Sense8 – Review

„Matrix“-Macher wandeln bei Netflix auf „Cloud Atlas“-Spuren – von Marcus Kirzynowski

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 15.06.2015, 12:00 Uhr

Acht Hauptfiguren aus acht Ländern von vier Kontinenten: die sogenannten Sensates


Manchmal könnte man denken, Netflix hat vielleicht einfach zu viel Geld. Zum Beispiel, wenn man das Konzept der Eigenproduktion „Sense8“ liest, der neuesten Arbeit der Wachowski-Geschwister („Die Matrix“), mit Unterstützung von J. Michael Straczynski („Babylon 5“): Acht gleichberechtigte Hauptfiguren in acht verschiedenen Ländern (oder sogar neun, wenn man das Heimatland Island der einen, in London lebenden Figur mitzählt) auf vier Kontinenten. Gedreht wurde an Originalschauplätzen, also mit einem Filmtross, der um die ganze Welt gezogen ist (Australien einmal ausgenommen). Und das alles im Grunde nur, um eine Botschaft zu vermitteln, die so simpel ist, dass man sie auch auf ein Kalenderblatt schreiben könnte: Alles ist mit allem verbunden.

Das wollten Andy und Lana Wachowski uns wohl auch schon mit ihrem ausufernden Kinofilm „Cloud Atlas“ sagen, der ziemlich floppte. Ähnlich wie dessen Anfang haut einem auch die Auftaktfolge ihrer ersten Serie Personen und Schauplätze in schnellem Wechsel nur so um die Ohren – ohne dass der Zuschauer eine Chance hätte, die Figuren erst einmal grob kennenzulernen oder sich überhaupt zu orientieren, was jeweils los ist. Sprang „Cloud Atlas“ aber nicht nur zwischen verschiedensten Orten, sondern auch noch unterschiedlichen Zeitebenen hin und her, wobei manche Schauspieler in teils absurden Maskierungen hier wie dort auftauchen mussten, beschränken sich die Regisseure diesmal (zum Glück) auf die Gegenwart.

Acht Hauptfiguren, die eine gemeinsame Gabe und ein gemeinsames Schicksal verbindet: eine transsexuelle Hackerin und Aktivistin in San Francisco, ein Streifenpolizist in Chicago, eine gläubige Hindu-Frau in Mumbai, ein weiblicher DJ aus Reykjavik in London, ein heimlich schwuler Filmstar in Mexiko-Stadt, eine Unternehmenserbin in Seoul, die ein Doppelleben als Kickboxerin führt, ein armer Busfahrer in Nairobi und ein deutsch-russischer Safeknacker in Berlin. Sie alle sehen plötzlich Dinge und Personen, die physisch gar nicht da sein können: ein Huhn im Büro der Businessfrau in Seoul etwa und immer wieder eine blonde Frau im weißen Kleid, die wie ein Engel daher schreitet. Die trägt sinnigerweise nicht nur den Vornamen Angelica („Angel“), sondern wird auch noch von Daryl Hannah gespielt und heißt mit Nachnamen Turing. Hannah hatte bekanntermaßen ihren größten Erfolg in den 1980ern als Androidin im Sci-Fi-Klassiker „Blade Runner“, in dem auch der Turing-Test eine zentrale Rolle spielte. Die Ermordung von Engel Angelica ist nun der Auslöser dafür, dass die acht bis dato unauffällig lebenden Figuren miteinander verbunden werden. Sie sind die Sensates, auf die der Serientitel anspielt (nebst der Tatsache, dass es sich eben um acht Hauptfiguren handelt). Das Verb „sensate“ bedeutet so viel wie „sinnlich wahrnehmbar“, „mit den Sinnen zu erfassen“. Und über die normalen fünf Sinne hinaus haben die Sensates jetzt eben noch einen Zusatzsinn, der ihnen erlaubt, auch das wahrzunehmen, was die anderen Sieben gerade sehen, hören, fühlen etc. Außerdem können sie sich sogar „in den Körper der anderen versetzen“.

Das erkennen sie, ebenso wie der Zuschauer, jedoch erst im Laufe der weiteren Folgen, nach etwas, was man nur eine quälend lange Exposition nennen kann – oder eigentlich nicht einmal das, denn erklärt wird in den ersten Folgen wenig. Stattdessen setzt die Serie voll und ganz auf Schauwerte, und die sind in der Tat beträchtlich. Da gibt es die pittoreske Kulisse der afrikanischen Vorortlandschaft, die Wolkenkratzer von Seoul und eine ganze durchchoreografierte Massen-Tanzszene wie aus einem Bollywood-Film in Mumbai. Wobei die Bilder immer touristisch bleiben, klischeebehaftet: Das globale Netflix-Publikum bekommt die Ansichten und Eindrücke geliefert, das es ohnehin schon mit den jeweiligen Ländern assoziiert. Klischeebeladen sind in den ersten Folgen auch noch die Figuren: Den armen Capheus aus dem nairobischen Vorort treibt natürlich nichts mehr um als die Frage, wie er die teuren Medikamente für seine AIDS-kranke Mutter besorgen kann. Der spanische Actionfilm-Star Lito in Mexiko ist natürlich super männlich und attraktiv (wobei letzteres im Grunde auf alle Hauptfiguren zutrifft), wenn auch im Geheimen gar kein Frauenheld, sondern Männern zugewandt. Und der russischstämmige Berliner Wolfgang (Max Riemelt wirkt hier so, als hätte man ihn direkt aus „Im Angesicht des Verbrechens“ in diese Serie transplantiert) hat nicht nur mit der Russenmafia zu tun, sondern trägt natürlich auch noch einen ungelösten Konflikt mit seinem verstorbenen Vater mit sich herum. Eine originelle Figurenkonzeption sieht dann wohl doch anders aus.

Der deutsche (Anti-)Held: Wolfgang (Max Riemelt)
So bunt wie die Schauplätze sind auch die Lebensweisen der Charaktere: hetero-, homo- und transsexuell, Hindu, katholisch oder nicht religiös, arm, reich, auf dieser oder jener Seite des Gesetzes. Gegen eine Serie, die für Diversität und Toleranz plädiert, ist an und für sich überhaupt nichts einzuwenden. Nur sollte sie ihre Botschaft vielleicht doch cleverer rüberbringen als dieses Sammelsurium, das wirkt wie ein überlanger Werbespot für die „United Colors of Benetton“ und seinen Appell an Humanität und Gemeinschaftssinn meist in platten Dialogen vermittelt. In manchen Szenen funktioniert es allerdings doch, dass die Message berührt, etwa wenn die schwer erkrankte transsexuelle Nomi im Krankenhaus hilflos der intoleranten Mutter ausgeliefert ist, die sie beharrlich weiter mit ihrem Geburtsnamen Michael anspricht. So gibt es immer wieder einzelne Szenen oder Sequenzen, die ein Gefühl dafür vermitteln, welches Potential in der Serie steckt – oder stecken könnte, wenn bessere Drehbuchautoren als die Wachowskis am Werke wären (wobei Ko-Serienschöpfer Straczynski, der für das von Clint Eastwood inszenierte zeitgeschichtliche Drama „Der fremde Sohn“ immerhin mit einem Oscar ausgezeichnet wurde, erst ab Folge 4 eigene Drehbücher beisteuerte).

Leider wirken die ersten Folgen weitgehend so, als wüssten weder das Buch noch die Regie, was sie aus der Grundidee eigentlich machen sollen. Statt dem Zuschauer die Identifikation mit den Helden zu ermöglichen, werden planlos Szenen eingestreut, die weder mit dem Handlungsstrang in der Szene davor, noch mit dem in der danach irgendwie zusammenhängen, etwa eine besonders fehlplatzierte Sexszene mit Max Riemelt in der Mitte der zweiten Folge, der zuvor in der Episode noch gar nicht zu sehen war. Aber vielleicht ergibt ja am Ende der Staffel alles einen Sinn, so wie ja bis heute nicht wenige Menschen glauben, Matrix sei ein Film mit einer tiefen philosophischen Aussage. Wie man solche Geschichten über die Interkonnektivitäten in der globalisierten Welt auch mit sinnvollen Schnitten und Szenenfolgen erzählen kann, haben im Übrigen Filme wie „Babel“ oder „Mammut“ bereits vorgemacht.

Nicht in die Irre führen lassen sollte man sich von dem Label Actionserie, das „Sense8“ gelegentlich aufgedrückt wurde. Action gibt es in beiden Auftaktfolgen jeweils genau einmal, in den letzten Minuten. Da wird es dann tatsächlich einmal kurzzeitig spannend, vor allem am Ende der ersten Episode, wenn sich Cop Will und DJane Riley in einer Chicagoer Kirche zum ersten Mal „begegnen“, Riley davon überwältigt ist, weil sie noch nie in Amerika gewesen ist, und das Gespräch über die Kontinente hinweg abrupt unterbrochen wird, weil an Rileys tatsächlichem physischen Aufenthaltsort in London eine Schießerei ausbricht – die wiederum auch Will hautnah miterleben kann. Da möchte man dann doch gleich die nächste Folge gucken, wird dann aber durch erneutes 50-minütiges zielloses Hin- und Herspringen zwischen den Schauplätzen enttäuscht.

So bleibt „Sense8“ leider trotz interessanter Ansätze, schöner Bilder und eindringlicher Musik (Tom Tykwer, der auch die Szenen in Berlin und Nairobi inszeniert hat, schrieb den Score gemeinsam mit seinem langjährigen Kompositions-Partner Johnny Klimek ) ein ziemlich unausgegorener Stil- und Kulturmix, den man in Anlehnung an die Bezeichnung Europudding wohl einen globalen Pudding nennen könnte.


Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten beiden Episoden der Serie.


Meine Wertung: 2,5/​5

Marcus Kirzynowski
© Alle Bilder: Netflix

Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

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