Es ist eine ebenso zufällige wie kurze Begegnung, die das Leben von Sarah Tucker (Ruth Wilson, „Luther“) auf den Kopf stellen wird. Als sie gerade durch einen Tunnel fährt, läuft ihr ein kleines Mädchen fast vors Fahrrad. Sarah kann aber noch rechtzeitig bremsen, die Mutter nimmt das Kind an die Hand, das Mädchen winkt Sarah zum Abschied. Die selbst kinderlose Frau winkt zurück. Wenig später fliegt ein Haus in Sarahs Nachbarschaft in die Luft. Als sie hört, eine junge Mutter sei dabei ums Leben gekommen, ihre Tochter verschwunden, ist ihr sofort klar: dieses kleine Schwarze Mädchen muss eben jenes aus ihrer Zufallsbegegnung sein. Es zu finden, wird für Sarah zur Obsession.
Die Briten mal wieder. Britische Krimi- und Thrillerserien sind oft etwas schräger, auch eine Spur härter als vergleichbare US-amerikanische Produktionen. So auch die neue achtteilige Miniserie von Apple TV+ „Down Cemetery Road“ (dt. etwa „Die Friedhofsstraße runter“). Die Schrägheit ist hier quasi schon eingebaut, basiert sie doch auf dem gleichnamigen Roman von Mick Herron (deutsch unter demselben Titel bei Diogenes), von dem der Streamingdienst bereits erfolgreich dessen „Slough House“-Romane als „Slow Horses“ adaptiert (am morgigen Freitag geht die fünfte Staffel zu Ende). Ist es dort der heruntergekommene sarkastische Spion Jackson Lamb, der die Ermittlungen eher widerwillig leitet, steht hier mit der Privatdetektivin Zoë Boehm (Emma Thompson) ebenfalls eine unkonventionelle Heldin im Zentrum.
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Sarah Tucker ist eine Frau um die 40, mit ihrem Leben eher so halb zufrieden. Ihre Ehe ist kinderlos geblieben, ihr Freundeskreis besteht aus typischen Oxforder Vertretern der gehobenen Mittelschicht, die zu allem eine Meinung, aber von fast nichts eine Ahnung haben. Während eines dieser Abendessen mit zwei befreundeten Paaren wackeln plötzlich die Wände. In einem Haus in unmittelbarer Nähe gab es eine große Explosion. Weil die Polizei sie leichtfertig als Gasleck abtut, fängt Sarah an, selbst zu ermitteln, stößt auf Ungereimtheiten und beauftragt die Detektei von Zoë Boehm und deren Ehemann Joe Silverman mit der Suche nach dem spurlos verschwundenen Mädchen Dinah Singleton.
Mit dem Fahrrad durch Oxford: Sarah Tucker (Ruth Wilson) Apple TV+
Silverman (Adam Godley) ist in seiner Verschrobenheit eine Figur, die an Douglas Adams’ Privatermittler „Dirk Gently“ erinnert. Seine Ehe mit Zoë hat schon bessere Zeiten erlebt. Doch bereits, kurz nachdem sie den Fall übernommen haben, sitzt Joe tot an seinem Schreibtisch – angeblich hat er sich selbst in den Kopf geschossen. Seine Gattin glaubt der Polizei kein Wort, zeigte Joe doch keinerlei Anzeichen von Depressionen. Kurz darauf müssen sich sowohl Zoë als auch Sarah selbst Mordanschlägen erwehren, bekommen aber auch Hilfe vom ehemaligen Soldaten Downey (Nathan Stewart-Jarrett, „Misfits“ und „Utopia“). Offenbar will jemand verhindern, dass sie die Wahrheit darüber herausfinden, warum die Singletons sterben mussten.
Was die Detektivin und ihre Klientin im Laufe der folgenden Episoden erfahren, soll hier nicht groß gespoilert werden. Nur soviel: Es sind staatliche Stellen, die größtes Interesse an der Vertuschung haben und bereit sind, dafür über Leichen zu gehen. Die Fäden zieht dabei der zwielichtige Ministerialbeamte C. (Darren Boyd), von dem die Referentin der Ministerin einmal zutreffend sagt, er sende „solche Voldemort-Vibes aus“. Die Drecksarbeit für ihn erledigen zum einen zwei Killer-Brüder (eiskalt: Fehinti Balogun als Amos), zum anderen Hamza (Adeel Akhtar, ebenfalls „Utopia“), ein kleines Licht in der Verwaltungshierarchie, leicht vertrottelt und von C. fortwährend verbal gedemütigt. Die Dialoge zwischen Chef und Untergebenem sollen als comic relief dienen, wirken aber meist eher unpassend und etwas nervig, während die eigentliche Thrillerhandlung nach anfänglichen Startschwierigkeiten zunehmend an Tempo und Dramatik gewinnt.
Ermittelt im Leichenschauhaus: Zoë Boehm (Emma Thompson) Apple TV+
Herron versteht es, mit eigentlich ausgelutschten Standardsituationen des Genres Spannung zu erzeugen (Drehbuchadaption: Morwenna Banks), etwa in der sechsten Episode, die weitgehend in einem Zug spielt. Wie sich Boehm hier auf engstem, abgeschlossenen Raum alleine den Killer vom Leib halten muss, hätte auch Hitchcock gefallen. Am Ende der Folge nähern sich dann alle wichtigen AkteurInnen von verschiedenen Seiten einer kleinen, von aktuellen Landkarten getilgten schottischen Insel, wo fast die komplette vorletzte Episode spielt und es zum großen Showdown kommen soll – der sich aber doch noch um eine Folge verschiebt.
Erzählt wird all das rasant und mit großer Brutalität. Wobei die explizite Gewaltdarstellung auf Dauer nervt, wenn man nicht gerade glühender Anhänger von Quentin Tarantino ist. Nötig hätte die Serie sie eigentlich nicht, kann sie doch mit spannenden Wendungen, starken weiblichen Hauptfiguren und stilsicherer Inszenierung (Regie der beiden Auftaktepisoden: Natalie Bailey) punkten. Insbesondere die Landschaftsaufnahmen der Insel und der Einsatz schon älterer Popsongs sind höchst gelungen. Als etwa die ersten Takte von Björks Bachelorette erklingen, denkt man zunächst an einen Bond-Song. Emma Thompson gibt die frisch verwitwete Privatdetektivin mit einer Mischung aus Abgeklärtheit und versteckter Sensibilität. Glatt an die Wand gespielt wird sie von der großartigen Ruth Wilson. Ihr nimmt man die „Frau von nebenan“ ebenso ab wie das in Extremsituationen über sich hinauswachsen, sie ist das emotionale Zentrum der Serie.
Verdacht bei der Arbeit: Sarah Apple TV+
Die Story bleibt leider etwas wirr und das auch schon aus Slow Horses bekannte Narrativ, dass an den größten Verbrechen meist die Regierung selbst beteiligt ist, wirkt in Zeiten grassierender Verschwörungsnarrative leicht ermüdend. Insgesamt ist Apple hier aber eine weitere spannende und packend inszenierte Serie gelungen, die allerdings einige Episoden braucht, um richtig in die Gänge zu kommen. Eine Fortsetzung kann gerne kommen, es liegen auf Englisch bereits drei weitere Romane um Zoë Boehm vor.
Dieser Text basiert auf der Sichtung der gesamten Miniserie „Down Cemetery Road“.
Meine Wertung: 4/5
Die insgesamt achtteilige Miniserie startet am Mittwoch, den 29. Oktober mit den ersten beiden Episoden auf Apple TV. Die weiteren werden dann jeweils mittwochs veröffentlicht.
Über den Autor
Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.