Marvel’s Daredevil – Review

Der Dämon als Held einer neuen Netflix-Serie – von Marcus Kirzynowski

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 27.04.2015, 12:00 Uhr

Gangster aufgepasst: Nachts geht der Daredevil auf Streifzug

Daredevil ist – ähnlich wie Batman oder (Green) Arrow – kein herkömmlicher Superheld, da er über keine Superkräfte im klassischen Sinn verfügt. Trotzdem steht ein spektakulärer Unfall am Anfang seiner Origin-Story, seiner Heldwerdung. Als sein Gesicht – noch als kleiner Junge – bei einem LKW-Unfall mit einer chemischen Flüssigkeit übergossen wird, erlangt er aber nicht wie üblich zusätzliche Fähigkeiten, sondern verliert sogar eine, nämlich sein Augenlicht. Diese Szene steht gleich am Anfang der Netflix-Serie, wobei der eigentliche Unfall ausgespart und nur die Sekunden danach gezeigt werden, in denen der verzweifelte Vater Jack Murdock (John Patrick Hayden) vergeblich versucht, seinem Sohn Matt zu helfen, der entsetzt schreit, er könne nichts mehr sehen.

Jahre später ist Matt Murdock (jetzt: Charlie Cox) ein junger Anwalt, der sein Augenlicht zwar nicht wiedererlangt, dafür aber seine anderen Sinne extrem ausgebildet hat. Während er tagsüber versucht, in seinem Beruf Fuß zu fassen, geht er nachts als Rächer auf die Straßen von Hell?s Kitchen, jenem berüchtigten New Yorker Stadtteil, in dem er auch aufgewachsen ist. Dabei trägt er noch nicht das bekannte rote Kostüm, sondern ist eher spärlich mit schwarzen Klamotten und einer augenschlitzlosen Maske getarnt. Angehörige eines Menschenhändlerrings werden das Ziel seiner ersten Aktion. Am nächsten Tag hat Murdock wenig Zeit, sich von seinem nächtlichen Einsatz auszuruhen, denn ein Besichtigungstermin für die Kanzlei, die er mit seinem Studienkollegen Franklin „Foggy“ Nelson (Typ lustiger Sidekick: Elden Henson) gründen will, steht auf dem Terminplan. Der Kontakt Foggys zu einem Streifenpolizisten – sorry: Ortsbereichsbeamten – verschafft den neuen Partnern zudem ihre erste Klientin: Die Sekretärin Karen Page (Deborah Ann Woll) wurde neben ihrem erstochenen Kollegen gefunden, das Messer quasi noch in der Hand. Dennoch glaubt Matt ihr sofort, dass sie sich nicht erinnern kann, wie sie in diese Lage geraten ist, denn er kann ihren Herzschlag hören, der bei der Schilderung ihrer Erinnerungen ruhig bleibt. Karen berichtet auch, dass sie in dem Bauunternehmen, in dem sie arbeitet, an ein Dokument geraten ist, dass Veruntreuung im großen Stil nachweist.

Die Auftaktfolge von „Marvel’s Daredevil“ vereinigt die typischen Elemente der allermeisten Superheldenserien: ein bisschen Origin-Story, ausführliche Etablierung der Hauptfiguren und ihrer Beziehungen zueinander, ein wenig Action und über weite Strecken etwas, das sich anfühlt wie ein – recht uninspirierter – Fall der Woche. Der dann aber doch keiner ist, wie sich in den weiteren Folgen herausstellt. Zwar wird der Mordfall mit Karen als Verdächtiger am Ende der Episode (mehr oder weniger) aufgeklärt, aber er diente im Wesentlichen zwei Zwecken im Rahmen der Serienkonzeption: Zum einen beginnt Karen aus Dankbarkeit gegenüber ihren beiden Rettern, für die Anwälte als Sekretärin zu arbeiten, zum anderen ist die Veruntreuung samt brutalem Zeugen-aus-dem-Weg-Schaffen der Einstieg in die übergreifende Auseinandersetzung der Helden mit einem organisierten Verbrecherring. Der hat, das wird schon in der ersten Folge klar, seine Finger so ziemlich in allen schmutzigen Geschäften am Ort, vom Menschen- bis zum Drogenhandel. Mit Russen, Chinesen und Japanern ist er zudem illuster international besetzt. Den Oberpaten, für Fans der Comicvorlage ein alter Bekannter, bekommen wir hingegen in den ersten zwei Folgen noch nicht zu Gesicht.

Tagsüber gibt sich Matt Murdock (Charlie Cox) gediegen im Anwaltsaufzug
So 08/​15 die Handlung zu Beginn wirkt, so ungewöhnlich ist die Bildgestaltung ausgefallen: Statt bonbonbunter Farben gibt es viel Schatten zu sehen – oder eben nicht zu sehen, denn die Beleuchtung ist in den zahlreichen Nachtszenen oft so spärlich ausgefallen, dass man eher erahnen muss, was gerade im Bild passiert. Da steht auch schon mal ein Darsteller im Gegenlicht, während er seinen Dialog spricht, so dass sein Gesicht komplett dunkel erscheint. Das passt einerseits zum Thema des blinden Protagonisten, der sich eben auch nicht auf das optische Erscheinungsbild der Welt verlassen kann, andererseits betont es Netflix? Anspruch, eine düsterere Comicserie abzuliefern als gewohnt. Bis zu einem gewissen Grad hat diese ungewöhnliche Lichtsetzungs- und Kameraarbeit durchaus ihren Reiz, auf Dauer wird sie aber doch arg anstrengend.

Düster oder besser dreckig sind auch die Actionszenen: Stärker als bei den Superheldenserien der großen Networks sieht man Knochen brechen und Blut spritzen. Wobei Murdock selbst trotz fehlender Sehfähigkeit immer wieder aus den Kämpfen mit teils einem halben Dutzend bewaffneter Gegner herauskommt – wenn auch nicht immer mit gänzlich heiler Haut. Zu Beginn der zweiten Folge liegt er nämlich schwer angeschlagen in der Gosse und muss erst einmal von einer fürsorglichen Krankenschwester (Rosario Dawson) gesund gepflegt werden. Da nicht gezeigt wurde, wie er überhaupt in der Gosse gelangt ist, fragt man sich zunächst, ob man eine Folge übersehen hat. Die merkwürdige Chronologie ist in dieser Episode aber Absicht; erst nach und nach wird enthüllt, was eigentlich passiert ist und erst ganz am Schluss gibt es dann die einzige, dafür ziemlich ausufernde (auch, was den Grad der Gewalt betrifft) Actionszene der Folge.

Der Rest der Episode widmet sich der Auseinandersetzung mit dem (zweifelhaften) moralischen Kompass Murdocks (die Krankenschwester ist gar nicht davon angetan, wie brutal der mit seinen Gegnern umgeht) sowie der Vertiefung der Backstory. In weiteren Rückblenden erfahren wir, dass Matts Vater Jack ein bestechlicher Boxer war, der seine Kämpfe gegen Bezahlung absichtlich verloren hat – bis zu jenem verhängnisvollen Tag, an dem ihn der Stolz packte.

Insgesamt wirkt der Auftakt der Serie etwas unausgegoren. Während vieles, was zum Verständnis wichtig wäre, nur angedeutet wird, widmet sich die meiste Zeit der Auseinandersetzung mit den kriminellen Gegnern, die man so ähnlich aber schon aus zu vielen anderen Serien und Filmen kennt. Zwar sind die jeweiligen Folgen-Antagonisten nur Schergen des größeren, noch unsichtbar bleibenden Feindes, aber dessen Bedrohlichkeit wird bislang eher behauptet als inszeniert. Mag sein, dass die Fans des Marvel-Comicuniversums die Anspielungen sofort entsprechend deuten können, als Normalo-Zuschauer hinterlässt einen dieses Vorgehen eher unterwältigt.

Auch die Hauptdarsteller bleiben recht blass. Newcomer Cox muss natürlich gegen das Handicap anspielen, dass er seine Augen ständig hinter einer dunklen Sonnenbrille oder seiner Maske verbergen muss, zeigt aber auch sonst noch keine herausragenden schauspielerischen Fähigkeiten. Henson wirkt als comic relief eher nervig als sympathisch, was aber hauptsächlich an den Dialogzeilen liegt, die ihm die Autoren um Showrunner Steven S. DeKnight in den Mund gelegt haben. Die Bildgestaltung ist zwar originell und ambitioniert, auf Dauer aber auch etwas eintönig und anstrengend. Man merkt den Anspruch der Macher, sich von gängigen Comicserien abzuheben, insbesondere auf Handlungsebene bleibt die Serie aber hinter dem eigenen Anspruch zurück, eine wirklich „erwachsene“ Superheldenadaption zu sein. Das ist – trotz vermutlich wesentlich geringeren Budgets und deswegen weniger hochwertiger Optik – Sonys Playstation-Serie „Powers“ zuletzt wesentlich besser gelungen.


Dieser Text basiert auf Sichtung der ersten zwei Folgen der Serie.

Meine Wertung: 3/​5

Marcus Kirzynowski
© Alle Bilder: Barry Wetcher © 2014 Netflix, Inc.

Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

Kommentare zu dieser Newsmeldung

    weitere Meldungen