefinden sorgt, ihm nach dem fernöstlichen Trip eigentlich eine Auszeit gönnen will. Ebenfalls Teil seines Umfelds ist Charlie (Paula Andrea Placido), die für ihn regelmäßig Observationstätigkeiten übernimmt. Wie nicht wenige Noir-Protagonisten scheint John außerdem ein Trauma mit sich herumzuschleppen. Ab und an redet er von einer gewissen Djen, seiner Schwester, der offenbar Schlimmes widerfahren ist. Fragen wirft nicht zuletzt seine Verfassung auf. Hin und wieder zittert seine Hand, hat er Aussetzer, sträubt sich zunächst aber, seinen Arzt aufzusuchen.

Zum aufregend komplexen Charakter des Titelhelden, den Serienschöpfer Mark Protosevich („Oldboy“) da entworfen hat, gehört nicht zuletzt seine Begeisterung fürs Kino. John liebt anspruchsvolle Filmmagazine, sucht Lichtspielhäuser auf und vergleicht ständig das Leben und die Leinwand. Er sei kein Fan, sondern regelrecht süchtig, betont er, als er, wieder in LA, einen neuen Fall angeht. Wohin ihn dieser führt? Na klar, geradewegs ins Herz der Hollywood-Industrie. Der betagte Starproduzent Jonathan Siegel (James Cromwell) sorgt sich um seine drogenabhängige Enkeltochter Olivia (Sydney Chandler), die angeblich spurlos verschwunden ist.

Ruby (Kirby) sorgt sich um Johns (Colin Farrell) Gesundheit. Apple TV+

Warum sich Sugar der Sache annimmt, obwohl ihm Ruby abrät? Ganz einfach: Olivia erinnert ihn an Djen, womit die Angelegenheit eine private Dimension bekommt. Wie nicht anders zu erwarten, wühlt der Detektiv schon bald im Morast, der sich hinter der schönen Fassade der Glamour-Familie Siegel auftut. Bernie (Dennis Boutsikaris), der Vater der Vermissten und seinerseits Filmproduzent, zeigt wenig Interesse, glaubt, dass Olivia nur ihren nächsten Absturz durchlebe und bald wieder auf der Matte stehe. Seinen Sohn David (Nate Corddry), einen um Anerkennung ringenden Ex-Kinderstar, beauftragt er damit, John in die Parade zu fahren, den Ermittler von seinem Fall abzubringen.

Bahnbrechend Neues liefert „John Sugar“ beim Blick auf die Albtraumfabrik Hollywoods nicht zu Tage. Sexueller Missbrauch und der grausame Umgang mit Opfern, seit dem Weinstein-Skandal in fiktiven Werken mehrfach thematisiert, kommen auch hier an die Oberfläche. Allerdings bemühen sich die Drehbücher, nicht nur persönliches Vergehen aufzuzeigen, sondern auch die gefährlichen Strukturen der Filmbranche, wenigstens in Ansätzen, zu illustrieren. Wer in dem Gefühl aufwächst, etwas Außergewöhnliches zu sein, von aller Welt hofiert zu werden, bestimmte Regeln nicht befolgen zu müssen, glaubt irgendwann, sich alles herausnehmen zu können. Besonders dann, wenn es keine pädagogischen Korrektive gibt. Stimmen, die einen auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Für Übergriffe ist das natürlich keine Entschuldigung. Die ausbeuterischen Mechanismen der Hollywood-Maschinerie sollte man jedoch mitberücksichtigen.

Puren Nervenkitzel produziert die Serie in den ersten Folgen nicht. Vielmehr lässt sie es gemächlich angehen, etabliert den Figurenkosmos und gibt Colin Farrell die Möglichkeit, die Facetten Sugars detaillierter zu erforschen. Das Ergebnis ist ein charismatisches Porträt, zwischen Kontrolle, Charme, Distanziertheit und einem rätselhaften Brodeln schwankend. Besonders reizvoll: Sugars Beziehung zur früheren Rockikone Melanie (Amy Ryan), die im Kampf für Frauenrechte mit Olivia zu tun hatte. Zwischen dem Privatdetektiv und der früheren Sängerin entwickeln sich ein Verständnis und eine Vertrautheit, die – das ist in diesem Fall wirklich keine Plattitüde – ehrlich berühren.

Ex-Rockstar Melanie (Amy Ryan) trifft John (Colin Farrell) zum ersten Mal an der Bar. Apple TV+

Krimigeschichten gibt es im Serienbereich wie Sand am Meer. „John Sugar“ schafft es allerdings, sich durch den Stil von vielen Genrevertretern abzuheben. Mark Protosevich und die Regisseure Fernando Meirelles („Die zwei Päpste“) und Adam Arkin („The Night Agent“) wählen für ihren Stoff eine eigenwillige Form. Ikonische LA-Orte wie das Griffith-Observatorium sind zwar gelegentlich in Panoramaeinstellungen zu sehen. Oft ist der Bildausschnitt aber eher klein, geht die Kamera nah an die Figuren heran. Auffällig dabei: eine gewisse Unruhe, Unmittelbarkeit, als würde ein Dokumentarfilmteam Johns Nachforschungen begleiten. Sprunghafte Schnitte in Unterhaltungen haben eine mitunter desorientierende Wirkung. Und manchmal sind Gespräche verzahnt, die an zwei unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattfinden. In den Bilderfluss schieben sich ferner fortlaufend kurze Auszüge aus diversen Noir-Klassikern. Filme, die dem Protagonisten, so scheint es, in den jeweiligen Momenten plötzlich in den Kopf schießen.

Was auf den ersten Blick etwas prätentiös daherkommt, ist erzählerisch begründet. Richtig erkennbar wird dies jedoch erst, wenn die Macher am Ende der sechsten Episode ihren großen Twist aus dem Ärmel schütteln. Eine Überraschung, die man entweder genial oder völlig daneben finden kann. Von einem hinterhältigen Betrug am Zuschauer kann zwar nicht die Rede sein. Denn in der Rückschau gibt es diverse Anzeichen dafür, dass etwas ungewöhnlich ist. Die Gefahr, eine packende Charakterstudie ins Lächerliche zu ziehen, lässt sich allerdings ebenso wenig von der Hand weisen. Protosevich und Co riskieren einiges, keine Frage. Vielleicht gelingt es ihnen in den letzten beiden Folgen aber auch, den Bogen halbwegs zufriedenstellend zu Ende zu führen.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten sechs von insgesamt acht Folgen der Serie „John Sugar“.

Meine Wertung: 3,5/​5

Die ersten beiden Episoden der Serie „John Sugar“ sind ab dem 5. April bei Apple TV+ verfügbar. Im Anschluss wird wöchentlich je eine neue Folge veröffentlicht.

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • am

    Naja, das klingt jetzt nicht wie ein Must Have. Das passt leider auch in das Bild, dass die Apple in letzter Zeit nur wenig wirklich gute Filme und Serien produziert hat, darum läuft mein Abo diesen Monat auch aus und wird nur noch bei Bedarf erneuert. Ich werde trotzdem reinsehen, weil diese Rolle Farrell auf den Leib geschrieben zu sein scheint.

    Eine echte Perle der Weltliteratur hat hingegen Netflix im Stil Film Noir im Angebot: "Ripley" erzählt Patricia Highsmiths "Der Talentierte Mr. Ripley" in einer düsteren, langsamen und wirklich stilvollen Erzählweise mit einem Hauptdarsteller in Topform und einer exquisiten Kameraarbeit, die jede Szene zu einem optischen Genuss in stark kontrastierender, schwarz-weißer Dolby Vision macht , wie ich es bislang noch nie vorher gesehen habe.

    weitere Meldungen