Eine Reihe betrüblicher Ereignisse – Review

Netflix-Adaption trifft genau den richtigen Ton mit verspielter, schaurig schöner Jugendbuch-Adaption – von Gian-Philip Andreas

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 24.02.2017, 18:30 Uhr

Die Protagonisten: (v.l.) Graf Olaf (Neil Patrick Harris), Violet (Malina Weissman), Klaus (Louis Hynes) und Baby Sunny (Presley Smith)
Als 2004 der erste und einzige „Lemony Snicket“-Film mit Jim Carrey ins Kino kam (unter dem deutschen Verleihtitel „Rätselhafte Ereignisse“), war das für viele bei uns in den deutschsprachigen Ländern der Erstkontakt mit der wunderbar sinistren und verschrobenen Erzählwelt des unter Pseudonym schreibenden amerikanischen Kinderbuchautors gleichen Namens: Die seit 1999 erschienen 13 Bände mit einer „Reihe betrüblicher Ereignisse“, die drei vermeintlichen Waisenkindern widerfahren, sind in den USA deutlich populärer als bei uns. Hinter Snicket, der in den Büchern auch als fiktive Erzählfigur auftritt, verbirgt sich US-Autor Daniel Handler (der auch in den Indie-Rockbands wie „Magnetic Fields“ oder „Stars“ Akkordeon spielt).

Der Wunsch der Filmproduzenten, mit „Rätselhafte Ereignisse“ ein profitables Franchise nach Art der Harry-Potter-Filme loszutreten, ging nicht auf: Der Film, der gar nicht so übel war und sogar einen Oscar fürs Make-up gewann, lief nicht gut genug. Handler selbst war außerdem im Produktionsprozess ausgebootet worden, und Carrey in der Hauptrolle des grimassierenden Finsterlings Count Olaf konnte man sich als Serien-Antiheld nicht wirklich vorstellen. So hing der Film seltsam in der Luft: Er basierte nur auf den ersten drei Büchern der dramaturgisch stark auf inhaltliche Fortsetzung bauenden Snicket-Reihe und musste den Stoff auf 107 Minuten heftig einstampfen.

Schon deswegen ist es eine gute Sache, dass Netflix jetzt einen neuen, episodischen Anlauf unternimmt, um die schaurig-traurigen Abenteuer der drei Baudelaire-Kinder zu verfilmen: Aus der Buch- ist eine Fernsehserie geworden, mit Neil Patrick Harris in der Hauptrolle. Das passt. Die erste Staffel mit acht Folgen deckt die ersten vier Snicket-Bücher ab, widmet jedem Teil also zwei Episoden mit einer (Detailreichtum und Fabulierlust fördernden) Lauflänge zwischen 42 und 64 Minuten – die bereits bestätigte zweite Staffel soll sich bis Buch neun vorarbeiten.

Auch das Team hinter dem Projekt ist eine plausible Wahl: Hollywood-Regisseur Barry Sonnenfeld („Men in Black“, „Pushing Daisies“), der alle Episoden inszenierte, ist nicht zuletzt durch seine beiden tollen „Addams Family“-Filme aus den Neunzigerjahren in Erinnerung geblieben – genau diese Art schwarzer, aber immer familienfreundlicher Gothic-Humor mit detailverliebten Dekors und ins liebevoll Schrille neigenden Schauspielleistungen ist es, die man sich fürs „Lemony Snicket“-Universum am besten vorstellen kann. Gemeinsam mit Produzent und Autor Mark Hudis („Die wilden Siebziger“, „Nurse Jackie“), einem Mann, der weiß, wie man Gags platziert, und Handler/​Snicket höchstselbst (als Produzent) sorgt er von der ersten Sekunde an dafür, dass Look und Atmo der Serie von Anfang an stimmen.

Nächstes Plus: Die drei Kinderdarsteller. Malina Weissman, Louis Hynes und (das Kleinkind) Presley Smith spielen die Baudelaire-Kids, deren Eltern eingangs bei einem Brand ums Leben gekommen zu sein scheinen, bei dem auch das Familienhaus zerstört wurde. Weissman ist eine gewitzte Wucht als 14-jährige Violet, eine Erfinderin, die aus Dingen, die irgendwo herumliegen, in Windeseile hilfreiche Apparaturen zusammenschrauben kann – und angesichts der Kalamitäten, in die sie mit ihren Geschwistern noch gerät, ist das wichtig. Hynes sieht als zwölfjähriger Bücherwurm und Proust-Leser Klaus mit Tweed-Jackettchen und Hornbrille so aus wie eine Miniaturausgabe von Woody Allen. Und Presley Smith, wie soll man sagen, „spielt“, mit keck hochstehender Haarpalme, das einjährige Baby Sunny, das bei Bedarf zur drollig animierten Zerbeißmaschine wird: Sehr amüsant, wie das Kind dem um sie herum stattfindenden Chaos-Treiben mit gelassener Teilnahmslosigkeit folgt. Sein unverständliches Gebrabbel entpuppt sich allerdings – in der Untertitelung – als der passende Kommentar für jede Situation.

Patrick Warburton fungiert als Erzähler Lemony Snicket
Aushängeschild der Show ist aber natürlich „How I Met Your Mother“-Star Neil Patrick Harris, der mit hoher Stirn, wallendem Komponistenhaar und unschöner „Monobrow“ den gemeinen Graf Olaf spielt, einen erfolglosen Schauspieler, der sich durch Übertölpelung des zuständigen Notars (auch witzig: K. Todd Freeman, zwanzig Jahre nach „Dangerous Minds – Eine Klasse für sich“) die Vormundschaft der verwaisten Baudelaire-Kinder erschleicht: In seinem heruntergekommenen, spukschlossartigen Anwesen lässt er die Kids Sklavenarbeit verrichten, während er mit seiner fünfköpfigen Theatertruppe aus sonderbaren Gestalten (darunter John DeSantis, der in der „Neuen Addams Familie“ den Butler Lurch spielte – das dürfte ihm beim Casting geholfen haben!) schräg choreografierte Musicalnummern aufführt und nichts anderes plant, als den Kindern ihr momentan noch treuhänderisch weggesperrtes Vermögen abzujagen. Harris zieht dabei die Braue hoch wie Barney in HIMYM, wenn er gerade mal wieder über die Technik des perfekten Aufreißens doziert, und sieht dabei jederzeit so kostümiert aus, was natürlich genauso gewollt ist. Harris grimassiert weniger als Carrey im Film und wirkt nicht ganz so bösartig, aber immer noch angemessen fies – was dem Geist der Bücher besser entspricht. Harris singt zudem den Titelsong, dessen Text sich in jeder Folge ändert, aber immer den Refrain „Turn Away!“ beinhaltet: „Wendet Euch ab! Schaut etwas Angenehmeres!“

Genau das ist der Clou der Bücher: In ihnen warnt Lemony Snicket als Erzähler seine jungen Leser – ironisch – davor, die Geschichte überhaupt zu lesen, da die „Reihe betrüblicher Ereignisse“, die die Baudelaire-Kinder erwartet, schlichtweg zu schlimm sei. Während Jude Law als Film-Snicket nur aus dem Off erzählte, stellt Sonnenfeld den „Rules of Engagement“-Star Patrick Warburton mitten in die Szenen rein – ein Kunstgriff. Mal steht Warburton irgendwo herum, mal manövriert er sich durch eine seltsame Unterwelt (was später in der Staffel genauer ergründet werden dürfte), mal stiefelt er allerdings auch quer durch die Szene, von der er gerade erzählt. Er tut dies mit sonorer Stimme und sensationeller Bestattungsunternehmermiene, mit desillusioniertem Weltekel im Blick und besorgt ums Wohl der Zuschauer. Die typischen Snicket-Sätze kommen auf diese Weise ideal zur Geltung: „Es tut mir leid, dass diese angebliche Unterhaltungssendung so unangenehm ist.“ Oder: „Wie so oft bei betrüblichen Ereignissen: Nur weil man etwas nicht versteht, heißt das nicht, dass es nicht wahr ist.“ Warburton und die Macher haben viel Spaß an dieser Art Sargträgerhumor, und das überträgt sich eben nicht nur auf die (nicht mehr ganz so kleinen) Kinder, an die die Serie zuerst gerichtet ist, sondern auch auf Erwachsene mit Freude an schwarzem Humor.

In den ersten Episoden („The Bad Beginning“) müssen sich die Baudelaires in Graf Olafs Spukhaus ein klappriges Bett teilen, dann will sich der Schmierenkomödiant im Rahmen einer Theatervorführung mit der minderjährigen Violet vermählen, indem er die arglose Nachbarin, die nette Richterin Strauss (herrlich: Joan Cusack) auf der Bühne eine angeblich legal bindende Zeremonie durchführen lässt – was irritierend pädophile Untertöne hat, vom Bubblegum-Gothic-Setting aber dankbar abgefedert wird. Der Plan misslingt, und in den kommenden Episoden werden die Kids weitergereicht – und natürlich vom Grafen weiter gejagt. Die Gaststar-Liste liest sich illuster: von „Miami Vice“-Legende Don Johnson über Alfre Woodard („Marvel’s Luke Cage“) bis hin zu Catherine O’Hara, die ­im Kinofilm wiederum die Richterin spielte. Zu Beginn werden übergreifende, miteinander verwobene Storylines eingefädelt: von der Geheimorganisation, in der Graf Olaf Mitglied zu sein scheint, bis zu den Baudelaire-Eltern, die noch am Leben zu sein scheinen – was in der Pilotfolge anhand eines kurzen Gastauftritts von „BoJack Horseman“-Sprecher Will Arnett und Harris’ HIMYM-Kollegin Cobie Smulders enthüllt wird.

Es gibt auch ein paar Schwächen, natürlich. Die im intellektuellen Hipstersprech gehaltenen Spruchuntertitelungen von Baby Sunny etwa fallen auf Dauer etwas aus dem Rahmen der ansonsten mit Kreisblenden, handgemachten Tricks und Märchen-Deko betont altmodisch gehaltenen Szenerie, und Olafs Theatertruppe bedient zum Beispiel ein paar Freakshow-Klischees zu viel. Doch die Freude daran, endlich eine valide, unterhaltsame und zündende Umsetzung der Lemony-Snicket-Welt vorgesetzt zu bekommen, kann das nicht ernsthaft trüben.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten zwei Episoden von „A Series of Unfortunate Events“.

Meine Wertung: 4/​5

Gian-Philip Andreas
© Alle Bilder: Joe Lederer/​Netflix

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

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