The Get Down – Review

Neues Netflix-Drama erzählt von den Anfängen des Hip-Hop – von Gian-Philip Andreas

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 22.08.2016, 12:13 Uhr

The Get Down – Review – Neues Netflix-Drama erzählt von den Anfängen des Hip-Hop - von Gian-Philip Andreas – Bild: Netflix

Coming-of-Age-Geschichte, zeitgeschichtliches Drama, Musical, Räuberpistole: Wenn man sich für nichts entscheiden kann, dreht man eben einfach alles auf einmal und hofft, dass schon genug Interessantes dabei herauskommt, um das Publikum bei der Stange zu halten. Dieses Prinzip beherzigte unlängst „Vinyl“, jenes von Martin Scorsese angeleierte HBO-Prestigeprojekt über die Geburt des Punk aus dem Mainstream-Rock der Siebziger. Geklappt hat es nicht: Die Serie floppte und wurde schon gecancelt, war aber natürlich nicht halb so schlecht, wie viele sie zu machen meinten.

Zugegeben, ein wenig Sinn für das Überbordende und Aus-allen-Nähten-Platzende sollte man besitzen, um sich für den eklektischen Stilmix erwärmen zu können, den Netflix jetzt nach ähnlichem Muster vorlegt: Auch in „The Get Down“ geht’s um vergangene Musikepochen, was nicht schlecht ist, denn Musik geht ja immer („Nashville“!), und auch Retro ist immer en vogue, derzeit ganz besonders („Stranger Things“!). Diesmal also kein Punk, sondern die Geburt des Hiphop aus dem Saturday Night Disco-Fever der späten Siebzigerjahre: Die Schlaghosen, Tennissocken und Dickelohrkragen aus „Vinyl“ sind geblieben, nur der Groove ist noch besser, besonders in der South Bronx von New York, die den Hauptschauplatz der Serie bildet. „The Get Down“ ist fett budgetiert, toll besetzt und optisch pompös – außerdem immer noch nicht ganz fertiggestellt, denn die zweite Hälfte der auf zwölf Episoden angelegten ersten Staffel wird erst nächstes Jahr nachgereicht. Für Style, Look und die nötige Maßlosigkeit sorgt der Australier Baz Luhrmann, der mit Filmen wie „Strictly Ballroom“ und „Moulin Rouge!“ als kongenialer Musikfilmregisseur berühmt wurde und die Serie zusammen mit dem Theaterautor Stephen Adly Guirgis konzipierte.

Der überlange und bewundernswert überinszenierte Pilotfilm (93 Minuten) ist mit Details, Zitaten und Anspielungen vollgestopft, die zur Gänze wohl nur echte Hiphop-Nerds und ausgewiesene Kenner der Epoche dechiffrieren können. Als Berater und Co-Produzenten holte sich Luhrmann Kurtis Blow und Grandmaster Flash an Bord, zwei Legenden des Golden-Age-Hiphop. Die beiden gehen inzwischen schwer auf die Sechzig zu und schickten den jungen, größtenteils noch unbekannten Cast von „The Get Down“ zur Vorbereitung altersweise in ein Hiphop-Bootcamp, wo ihm Slang und Style beigebracht wurde. Was weiß die Generation Streamingdienst schon von der Revolution, die der Grandmaster damals an den analogen Plattentellern auslöste, mit seinen Backspins und Scratchings? Als Executive Producer fungiert ein weiteres Schwergewicht des Genres, das seine Blütezeit fünfzehn Jahre später als Blow und Flash erlebte: Nas. Er leiht seine markante Stimme Zeke, dem (erwachsen gewordenen) Protagonisten von „The Get Down“, der in einer Bühnenshow-Rahmenhandlung im Jahr 1996 rappend-reimend aus seiner Jugend erzählt.

In rasantem Tempo und unter Verwendung diverser Stilvorlagen jagt uns Luhrmann (als Regisseur der Pilotfolge) durch ein ganzes Bündel verschiedenster Handlungsstränge. Ein Schwenk über den digitalen Stadtplan markiert die Distanz der Bronx von Downtown Manhattan und stürzt das Publikum in den Trubel einer Stadt, die Ende der Siebzigerjahre kurz vorm Bankrott stand und jede Menge Probleme hatte: Verbrechen, Armut, Wohnungsnot, politische Korruption. Der Lifestyle stellte sich dagegen: Punk mit Wut im Bauch, Disco mit hedonistischem Eskapismus und dann eben auch Hiphop, der beides zu verbinden wusste, mit dem DJ, der die Beats mixte und cuttete, und dem „wordsmith“, der darüberrappte.

„The Get Down“ ist, erstens, ein sentimental gestimmtes Jugenddrama, das von einem begabten jungen Mann aus der Bronx erzählt (Zeke, gespielt von Justice Smith), der gerade seine Berufung findet: als Poet, also Rapper, ohne anfangs noch zu wissen, was das sein könnte. Seine Mutter starb durch eine Kugel, die den Vater hätte treffen sollen. Seiner Lehrerin reimt er voller Inbrunst taffe Texte vor, doch seine große Liebe Mylene (Herizen F. Guardiola), eine ebenso attraktive wie begnadete Sängerin, die er in der Kirche ihres prügelnd-puritanischen Pastoren-Vaters Ramon (Giancarlo Esposito, Gus Fring aus „Breaking Bad“) am Klavier begleitet, will sich ihm nicht hingeben ­- beste Voraussetzung für eine aus enttäuschten Romanzen gespeiste Künstlerkarriere. Umschwirrt wird Zeke von den schrägen Kipling-Brüdern Ra-Ra (Skylan Brooks), Boo-Boo (Tremaine Brown jr.) und Graffiti-Sprayer Dizzee (Jaden „Karate Kid“ Smith als Gaststar), Söhne einer groovigen Barbershop-Familie (deren Mutter von „Boss“-Star Karen Aldridge gespielt wird). Die vier Jungs funktionieren als Freundesclique fast so gut wie ihre historisch fast identisch verorteten Kollegen aus „Stranger Things“: Großes Lob der Casting-Abteilung.

Zum Quintett komplettiert werden Zeke, Ra-Ra, Boo-Boo und Dizzee erst gegen Ende des Pilotfilms. Da lernen sie den zuvor mystisch umraunten Kleinganoven und Comic-Fan Shaolin Fantastic, kurz Shao, kennen – gespielt wird er von Shameik Moore, der neulich schon in der sehenswerten Dealerkomödie „Dope“ glänzte. Luhrmann inszeniert Shaos erste Auftritte als von Dach zu Dach springender Drogenkurier wie einen Kung-Fu-Film, mit Isaac-Hayes-mäßigem Plucker-Soundtrack und Ninja-Perspektiven, an denen auch der Wu-Tang Clan seine Freude gehabt hätte. Shao ist das Bindeglied zu dem, was „The Get Down“, zweitens, auch ist: ein Zeitbild, das den Look und die Stimmung dieser Epoche transportieren will. Da gibt es die „failed city“, die ruinös in Trümmern liegt und in der zwecks Versicherungsbetrugs andauernd Gebäude niederbrennen; dieses New York ist eine Stadt, in der lokale Mafiosi Geschäfte regeln, Jobs verteilen und Visionen hegen. „L.A. Law“-Veteran Jimmy Smits ist, mit dicker Sonnenbrille und faltigem Hals, kaum wiederzuerkennen als Papa Fuerte, Mylenes Onkel, der als Pate der South Bronx große Ziele hat und dafür mit korrupten Geschäftsleuten paktiert („House of Cards“-Präsident Michel Gill wird in einer solchen Rolle schon kurz angeteasert). Und da gibt es die Stadt als Geburtsort neuer Musikrichtungen: Jugendliche begaffen ehrfurchtsvoll die Vorortzüge, die ihre eigenen Graffiti-Tags aus der Bronx in die Stadt fahren, und in modrigen Club-Kellern begeistert DJ Grandmaster Flash die Party-Insider, indem er mit handgemachtem Mixing den Unterschied zwischen „the wackness“ (normaler Discosound) und „the get down“ (die Beats und Breaks, auf die alle warten) zelebriert. Shao ist eine Art Azubi von Flash, und in der zweiten Episode erhält er eine sehr amüsante und lehrreiche Lektion von diesem mythischen DJ, der tatsächlich wie „The Flash“ in die Szene rein und aus ihr wieder herausflitzt.

Wie Luhrmann mit Musik umgeht, ist erwartbar meisterlich – schließlich hat er schon eine Art Spotify-Shuffle betrieben, lange bevor Streamingdienste das wilde Herumspringen durch die Musikarchive auch Leuten ohne ausufernde Plattensammlung erlaubten. Den Pilotfilm lässt er flächendeckend von Songs der Epoche untermalen, doch in Parallelmontagen fließen völlig gegensätzliche Tracks so elegant ineinander, dass man einen Meister-DJ an den Turntables vermutet: Disco von Donna Summer oder der Fatback Band vs. Krautrock von Can vs. Garland Jeffreys mit seiner ewigen Skater-Hymne „Wild in the Streets“.

Doch „The Get Down“ ist mehr als eine Jukebox, die Serie ist, drittens, auch ein waschechtes Musical. Wenn sich Zeke und seine Dialogpartner immer wieder in Reimen aneinander arbeiten, wenn Mylene und ihre Freundinnen vom Dialog in Gesang und Tanz überwechseln oder wenn sich Mylene im fulminanten Kirchenchor-Finale der zweiten Episode zur whitney-houstonösen Tremolo-Diva mit reichlich unfrommem Dekolleté wandelt, um sich einem anwesenden (und nicht von ungefähr an Giorgio Moroder erinnernden) Plattenproduzenten zu empfehlen, dann werden die Regeln des Genres geradezu mustergültig befolgt und von der überkandidelten, am magischen Realismus interessierten Inszenierung entsprechend bedient.

Als wäre all das noch nicht genug, soll „The Get Down“ aber auch noch, viertens, eine Art Thriller sein – mit ordinären Crime-Königinnen, eitlen Pimps und irren Gangsterbanden, die in Nightclubs herumballern, als wollten sie „Scarface“ übertrumpfen. Zentralfigur dieser Handlungsstränge ist Zuhälter Cadillac (Yahya Abdul-Mateen II), der als psychotischer Geck mit Zylinder durch seine von pelztragenden Nobel-DJs beschallte Sündenpfuhl-Disco „Les Inferno“ stolziert, mit offenem Hosenlatz vor dem Spiegel herumtänzelt und seine Gegner in Tarantino-Manier traktiert.

Spätestens in diesen Szenen merkt man, dass es Luhrmann und Guirgis übertrieben haben mit ihrer genrehoppenden Rundumversorgung: „The Get Down“ ist, fürs Erste, einfach zu vollgestopft mit Figuren und Subplots, von denen einige ihre Existenz einfach nicht rechtfertigen können. So interessant der Rückblick auf den Beginn der Hiphop-Kultur für sich genommen ist und so nötig es auch ist, den durchaus rauen Kontext ihrer Entstehung mitzubeleuchten, so generisch und klischeehaft-abgestanden kommen also beispielsweise diese Gangsterknallchargen daher. Man kann sie nicht ernstnehmen – und vom Rest-Plot lenken sie sträflich ab. Klarer Fall von seriellem Overachievement.

Im Kleinen, Detaillierten, Musikverliebten hat „The Get Down“ da jedenfalls viel mehr zu bieten. Im Zentrum der Pilotepisode steht etwa eine seltene Vinylplatte: der rare „Pakoussa“-Remix eines Songs von Mylenes Lieblings-Discosängerin Misty Holloway. Shao soll die Platte als Bewährungsprobe für Flash auftreiben, Zeke will sie ins „Les Inferno“ schmuggeln, um Mylene damit zu beeindrucken. Der Insider-Witz an der Sache aber ist ein anderer: Unter all den real-existierenden Sängern, DJs und Rappern, von denen in der Serie ohne Unterlass die Rede ist, ist ausgerechnet diese Platte rein fiktiv. Weder Pakoussa noch Holloway hat es je gegeben.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten beiden Episoden von „The Get Down“.

Meine Wertung: 3,5/​5

Gian-Philip Andreas
© Alle Bilder: Netflix

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

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