Hach, die Jugend! Irgendwie war es doch die schönste Zeit – sagen zumindest sehr viele Erwachsene, weil man ab einem bestimmten Lebensalter zu nostalgischer Verklärung neigt. Da werden dann die Momente der Freiheit und Freundschaft, die man als Teenager erlebt hat, in der Erinnerung überhöht, all der Frust, schulische oder familiäre Probleme aber verdrängt. Denn wenn man ehrlich ist, war ganz vieles an der eigenen Jugend doch auch einfach scheiße. Davon, sich das selbst einzugestehen und zu einer realistischeren Bewertung der eigenen Vergangenheit zu kommen, handelt „Chabos“ im Kern.
Das ZDF hat sich dafür bei der BBC-Serie „Ladhood“ bedient und diese nach Deutschland übertragen. Die acht Episoden, die zwischen 30 und knapp 45 Minuten schwanken, kommen in die Mediathek und linear ins Programm von ZDFneo. Sie führen uns zurück in die jüngere Vergangenheit unseres Landes, ins Duisburg der mittleren Nullerjahre. Nachdem bereits zahlreiche Coming-of-Age-Serien das Aufwachsen in den 1980ern und 90ern thematisiert haben, ist das Genre nun also bereits bei den sogenannten Millennials angekommen. Disclosure: Für einen Rezensenten, der da längst schon erwachsen war, ist es nicht ganz einfach zu beurteilen, wie gut das damalige Lebensgefühl von Jugendlichen hier eingefangen wurde.
Heute ist Peppi (Johannes Kienast) Mitte 30 und mit seinem Leben eher so halb zufrieden. Weit weg von seiner Heimatstadt lebt er in einer eher lockeren Beziehung. Als seine Freundin ihm mitteilt, dass sie schwanger ist, reagiert er so daneben, dass sie gleich mit ihm Schluss macht. Und ihm noch mit auf den Weg gibt, dass er so ziemlich der letzte Mann wäre, von dem sie ein Kind bekommen möchte. Psychisch leicht angeschlagen setzt sich Peppi ins Auto und fährt zu seinen Eltern in den Ruhrpott. Zufällig trifft er in der Kneipe einen alten Bekannten, der ihn fragt, ob er denn auch zum Klassentreffen käme. Doch davon weiß Peppi gar nichts. Die nächsten Tage (und Folgen) ist er damit beschäftigt, herauszufinden, warum er (scheinbar als Einziger) nicht eingeladen wurde, was seinem Ego sehr zusetzt.
Mädchen abchecken im Freibad: Peppi (Nico Marischka, r.), Gollum (Arsseni Bultmann, 2.v.r.), PD (Jonathan Kriener, 2.v.l.) und Alba (Loran Alhasan, l.) ZDF/Nikolaus Schreiber
Während er sich an sein letztes Schuljahr erinnert und in den Ereignissen von damals nach Gründen sucht, spaziert der erwachsene Peppi – also Kienast – in langen Rückblenden durch sein Leben als Minderjähriger. Immer wieder kommentiert er dabei für uns Zusehende seine damaligen Handlungen und Gefühle – ein Stilmittel, das nur so halb gut funktioniert. Zumal Kienast vom Typ her nicht so richtig zum jugendlichen Peppi (Nico Marischka) passt. Der eher unauffällige Junge war damals Teil einer Jungsclique, die noch aus dem prollig-aggressiven PD (Jonathan Kriener), dem schüchtern-nerdigen Gollum (Arsseni Bultmann) und dem eher verschlossenen Muslim Alba (Loran Alhasan) bestand.
2006. Ins Kino zu kommen, um „SAW II“ zu sehen, klappt dank des jungen Lebensalters nicht, aber es ist ja die Hochzeit der illegalen Downloads. Also muss Computerfreak Gollum ran und im Netz nach dem Horrorstreifen suchen. Das gelingt auch, hat aber kurz darauf fatale Folgen für Peppi, auf dessen Rechner der Film gesaugt wurde: ein Abmahnschreiben vom Anwalt mit einer mittleren vierstelligen Geldforderung. Da die Jungs die Kohle natürlich nicht haben, suchen sie nach kreativen Einnahmequellen – und setzen damit eine Eskalationsspirale in Gang, die nur noch schwer aufzuhalten ist. Nach und nach wird klar, wen Peppi alles vor den Kopf gestoßen hat. Motive, ihn auch 20 Jahre später nicht wiedersehen zu wollen, haben jedenfalls viele seiner ehemaligen MitschülerInnen, die er nun nacheinander aufsucht.
Die taffe Mascha (Arina Prass, vorne) wird von der Jungsclique akzeptiert ZDF/Nikolaus Schreiber
Dabei sind manche die gleichen Idioten geblieben, die sie schon als Teenie waren (so PD, der seine Bullyattitüde jetzt als Polizist ausleben kann), andere haben sich noch weiter in die soziale Isolation und sich selbst zurückgezogen, wieder andere sind ihren Weg gegangen und haben Karriere gemacht (wie Peppis Jugendliebe Mascha, als Erwachsene von Paula Kober dargestellt). Diese Mascha ist als Jugendliche (Arina Prass) die interessanteste Figur, da sie als vermeintlicher Tomboy weder festgefahrenen Geschlechterklischees entspricht noch sich am grobmäuligen Verhalten der meisten aus ihrer Klasse beteiligt, stattdessen konsequent ihren eigenen Weg geht. Wie überhaupt die Mädchen hier die sympathischeren Charaktere sind, so auch die von Gollum angehimmelte Pinar (Bahar Balci), mit der die Jungs ein böses Spiel treiben.
Das Auftreten der Jungenclique strotzt hingegen in weiten Teilen vor toxischer Männlichkeit und sorgt für einen Fremdschammoment nach dem anderen – was zwar beabsichtigt ist, auf Dauer aber ganz schön nervt. Dieses destruktive Verhalten von damals reflektiert der erwachsene Peppi der Gegenwart zwar durchaus ständig, scheint sich aber mit seinen Beteuerungen, heute sei er ein anderer, sensiblerer Mann, eher selbst entlasten zu wollen.
Annäherungstaktik ungenügend: Gollum versucht bei Pinar (Bahar Balci) zu landen ZDF/Nikolaus Schreiber
„Chabos“ hat immer wieder gelungene Einfälle und gute Szenen, krankt aber insgesamt an mehreren Problemen: Zum einen wirkt der als Erzähler agierende Hauptdarsteller völlig uncharismatisch, so dass man sich fragt, warum man sich eigentlich für Peppis Leben interessieren sollte. Die JungschauspielerInnen überzeugen deutlich stärker, ebenso wie Anke Engelke und Peter Schneider („Dark“) als geistig in der Vergangenheit stehengebliebene Eltern. Zum anderen fehlt es dem Drehbuch an entscheidenden Stellen an Logik. Warum etwa sollte überhaupt ein Mobbingopfer wie Gollum ausgerechnet mit einem der Mobber (PD) in einer Clique sein? Und die Geschichte hat einfach zu viele Längen, um durchgehend zu fesseln.
Die Inszenierung, die die Autoren Mickey Paatzsch und Arkadij Khaet selbst übernommen haben, setzt wie in solchen Serien üblich auf viel Zeitkolorit und popkulturelle Zitate. Die eingesetzte Musik der Nullerjahre muss man nicht mögen, trägt aber zur Authentizität der erzählten Periode bei. Als mittelalter Mann wundert man sich allerdings schon öfter, dass Klapphandys und Modems, EMule und Castingshows heute tatsächlich schon zur Nostalgie taugen. Insgesamt ist „Chabos“ eine Serie, die viele richtige Fragen stellt (zum Umgang der Geschlechter, gesellschaftlichen Entwicklungen und darüber, ob Menschen sich überhaupt wirklich verändern können), diese aber oft nicht so richtig überzeugend und unterhaltsam behandelt. Um eine andere ZDF-Produktion des gleichen Genres zu nennen: „Druck“ schaffte das alles wesentlich besser.
Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten sechs Episoden von „Chabos“.
Meine Wertung: 3/5
Alle acht Folgen stehen ab Freitag, den 22. August um 10:00 Uhr bei ZDF.de zum Abruf bereit. Linear sind sie am Sonntag, den 24. und Sonntag, den 31. August ab 20:15 Uhr jeweils mit drei Folgen und am Sonntag, den 7. September in Doppelfolge in ZDFneo zu sehen.
Über den Autor
Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.