2017/2018, Folge 530–546

  • Folge 530
    Der deutsch-türkische Konflikt spitzt sich weiter zu: Nach den jüngsten Verhaftungen deutscher Staatsbürger in der Türkei fordern viele Politiker eine härtere Gangart gegenüber Ankara, zum Beispiel mit einer offiziellen Reisewarnung. Beim TV-Duell verlangte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz nun gar den Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen. Schon vorher hatte der türkische Präsident Erdogan für Unmut gesorgt, als er türkischstämmige Deutsche aufforderte, bei der Bundestagswahl SPD, CDU und den Grünen die Stimme zu verweigern. Welche Strategie verfolgt Erdogan und wie sollte Deutschland darauf reagieren?
    Die Gäste:
    Aydan Özoguz, SPD (Integrationsbeauftragte des Bundes)
    Markus Söder, CSU (Bayerischer Finanzminister)
    Dogan Akhanli (Schriftsteller)
    Doris Akrap (Journalistin)
    Tugrul Selmanoglu (Erdogan-Unterstützer und Unternehmer)
    Günter Seufert (Türkei-Experte)
    Aydan Özoguz
    Die Staatsministerin glaubt nicht, dass die Wahlempfehlung des türkischen Präsidenten Erfolg haben wird. „Die meisten Deutschtürken stehen da drüber und werden sich nicht für Erdogans Politik instrumentalisieren lassen“, sagt sie. Allerdings beobachtet Aydan Özoguz eine fehlende Identifikation vieler Deutschtürken mit der Bundesrepublik. Dafür macht sie auch die von der Union propagierte Idee einer deutschen Leitkultur verantwortlich. „Die Beschwörung einer Leitkultur schafft nicht Gemeinsamkeit, sondern grenzt aus. Eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar.“
    Markus Söder
    Der CSU-Politiker kritisiert die Einflussnahme Erdogans auf den deutschen Wahlkampf: „Die Einmischung der Türkei in den Bundestagswahlkampf ist inakzeptabel. Was deutsche Staatsbürger wählen, geht Ankara nichts an.“ Markus Söder ist der Überzeugung, dass Deutschland die EU-Beitrittsgespräche beenden und alle Zahlungen einstellen soll. Der bayerische Staatsminister für Finanzen und Heimat verteidigt das Konzept einer deutschen Leitkultur. Sie müsse bei der Integration der Maßstab sein: „Ich will die kulturelle DNA unseres Landes nicht verändert haben.“
    Dogan Akhanli
    Die Festnahme des deutschen Schriftstellers mit türkischen Wurzeln in Spanien sorgte im August für einen neuen Tiefpunkt in der andauernden diplomatischen Krise zwischen Deutschland und der Türkei. Außenminister Sigmar Gabriel setzte sich persönlich für dessen Freilassung ein und wurde dafür von Erdogan beschimpft. Dogan Akhanli, der die Entwicklung in der Türkei seit Jahren kritisch beobachtet, wurde von der Türkei per internationalem Haftbefehl gesucht. Zwar sitzt Akhanli nicht mehr im Gefängnis, darf aber seit Wochen Spanien nicht verlassen: „Die Verfolgung gegen mich ist rein politisch motiviert. Ich verstehe die spanischen Behörden nicht, dass sie Erdogan so weit entgegen kommen.“
    Doris Akrap
    Die „taz“-Redakteurin ist eine enge Freundin von Deniz Yücel, der seit mehr als 200 Tagen in der Türkei in Untersuchungshaft sitzt. Der Bundesregierung wirft sie vor, nicht genügend Druck auf den türkischen Präsidenten auszuüben. Sie fordert, die Verhandlungen mit der Türkei auszusetzen, bis der Journalist frei ist. „Einfach um zu sehen, ob Erdogan die Gelder aus der EU genauso egal sind wie die Worte der EU. Es könnte ja sein, dass er diese Sprache versteht.“ Doris Akrap warnt jedoch davor, der Türkei endgültig den Zugang zur EU zu verweigern. Man könne Erdogan „kein größeres Wahlgeschenk machen als ihn weiter vom Westen zu isolieren“.
    Tugrul Selmanoglu
    „Erdogan fordert die Deutschtürken völlig zurecht zum Boykott von CDU, SPD und Grünen bei der Bundestagswahl auf“, sagt der Heilbronner Unternehmer. Der Präsident der Türkei sei ein Demokrat, der sich lediglich für seine Landsleute in der Bundesrepublik einsetze und ihre Rechte verteidige. Als Mitglied der Regierungspartei AKP traf der Internetaktivist Recep Tayyip Erdogan mehrfach persönlich. Tugrul Selmanoglu ist überzeugt: „Er ist ein guter Mensch. Ich habe noch nie jemanden erlebt, der so eine Aura hat.“
    Günter Seufert
    „Berlin und Ankara haben derzeit keine gemeinsame Sprache mehr“, erklärt der Türkei-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. So wie die Türkei nicht verstehe, warum Deutschland Gülen-Anhänger schützen würde, könnten die Deutschen nicht verstehen, warum in der Türkei deutsche Staatsbürger ohne rechtliche Grundlange in Haft seien. Die Gründe für die Eskalation sieht der langjährige Türkei-Korrespondent nicht ausschließlich bei Erdogan und der AKP. Auch wir hätten entscheidende Fehler gemacht. Günter Seufert rät der Bundesregierung, jetzt kein weiteres Öl ins Feuer zu gießen. (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereMi 06.09.2017Das Erste
  • Folge 531
    Eine Kanzlerin, die konservative Inhalte ihrer Partei aufgegeben hat, ein Kanzlerkandidat, der an Eckpfeilern sozialdemokratischer Türkeipolitik rüttelt. Grüne Politiker, die nach mehr Polizei rufen, oder linke Politiker, die Asylbewerbern ein Gastrecht absprechen – viele politische Positionen lassen sich nicht mehr eindeutig bestimmten Parteien zuordnen. Die Zeit der klassischen Lagerwahlkämpfe ist vorbei. Kaum eine mögliche Koalition zur Bildung einer Regierung wird ausgeschlossen. Kein Wunder, dass sich ein Drittel der Wähler kurz vor der Bundestagswahl noch nicht für eine Partei entscheiden kann.
    Die Gäste:
    Johannes B. Kerner (TV-Moderator)
    Anja Reschke (ARD-Moderatorin)
    Ole von Beust, CDU (ehemaliger Hamburger Bürgermeister)
    Ralf Stegner, SPD (stellvertretender Bundesvorsitzender)
    Jan Fleischhauer („Spiegel“-Journalist)
    Michael Kunert (Geschäftsführer Infratest dimap)
    Johannes B. Kerner
    Der Fernsehmoderator ist enttäuscht vom bisherigen Wahlkampf. „Es fällt schwer, Unterschiede zwischen den Parteien auszumachen. Mit richtigem Kampf um die besten Ideen hat das nichts zu tun.“ Außerdem kritisiert der 52-Jährige: „Die Parteien denken häufig nur von einer Umfrage zur nächsten und kümmern sich zu sehr um mögliche Koalitionen.“ Johannes B. Kerner wünscht sich stattdessen, dass die Parteien einen langfristigen Plan für Deutschland entwerfen und zehn oder 20 Jahre vorausdenken.
    Anja Reschke
    „Die Klage, dass Parteien für nichts mehr stehen, kenne ich, seit ich wählen darf, also seit Ende des Kalten Krieges“, sagt die Journalistin. Sie frage sich, ob es überhaupt schlimm sei, wenn die Politik sich mehr an Herausforderungen als an Ideologien orientiere. Dennoch beobachtet die Moderatorin des ARD-Politmagazins „Panorama“ eine Krise der Demokratie, weil sich Teile der Wähler und Politiker immer mehr voneinander entfremdet hätten. Der AfD sei zwar zugute zu halten, dass wieder mehr Menschen wählen gingen, doch dass sie die Demokratie beleben könne, glaubt Anja Reschke nicht: „Bisher konnte ich nicht erkennen, dass AfD-Politiker konstruktiv am demokratischen Prozess mitwirken. Es klingt oft mehr danach, als sei ein kompletter Umsturz das Ziel.“
    Ole von Beust
    Der langjährige Erste Bürgermeister Hamburgs verteidigt Angela Merkel gegen konservative Kritik, auch ihren Schwenk bei der „Ehe für alle“: „So ist eben der gesellschaftliche Wandel. Und es gibt doch nichts Konservativeres als die Ehe.“ Er beobachte auf seinen Reisen, dass Deutschland selbst in Oberbayern oder Franken „erheblich liberaler und offener ist, als man glaubt“. Ole von Beust plädiert für eine Koalition mit der FDP nach der Wahl, „auch wenn ich ein Freund von Schwarz-Grün bin“.
    Ralf Stegner
    „Die Kanzlerin hat keine Idee von der Zukunft“, beklagt der SPD-Landesvorsitzende von Schleswig-Holstein. Sie pflege eine minimalistische Form des Auftritts, und das sei leider teilweise wirkungsvoll. „Aber inhaltlich hat sie wenig zu bieten“, sagt Ralf Stegner. „Für mich sind Union und SPD die beiden Kanzlerparteien, die darüber streiten müssen, wer die Bundesrepublik führt. Wir kämpfen weiter um Platz eins“, bekräftigt der SPD-Vize trotz schlechter Umfragewerte für seine Partei. „Unser Wahlziel ist, dass Martin Schulz Kanzler wird – daran arbeiten wir mit aller Kraft bis zum Wahltag um 18 Uhr.“
    Jan Fleischhauer
    „Die CDU ist unter Merkel vergrünt und sozialdemokratisiert“, konstatiert der Spiegel-Kolumnist. „Wer CDU wählt, bekommt SPD pur.“ Das TV-Duell habe gezeigt, dass sogar die SPD nicht wisse, was sie der Kanzlerin vorwerfen solle. Die politischen Lager seien nur noch schwer erkennbar, so der Bestsellerautor. Viele bürgerliche Wähler fragten sich, was sie wählen sollen, wenn sie sich wieder eine Opposition im Bundestag wünschen. „Die interessante Frage wird sein, wie AfD und FDP abschneiden“, sagt Jan Fleischhauer und prophezeit, dass beide Parteien stärker würden, als es die Umfragen abbilden.
    Michael Kunert
    Die Bundestagswahl sei noch keinesfalls entschieden, sagt der Wahlforscher, der seit Jahren mit Infratest dimap die Wahlprognosen für die ARD erstellt. Ein Drittel der Wähler würde sich erst kurzfristig entscheiden. „Die Identifikation mit Parteien nimmt ab.“ Auch die traditionellen Verbindungen in den politischen Lagern fielen weg, analysiert Michael Kunert: „Beispielsweise findet Kanzlerin Angela Merkel bei den Grünen mehr Zuspruch als SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz.“ (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereMi 13.09.2017Das Erste
  • Folge 532
    Kurz vor der wichtigsten politischen Entscheidung des Jahres: Immer mehr Prominente machen sich im Bundestagswahlkampf stark für eine Partei. Wer unterstützt Angela Merkel? Wer macht sein Kreuz bei der AfD? Wer glaubt noch an eine Kanzlerschaft von Martin Schulz? Wünschen sich FDP- und Grünen-Wähler eine Jamaika-Koalition? Und bleibt Rot-Rot-Grün eine Illusion? Sandra Maischberger diskutiert mit einer Runde prominenter Wähler.
    Die Gäste:
    Uschi Glas (Schauspielerin)
    Clemens Schick (Schauspieler)
    Helmut Markwort (ehemaliger „Focus“-Chefredakteur)
    Christoph Butterwegge (Politikwissenschaftler)
    Hans-Hermann Gockel (ehemaliger Fernsehmoderator)
    Tayfun Bademsoy (Schauspieler)
    Uschi Glas
    „Angela Merkel macht einen Wahnsinnsjob. Sie kämpft an allen Fronten, lässt sich nicht provozieren und behält in schwierigsten Situationen den Überblick“, sagt die beliebte Schauspielerin, die sich als langjährige Unionsanhängerin auch in diesem Wahlkampf für die Kanzlerin engagiert. Es sei bewundernswert, wie geschickt die deutsche Regierungschefin mit den großen, schwierigen Männern der Weltpolitik umgehe. In der Flüchtlingspolitik habe Merkel in erster Linie menschlich reagiert, erst danach seien viele Fehler gemacht worden. „Hinterher ist man immer gescheiter. Ich bin zu hundert Prozent sicher, dass Angela Merkel wieder Kanzlerin wird und will mir auch gar nichts anderes vorstellen“, so Uschi Glas.
    Clemens Schick
    „Ich wähle die SPD und Martin Schulz, weil für mich soziale Gerechtigkeit zum gesellschaftlichen Frieden gehört, und die SPD hat sie in der DNA“, sagt der Schauspieler (u.a. „James Bond 007: Casino Royale“). Seit 2016 ist er SPD-Mitglied und wirbt aktiv im Wahlkampf für den sozialdemokratischen Spitzenkandidaten. Sein Begründung: Die Demokratie müsse sich wehren gegen die „populistischen Parolen von rechts“. Durch einen Erfolg der AfD sähe Clemens Schick „unsere fundamentalen Werte bedroht“ und warnt: „Nationalismus führt immer zu Krieg“.
    Helmut Markwort
    Der Journalist trat 1968 in die FDP ein und bezeichnet sich als „rechtsliberal“. Er hofft auf den Wiedereinzug seiner Partei in den Deutschen Bundestag, denn „es fehlt die Stimme der Marktwirtschaft und der ökonomischen Vernunft“. Die zunehmende Linkslastigkeit, sagt Helmut Markwort, entspreche nicht dem Willen der Wähler in Deutschland. Angela Merkel habe rechts von der Mitte ein Riesenloch gelassen. Dem SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz gibt der „Focus“-Gründer wenig Chancen: „Die einzige Chance für einen Sozi noch einmal Kanzler zu werden, ist Rot-Rot-Grün – was uns erspart bleiben möge.“
    Christoph Butterwegge
    Der emeritierte Politikprofessor unterstützt die Linkspartei im Wahlkampf. „Die Parteien haben alle keine Antwort, wie sie der wachsenden sozialen Ungleichheit in Deutschland begegnen wollen – außer der Linken“, sagt der Armutsforscher, der im Februar bei der Bundespräsidentenwahl als parteiloser Kandidat der Linken antrat. Die zunehmende Ungerechtigkeit sieht Christoph Butterwegge auch als Grund für den Aufstieg der Rechtspopulisten in Deutschland und gibt der SPD eine Mitschuld: „Die AfD ist ein verspätetes Kind der Agenda 2010.“
    Hans-Hermann Gockel
    „Diese Nation wird gegen die Wand gefahren. Wir haben eine Erosion der Sicherheit und des Rechts“, warnt der langjährige Nachrichtenmoderator (Sat1, N 24), der die AfD unterstützt. Schuld daran sei vor allem die Flüchtlings- und Eurorettungspolitik der Bundeskanzlerin. „Merkels Ego-Trip ist brandgefährlich. Sie hat das Land emotional vergiftet“, sagt der Journalist. Er wirft allen etablierten Parteien ein „unglaubliches Maß an Arroganz und Selbstgefälligkeit“ vor. Die einzige Partei, die die Ängste der Bevölkerung ernst nehme, sei die AfD. „Sie ist der Anwalt der Bürger“, sagt Hans-Hermann Gockel und hofft, dass „die Etablierten bei der Bundestagswahl ihr blaues Wunder erleben“.
    Tayfun Bademsoy
    Der deutsch-türkische Schauspieler sieht den bevorstehenden Einzug der AfD in den Bundestag mit Schrecken: „Diese Partei ist unwählbar. Einige sind stolz auf Wehrmachtssoldaten und richtige Nazis.“ Tayfun Bademsoy, der 1969 als Elfjähriger nach Deutschland kam, ist seit langem grüner Stammwähler: „Schon wegen des Umweltbewusstseins kann ich als Vater von zwei Kindern nur die Grünen unterstützen. Sie haben immer sehr viel bewegt, auch wenn die anderen Parteien das nicht zugeben möchten.“ Von einer Jamaika-Koalition mit CDU und FDP rät der Berliner den Bündnisgrünen dringend ab: „Die können da unmöglich ihre Positionen durchsetzen.“ (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereMi 20.09.2017Das Erste
  • Folge 533
    Die Bundestagswahl markiert in den Augen von Kommentatoren eine „Zeitenwende“ für Deutschland. Die Volksparteien der Großen Koalition wurden brutal abgestraft, verloren Millionen von Wählern – viele davon an die AfD, die sich als drittstärkste Kraft im Parlament „das Land zurückholen will“ (AfD-Spitzenkandidat Gauland). Die SPD unter Martin Schulz zieht die Konsequenz und geht in die Opposition. Und Angela Merkels CDU? Macht erst einmal weiter wie bisher – trotz des schlechtesten Unions-Ergebnisses seit 1949. Ignoriert die Kanzlerin den schweren Absturz ihrer Partei? Würde eine Jamaika-Koalition die Demokratie stabilisieren oder die AfD weiter stärken?
    Die Gäste:
    Giovanni di Lorenzo („Zeit“-Chefredakteur)
    Klaus von Dohnanyi, SPD (ehemaliger Hamburger Bürgermeister)
    Frauke Petry, AfD (Parteivorsitzende)
    Markus Söder, CSU (Bayerischer Staatsminister der Finanzen)
    Gregor Gysi, Die Linke (ehemaliger Fraktionsvorsitzender)
    Bettina Gaus („taz“-Journalistin) (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereMi 27.09.2017Das Erste
  • Folge 534
    „Die Wahl hat die Deutschen daran erinnert, wie geteilt ihr Land noch immer ist“, analysiert die „Neue Zürcher Zeitung“. Über 25 Jahre nach der Wiedervereinigung sind in Ostdeutschland der linke und der rechte Rand des Parteienspektrums, also Linke und AfD, mit fast 40 Prozent annähernd so stark wie die sogenannte Mitte. Die Rechtspopulisten der AfD schockierten die etablierten Parteien allerdings auch im Westen der Republik mit deutlich zweistelligen Ergebnissen. Ist die wohlsortierte Berliner Republik von den politischen Rändern her bedroht? Verstehen Politiker allen Beteuerungen zum Trotz die Sorgen der Bürger nicht mehr? Und ist die Jamaika-Koalition dazu geeignet, die politische Uneinigkeit im Land zu überwinden?
    Die Gäste:
    Kerstin und Frank Hansen (Ehepaar)
    Ralf-Dieter Brunowksy (ehemaliger „Capital“-Chefredakteur)
    Boris Palmer, B’90/​Grüne (Tübinger Oberbürgermeister)
    Martin Patzelt, CDU (Bundestagsabgeordneter)
    Bettina Gaus („taz“-Journalistin)
    Kerstin und Frank Hansen
    Eine ungewöhnliche Ehe: Sie in der SPD, er in der AfD. Seit über zehn Jahren sind die Tierärztin Kerstin und der Marineoffizier Frank Hansen verheiratet. Beide sind im Kreisvorstand ihrer jeweiligen Partei. Beide werden dafür in ihrer schleswig-holsteinischen Heimat öffentlich angefeindet; die Scheiben des Autos wurden eingeschlagen, das Haus mit Farbbeuteln beworfen. Enttäuscht zeigte sich Kerstin Hansen, Mutter von drei Kindern, von ihrer eigenen Partei im Landkreis und trat als Pressesprecherin zurück: „Nach den Anschlägen erhielt ich von allen Parteien Anteilnahme, nur nicht von meiner eigenen. Hier hieß es nur, ich sei selber schuld und solle mich scheiden lassen.“
    Ralf-Dieter Brunowksy
    Der Journalist sieht am Tag der Einheit dieses Jahr kein Grund zum Feiern: „Selten ist Deutschland so wenig wiedervereinigt gewesen wie nach dieser Wahl“, glaubt Ralf-Dieter Brunowsky, Dass die Rechtspopulisten in den neuen Bundesländern solche Zustimmungswerte erhält, sei eine Zumutung für alle Demokraten. „Viel Geld ist von West nach Ost geflossen. Dankbarkeit muss man dafür nicht erwarten. Aber wenigstens Vernunft statt Anti-Merkel-Geschrei“, klagt der langjährige Chef des Wirtschaftsmagazins „Capital“ und ergänzt: „Man kann sich gar nicht sicher sein, ob der Osten die Einheit überhaupt noch gut findet.“
    Boris Palmer
    Im Wahlkampf hat der Grünen-Politiker wegen seines Kurses in der Flüchtlingspolitik heftige Kritik von Parteifreunden einstecken müssen. Jetzt sieht sich Boris Palmer durch den Erfolg seiner Partei in Tübingen und das schwache Ergebnis der AfD bestätigt. „Meine Politik ist das beste Rezept gegen die AfD“, sagt der langjährige Bürgermeister der Universitätsstadt. Boris Palmer rät davon ab, Missstände in der Migrationspolitik totzuschweigen. Er zeigt sich offen für eine Jamaika-Koalition: „Wir waren immer realpolitisch, wenn es um Regierungen geht.“
    Martin Patzelt
    Eigentlich wollte der CDU-Politiker aus Frankfurt (Oder) nicht erneut bei der Bundestagswahl kandidieren. Doch als er erfuhr, dass Alexander Gauland in seinem Wahlkreis antritt, wollte der 70-jährige ein Zeichen setzen und gewann mit deutlichem Abstand vor dem AfD-Spitzenkandidaten. „Wir sind nicht Dunkeldeutschland und wollen auch nicht so erscheinen“, betont Martin Patzelt. Dennoch gebe es nachvollziehbare Gründe für die Erfolge der AfD im Osten Deutschlands: „Wir haben gegenüber dem Westen einen Minderwertigkeitskomplex“, sagt der Bundestagsabgeordnete, der 2015 bundesweit Schlagzeilen machte, als er zwei Flüchtlinge aus Eritrea in seinem Privathaus aufnahm.
    Bettina Gaus
    „Es ist zutiefst deprimierend, dass eine völkische Partei mit weit über 12 Prozent im Bundestag vertreten ist“, sagt die politische Korrespondentin der „taz“. Dennoch sei diese Entwicklung noch kein Grund zur Panik. Zwar würden rechtspopulistische Ansichten bis weit in die Mitte der Gesellschaft geteilt, aber das bedeute nicht, dass die Bevölkerung insgesamt rechts stünde. Die Journalistin bezweifelt, dass eine Jamaika-Koalition etwas gegen die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich im Land tun würde: „Eine solche Regierung würde den Abschied von der sozialen Komponente in der Politik bedeuten.“ (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereMi 04.10.2017Das Erste
  • Folge 535
    Sintflutartige Regenfälle, die im Sommer ganze Städte lahmlegten, Herbststürme, die letzte Woche Tote forderten. Mit ungewohnter Wucht erleben wir in diesen Wochen Auswirkungen heftiger Wetterlagen auf unseren Alltag. Nehmen die Wetterextreme tatsächlich zu? Sind sie eine Folge des Klimawandels? Hat die Politik trotz aufwändiger Klimaabkommen versagt? Muss der Staat bei unserem Konsum radikaler eingreifen, beispielsweise SUVs und Flugreisen mit drastischen Steuererhöhungen belegen?
    Die Gäste:
    Jörg Kachelmann (Meteorologe)
    Dorothee Bär, CDU (Staatssekretärin)
    Bärbel Höhn, B’90/​Grüne (ehem. NRW-Umweltministerin)
    Hans Joachim Schellnhuber (Klimaforscher)
    Alex Reichmuth (Wissenschaftsjournalist)
    Jörg Kachelmann
    „Sturmtief Xavier war ein normaler Herbststurm. Den hätte es so auch schon vor vierhundert Jahren gegeben. Nur weil in ganz Norddeutschland keine Bahn fuhr, glauben die Menschen, es war etwas was ganz Wildes“, sagt der Schweizer Wetterexperte. Grundsätzlich könne man nicht sagen, dass die Wetterextreme zunähmen und mit dem Klimawandel zu tun hätten. Es sei allerdings wichtig, so der Meteorologe, mit endlichen Ressourcen schonender umzugehen, beispielsweise mehr Wind- und Solarenergie zu nutzen und Tempolimits einzuführen.
    Dorothee Bär
    Die CSU-Politikerin bekennt sich zu den europäischen Klimazielen, die Treibhausgas-Emissionen bis 2050 um mindestens 80 Prozent zu reduzieren. Allerdings betont sie, sollte das nicht zu Lasten der Bürger und der Wirtschaft gehen oder Arbeitsplätze gefährden. Außerdem müsse die deutsche Infrastruktur auf Extremwetterereignisse vorbereitet werden, betont die Staatssekretärin im Verkehrsministerium. Dieselfahrverbote schließt Dorothee Bär aus. „Wir brauchen für klimafreundliche Autos Anreize statt Verbote. Wir wollen den sauberen Diesel.“
    Bärbel Höhn
    Die Grünen-Politikerin glaubt, dass es Temperaturschwankungen und schwere Orkane zwar schon immer gegeben habe, aber nicht so viele Extreme in so kurzer Zeit. „Klimaexperten haben diese Extremwetter vorhergesagt. Wir dachten nur, es kommt später“, sagt Bärbel Höhn. Die scheidende Bundestagsabgeordnete attackiert die Bundesregierung für ihre Klimapolitik: „In den vergangenen acht Jahren hat Angela Merkels Regierung null erreicht, was Klimaschutz angeht.“ In einer möglichen Jamaika-Koalition müsse ein schneller Ausstieg aus der Kohleenergie vereinbart werden, fordert die ehemalige Ministerin für Umwelt in Nordrhein-Westfalen.
    Hans Joachim Schellnhuber
    Deutschlands prominentester Klimaforscher stellt fest: „Das Jahr 2017 zeigt uns auf bitterste Weise, warum die Wissenschaft seit Jahrzehnten vor dem Klima-Chaos warnt. Die Elemente Feuer, Wasser und Luft wenden sich nun gegen uns, weil wir den Planeten aus dem Gleichgewicht bringen.“ Wenn der Klimawandel nicht gebremst würde, so der Direktor des Instituts für Klimafolgenforschung, gäbe es irgendwann Bedingungen, die sogar Hurrikans in Europa möglich machen könnten. Außerdem stehe zu befürchten, „dass in den nächsten Jahrzehnten die Sahara nach Europa vordringt“, prophezeit Prof. Hans Joachim Schellnhuber, der die Bundesregierung und den Papst in Klimafragen berät.
    Alex Reichmuth
    „Ich bin Klimaskeptiker“, sagt der Wissenschaftsredakteur der Schweizer „Weltwoche“. „Denn kaum ein Mensch weiß, was mit dem Klima geschieht.“ Der Mathematiker und Physiker hält den Einfluss des Menschen auf das Weltklima für alles andere als bewiesen. Dagegen warnt Alex Reichmuth vor den Folgen, die das Pariser Klimaabkommen haben könnte: „Die Umsetzung hätte katastrophale Folgen für die Menschheit. Hunger und der Zusammenbruch der Energieversorgung wären die Konsequenz.“ Von fossilen Brennstoffen könnte die Menschheit noch Jahrhunderte abhängig sein. „Zugrunde gehen werden wir daran nicht“, glaubt der Journalist. (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereMi 11.10.2017Das Erste
  • Folge 536
    An der Migration könnte sich die Bildung einer schwarz-gelb-grünen Bundesregierung entscheiden. Kommt es unter „Jamaika“ zur historischen Zäsur und erklärt die Politik Deutschland zum Einwanderungsland? Oder wird eher die umstrittene, von der CSU lange geforderte „Obergrenze“ durch die Hintertür eingeführt? Kommen mit einem Einwanderungsgesetz endlich klare Regeln für die Migration? Spielen auch Integrationschancen eine Rolle? Kommen dann mehr Zuwanderer, vor allem mehr qualifizierte Zuwanderer, die der deutschen Wirtschaft helfen?
    Gäste:
    Wolfgang Bosbach, CDU (Innenexperte)
    Volker Beck, B’90/​Grüne (Bundestagsabgeordneter)
    Marie-Agnes Strack-Zimmermann, FDP (stellvertretende Parteivorsitzende)
    Sevim Dagdelen, Die Linke (Bundestagsabgeordnete)
    Ruud Koopmans (Migrationsforscher)
    Wolfgang Bosbach
    Der scheidende Bundestagsabgeordnete hält ein Einwanderungsgesetz für überflüssig. „Schon jetzt haben wir ausreichende Regelungen zur Zuwanderung auf den deutschen Arbeitsmarkt“, sagt der langjährige CDU-Innenexperte. Außerdem hätte Deutschland bereits die zweithöchste Zuwanderung auf der Welt nach den USA. Deswegen begrüße er die Einigung von CDU und CSU, die Zahl der Flüchtlinge auf 200.000 pro Jahr zu begrenzen, erklärt Wolfgang Bosbach. „Die Union stellt damit die Weichen, dass wir die Aufnahme- und Integrationskraft unseres Landes nicht überfordern.“
    Volker Beck
    Der Grünen-Politiker fragt sich, wie der Unions-Kompromiss zur Begrenzung der Zuwanderung umgesetzt werden soll. Ein Einwanderungsgesetz könne nicht gegen Flüchtlingsrechte verhandelt werden. „Bei Flüchtlingsrechten geht es darum, dass wir Menschen vor Verfolgung schützen, vor Gefahren für Leib, Leben und Freiheit. Und bei Einwanderungsregelungen geht es um unsere Interessen“, sagt Volker Beck. Hier müsse geklärt werden, „nach welchen Regeln wir es organisieren, dass diejenigen, die wir brauchen, es auch attraktiv finden, nach Deutschland zu kommen, und dass dann auch die Richtigen kommen.“
    Marie-Agnes Strack-Zimmermann
    Die FDP-Politikerin fordert ein Einwanderungsgesetz nach kanadischem Vorbild, in dem nach einem Punktesystem entschieden wird, wer ins Land kommt. „Auch Flüchtlinge können sich natürlich bewerben, sofern sie die Sprache gelernt haben und bereit sind, sich zu integrieren.“ Deutschland gehe es gut, aber wir brauchen Fachkräfte im Handwerk, in der Pflege, in den Kliniken, wenn wir den Wohlstand aufrechterhalten wollen, glaubt die stellvertretende FDP-Parteivorsitzende. Die ehemalige Bürgermeisterin von Düsseldorf befürwortet den Familiennachzug für Flüchtlinge. „Wenn sie in einer Familie leben, in einem geordneten Umfeld, ist die Integration natürlich viel einfacher“, sagt Marie-Agnes Strack-Zimmermann.
    Sevim Dagdelen
    Die migrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion lehnt ein Einwanderungsgesetz ab: „Ein solches Auslesesystem ist neoliberal und im Kern rassistisch.“ Deutschland brauche kein Gesetz, so die Linken-Politikerin, das letztlich auf Lohndumping abziele. „Die Wirtschaft muss in die hiesige Ausbildung investieren statt Fachkräfte aus ärmeren Ländern abzuwerben“, sagt Sevim Dagdelen. Zudem sei ein Punktesystem nach kanadischem Vorbild selektiv und diskriminierend. „Die Linke steht dagegen für Menschlichkeit und eine offene Einwanderungsgesellschaft“, erklärt die Politikerin.
    Ruud Koopmans
    „Nicht jede Art von Zuwanderung nutzt dem Land. Manche Art von Zuwanderung verschärft sogar die Probleme des Sozialstaats“, sagt der niederländische Sozialwissenschaftler. Nur wenn sich ein Migrant in den Arbeitsmarkt integriere, profitiere die Gesellschaft. Deshalb, so Ruud Koopmans, sei es richtig, dass nur die gut Integrierten hierbleiben dürfen. Koopmans glaubt, dass Assimilation für die Integration hilfreich sei. Nicht nur mit dieser These polarisiert der Migrationsforscher in Fachkreisen. Dass ein Familiennachzug die Integration der Flüchtlinge erleichtere, sei nicht unbedingt so, glaubt der Professor der Berliner Humboldt-Universität. Er meint: „Die ersten Gastarbeiter fanden vor 50 Jahren Anschluss an die hiesige Bevölkerung. Als dann die Familien nachzogen und sich Gemeinschaften bildeten, wurden aus den modernen Männern plötzlich konservative Familienväter.“ (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereMi 18.10.2017Das Erste
  • Folge 537
    Gäste: Hannes Jaenicke (Schauspieler), Marlene Lufen (Fernsehmoderatorin), Anja Keinath (ehem. Frauenbeauftragte), Gisela Friedrichsen (Gerichtsreporterin), Teresa Bücker (Netzaktivistin und Feministin)
    Im Fernsehfilm „Meine fremde Freundin“(NDR) kommt ein Mann wegen des erfundenen Vergewaltigungsvorwurfs einer Kollegin zu Unrecht ins Gefängnis. Wie kann es in der Realität zu solchen Fehlurteilen kommen? Warum tun sich Gerichte bei Fällen sexueller Gewalt häufig schwer mit der Wahrheitsfindung? Aktuell haben die Enthüllungen über Harvey Weinstein weltweit eine Sexismusdebatte ausgelöst, die weit über die Ermittlungen gegen den Hollywood-Produzenten wegen Vergewaltigung hinausgeht. Wann beginnt Sexismus – tatsächlich erst, wenn eine Handlung strafbar ist? Ist es von sexueller Belästigung nicht weit zu sexueller Gewalt? (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereMi 08.11.2017Das Erste
  • Folge 538
    Internationale Konzerne wie Nike & Co. machen mitten in Europa Millionengewinne, zahlen aber keine Steuern. Deutsche Superreiche verlagern ihr Vermögen in Steueroasen oder vermeiden Steuerzahlungen hierzulande mit ganz legalen Tricks. Nicht nur die Enthüllungen der „Paradise Papers“ entfachen eine neue Gerechtigkeitsdebatte. Dass der Air-Berlin-Boss auch nach der Pleite sein Gehalt in Millionenhöhe ausgezahlt bekommt und die Angestellten leer ausgehen, erscheint vielen Menschen als höchst ungerecht. Handeln die Vermögenden unmoralisch und asozial? Wird eine neue Bundesregierung stärker gegen diese Auswüchse vorgehen? Oder kann die Politik gegen die Macht der Superreichen gar nichts ausrichten?
    Die Gäste:
    Janine Wissler, Die Linke (stellvertretende Bundesvorsitzende)
    Otto Fricke, FDP (Präsidiumsmitglied)
    Christoph Lütgert (Journalist)
    Anja Barbian (Stewardess)
    Josef Rick (Immobilienunternehmer)
    Rainer Zitelmann (Investor und Reichtumsforscher)
    Janine Wissler
    „Die Tatenlosigkeit der bisherigen Bundesregierung bei der Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung ist nichts anderes als Klientelpolitik für die reichsten und skrupellosesten Personen der Gesellschaft“, sagt die Fraktionsvorsitzende der Linken im hessischen Landtag. „Während Beschäftigte schon gefeuert werden können, wenn sie angeblich ihr Unternehmen um Centbeträge schädigen, werden Steuersünder, die den Staat um Millionen Euro prellen, von der Politik mit Samthandschuhen angefasst“, beklagt Janine Wissler. Die stellvertretende Linke-Chefin fordert die Bildung einer Bundesfinanzpolizei zur Kontrolle der Superreichen und die Wiedereinführung der Vermögenssteuer.
    Otto Fricke
    „Man kann nicht von Großbetrug sprechen, denn bis auf Einzelfälle wurden keine Gesetze verletzt“, sagt der FDP-Haushaltsexperte zu den Enthüllungen der Paradise Papers. Er kritisiert, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird: „Wir regen uns über die Unternehmen auf, aber nutzen Apple-Produkte und gehen bei Starbucks Kaffee trinken.“ Der Bundestagsabgeordnete fordert internationale Lösungen, zum Beispiel klare Regeln innerhalb der EU. Auch beim deutschen Steuersystem sieht Otto Fricke Verbesserungsbedarf: „Wir brauchen ein einfacheres Steuerrecht und eine Steuersenkung für alle durch eine Abschaffung des Solidaritätszuschlags.“
    Christoph Lütgert
    In der Aufsehen erregenden ARD-Reportage „Paradise Papers – Zocker, Trickser, Milliardäre“ enthüllte der Journalist als Teil des Rechercheverbundes von WDR, NDR und Süddeutsche Zeitung, wie Reiche weltweit völlig legal ihr Vermögen vor dem Finanzamt verstecken. Seit dem Zusammenbruch des Sozialismus zeige der Kapitalismus sein wahres Gesicht, glaubt der NDR-Reporter: „Wenn Interessen des Kapitalgebers wichtiger sind als Interessen der arbeitenden Menschen, denkt man nicht mehr an den Nächsten.“ Deshalb müsse die Politik dringend handeln, sagt Christoph Lütgert: „Wie soll man an das Gemeinwesen glauben, wenn man solche Auswüchse erlebt?“
    Anja Barbian
    Die Rheinländerin hat rund 30 Jahre lang als Flugbegleiterin gearbeitet. Nun steht sie nach der Insolvenz von Air Berlin vor dem Absturz in die Arbeitslosigkeit: „Ich werde vermutlich keinen Job an Bord eines Flugzeugs mehr bekommen.“ Die Enttäuschung der Belegschaft sei riesengroß, sagt die 51-Jährige. „Monatelang haben wir alles getan, sind Extra-Schichten geflogen, um den Flugplan aufrecht zu erhalten“, berichtet Anja Barbian. Sie könne zudem nicht verstehen, dass das hohe Gehalt des Air-Berlin-Chefs weiter gezahlt werde, während die Angestellten um die Existenz kämpften.
    Josef Rick
    Der Immobilienunternehmer prangert Steuerschlupflöcher für Vermögende an. Er nutzt selber legale Tricks beim Verkauf von Immobilien und muss so nur einen Bruchteil der eigentlichen Steuern bezahlen. Dabei wäre der mehrfache Millionär aus Nordrhein-Westfalen bereit, mehr Steuern zu zahlen, wenn das Steuersystem die Wohlhabenden stärker in die Pflicht nehmen würde. „Mit den Zusatzeinnahmen könnten gerade die Menschen mit geringeren Einkommen wie die Krankenschwester und der Polizist weitgehend ganz von der Einkommensteuer befreit werden“, sagt Josef Rick.
    Rainer Zitelmann
    Der Immobilieninvestor wehrt sich gegen den Vorwurf, die Vermögenden zahlten keine Steuern in Deutschland: „Das ist Quatsch. Mich ärgern die pauschalen Verurteilungen gegen die Reichen.“ Die Forderung, Reiche stärker zu besteuern, lehnt er entschieden ab. Seit Jahren beschäftigt sich der Publizist (Buch: „Psychologie der Superreichen“) intensiv mit Deutschlands Millionären, „einer Minderheit, die von der Politik gar nicht vertreten wird“. Rainer Zitelmann sagt: „Reiche sind moralisch nicht verwerflicher als Arme, die Steuern vermeiden wollen und ihre Putzfrau schwarz zahlen.“
    Deutsche TV-PremiereMi 15.11.2017Das Erste
  • Folge 539
    Die Gäste:
    Ursula von der Leyen, CDU (Bundesverteidigungsministerin)
    Wolfgang Kubicki (FDP)
    Anton Hofreiter, Bündnis 90/​Die Grünen (Fraktionsvorsitzender)
    Malu Dreyer, SPD (Ministerpräsidentin Rheinland-Pfalz)
    Tina Hassel (Leiterin ARD-Hauptstadtstudio)
    Nikolaus Blome (BILD-Chefredaktion)
    Nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche herrscht Chaos in Berlin. Wer wird Deutschland künftig regieren? Sandra Maischberger spricht u. a. mit Wolfgang Kubicki (FDP), Nikolaus Blome (BILD) und Tina Hassel (ARD-Hauptstadtstudio). (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereDi 21.11.2017Das Erste
  • Folge 540
    Ganz Deutschland ist erschüttert von dem brutalen Angriff auf Andreas Hollstein, den Bürgermeister von Altena. Der CDU-Politiker ist für sein Engagement für Flüchtlinge bekannt und beklagt nun „eine zunehmende Verrohung in der Gesellschaft“. Der Angriff auf den Politiker ist kein Einzelfall. Vor allem Lokalpolitiker werden regelmäßig tätlich angegriffen. Warum kommt es zu diesen Übergriffen? Gibt es einen Zusammenhang mit der liberalen Flüchtlingspolitik der vergangenen Jahre? Heizen Populisten die politische Stimmungslage im Land an?
    Die Gäste:
    Andreas Hollstein (Bürgermeister von Altena)
    Heiko Maas, SPD (Bundesjustizminister)
    Alice Weidel, AfD (Fraktionsvorsitzende)
    Christian Pfeiffer (Kriminologe)
    Jan Fleischhauer („Spiegel“-Autor) (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereMi 29.11.2017Das Erste
  • Folge 541
    Viele Bürger sind genervt: Die Wirtschaft boomt, Steuereinnahmen sprudeln – eigentlich beste Voraussetzungen Deutschland zu regieren. Aber was machen die führenden Politiker des Landes? Sie schlagen sich in die Büsche wie die FDP, verlieren sich in Machtkämpfen wie die CSU, verzetteln sich in endlosen Beratungen wie die SPD statt beherzt eine neue Regierung zu bilden. Sind die altgedienten Parteichefs Angela Merkel und Horst Seehofer sowie der schwächelnde SPD-Vorsitzende Martin Schulz wirklich die Richtigen, um eine zukunftsweisende Koalition zu formen? Bringt Schwarz-Rot politische Stabilität oder drohen jetzt vier Jahre inhaltlicher Stillstand? Werden sich Volksparteien und Wähler weiter voneinander entfremden?
    Die Gäste:
    Klaus Wowereit, SPD (ehemaliger Berliner Bürgermeister)
    Dorothee Bär, CSU
    Oskar Lafontaine, Die Linke (ehemaliger Bundesvorsitzender)
    Friedrich Küppersbusch (Journalist)
    Claus Strunz (Fernsehmoderator)
    Klaus Wowereit
    Bundeskanzlerin Angela Merkel will keine Minderheitsregierung, er dagegen eroberte mit einer solchen Konstellation das Rote Rathaus in Berlin. 2001 ließ sich Klaus Wowereit zum Regierenden Bürgermeister wählen und führte eine rot-grüne Minderheitsregierung, gestützt von der PDS. In seinen 13 Jahren als Regierungschef führte er sowohl eine rot-rote als auch eine Große Koalition. 2013 trat der legendäre Hauptstadt-Bürgermeister („Berlin ist arm aber sexy“) zurück.
    Dorothee Bär
    Viele Monate lang war die CDU im parteiinternen Machtkampf tief gespalten. Jetzt steht fest: Markus Söder soll Ministerpräsident in Bayern werden, Horst Seehofer Parteivorsitzender bleiben. Dorothee Bär begrüßt die Entscheidung: „Ich freue mich sehr, dass Markus Söder einstimmig für das Amt des Ministerpräsidenten nominiert wurde. Er wird ein guter Landesvater werden.“ Als CSU-Vorstandsmitglied sieht sie ihre Partei gut aufgestellt für die Landtagswahlen 2018 und die Koalitionsverhandlungen mit der SPD in Berlin. „Wir brauchen Erfahrung und Durchsetzungskraft bei der Regierungsbildung und Aufbruch und Erneuerung durch Markus Söder.“
    Oskar Lafontaine
    „Vier weitere Jahre unter Angela Merkel sind keine Lösung“, beklagt der Vorsitzende der Linksfraktion im Saarland und warnt die Sozialdemokraten: „Die SPD hat seit zwei Jahrzehnten den Stempel, dass sie vor den Wahlen sozial ist und nach den Wahlen nicht mehr.“ Diesen Eindruck könne sie nur mit glaubwürdigem Handeln wieder loswerden, sagt der ehemalige Linken-Chef. Achtzehn Jahre nach seinem Rücktritt als SPD-Vorsitzender zweifelt Oskar Lafontaine, ob dieser Schritt richtig war: „Ich stelle mir manchmal die Frage, ob ich innerhalb der SPD mehr hätte bewirken können.“
    Friedrich Küppersbusch
    „Die Wähler haben Merkel nicht ganz abgewählt“, analysiert der Fernsehproduzent und langjährige Moderator („ZAK“, ARD). Der Journalist befürchtet eine schnelle Einigung auf die Große Koalition, plädiert dagegen für ein neues demokratisches Experiment. „Der Bundespräsident betont, es gebe Höheres als Personen und Parteien. Bisher ist die Union nur zu einem Opfer bereit: Weiterregieren. Auch an Union und Merkel ist die Frage zu richten: Was opfert Ihr? Vielleicht den Glaubenssatz, dass es in der Bundesrepublik noch nie eine Minderheitsregierung gegeben hat“, sagt Friedrich Küppersbusch.
    Claus Strunz
    Der TV-Journalist plädiert für Neuwahlen. Die Große Koalition könne nicht der Ausweg sein, denn sie sei bei der Wahl krachend abgewählt worden. Dass Angela Merkel nach dem Scheitern von Jamaika weiter Kanzlerin bleiben will, hält Claus Strunz für grundfalsch: „Am Tiefpunkt ihrer Macht, inmitten einer Krise, die sie selbst verursacht hat, schaltet die Regierungschefin auf stur.“ Merkel habe keine Kraft, eine Koalition zu schmieden, und gar keine Vision, sagt der Fernsehmoderator („Akte 20.17“) und fühlt sich an Helmut Kohl erinnert, „der 1994 vier weitere Jahre anhängte, obwohl eigentlich schon Schluss war“. (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereMi 06.12.2017Das Erste
  • Folge 542
    Anfang des Jahres fürchteten viele politische Beobachter ein schwarzes Jahr: Nichts weniger als „Das Ende der Welt“ erwartete der „Spiegel“ mit dem Antritt des neuen US-Präsidenten. Die EU schien vor dem Zerfall zu stehen, drohten doch Wahlerfolge von Le Pen und Wilders. Am Jahresende ist der Weltuntergang ausgeblieben. Waren die Sorgen unbegründet? Wie fällt die politische Bilanz aus: Ist Trump trotz seiner Drohungen wie gegen Nordkorea doch keine Gefahr für die Welt? Sind die Populisten trotz der Wahlerfolge der AfD wirklich auf dem Rückzug? Und haben die Volksparteien ausgedient, auch wenn Union und SPD wieder eine Regierung bilden könnten?
    Die Gäste:
    Peter Hahne (Fernsehmoderator und Autor)
    Olivia Jones (Entertainerin)
    Günter Wallraff (Reporter)
    Sophia Thomalla (Schauspielerin)
    Astrid Frohloff (ARD-Fernsehjournalistin)
    Markus Feldenkirchen („Spiegel“-Autor)
    Peter Hahne
    Der langjährige ZDF-Moderator geht mit der deutschen Politik hart ins Gericht und zieht für 2017 eine negative Bilanz. „Die Politiker der Volksparteien haben am Volk vorbeiregiert. Die Wähler fühlen sich zu Recht vernachlässigt“, sagt der Bestsellerautor mit Blick auf den Erfolg der AfD. So lange gerade die Union nicht auf die wahren Sorgen der Bürger reagiere, werde die AfD weiter zulegen. Außerdem glaubt Peter Hahne, dass US-Präsident Donald Trump auf dem Weg in eine zweite Amtszeit ist: „Den US-Präsidenten wählt nicht das deutsche Feuilleton, sondern das amerikanische Volk.“
    Olivia Jones
    „Die Ehe für alle ist für mich das Ereignis des Jahres“, sagt Olivia Jones. „Sie war längst überfällig.“ Deutschlands bekannteste Dragqueen ist überzeugt davon, dass noch lange nicht alles erreicht ist. „Es gibt weiterhin Ausgrenzung und Gewalt gegen Schwule und Lesben“, kritisiert die Hamburgerin, die als grüne Delegierte bei der Präsidentenwahl für Frank-Walter Steinmeier stimmte. In vielen Teilen der Gesellschaft sei Toleranz noch nicht angekommen. Sorgen macht sich Olivia Jones vor allem wegen der AfD, die 2017 in den Bundestag eingezogen ist: „Ich habe Angst vor der AfD, weil sie Hass sät. Das formt eine Gesellschaft und enthemmt sie.“
    Günter Wallraff
    Für den bekanntesten Enthüllungsjournalisten Deutschlands spitzten sich die Konflikte 2017 im In- und Ausland bedenklich zu. Den Aufstieg der AfD in den Bundestag hält er für brandgefährlich: „Die anderen Parteien müssen sich wehrhaft mit ihr auseinandersetzen.“ Vor allem die SPD benötige neue Antworten. In der Türkei engagiert sich der Erdogankritiker Günter Wallraff für die inhaftierte deutsche Journalistin Mesale Tolu und fliegt nächste Woche zum Prozess nach Istanbul – „auch wenn ich mich damit selbst in Gefahr bringe“, erklärt der 75-Jährige.
    Sophia Thomalla
    Angela Merkels schillerndste Unterstützerin machte Wahlkampf für die Bundeskanzlerin, die sie als bodenständige Politikerin schätzt. „Weil wir eine Frau an der Spitze der Politik haben, brauchen wir keine Frauenquote“, glaubt die Schauspielerin. Sie kritisiert die #metoo-Kampagne in den sozialen Medien, bei der seit Oktober Frauen und Männer Sexismus und sexuelle Gewalt anprangern. Sophia Thomalla findet die Debatte übertrieben, weil sie Frauen zu Opfern mache. „Wer als Frau ständig gegen Sexismus wettert, hat offenbar noch nie ein Kompliment bekommen“, meint die 28-Jährige, die sich als Feministin bezeichnet.
    Astrid Frohloff
    „Das war ein sehr turbulentes Jahr“, sagt die Moderatorin des ARD-Politmagazins „Kontraste“, die in ihrer Sendung von allen innenpolitischen Top-Ereignissen des Jahres berichtet hat. Als ehemalige Korrespondentin in Jerusalem beobachtet sie besonders die Entwicklung im Nahen Osten mit Sorge. Insbesondere die Rolle der Präsidenten Trump und Erdogan verfolgt Astrid Frohloff kritisch.
    Markus Feldenkirchen
    Mit der „Schulz-Story“ gelang ihm die politische Reportage des Jahres. Dafür begleitete Markus Feldenkirchen den SPD-Kanzlerkandidaten im Wahlkampf und beobachtete Höhenflug und Absturz des Politikers. Der Journalist sagt: „Der Schulz-Hype war real, weil viele Bürger Sehnsucht nach einer Alternative zu Angela Merkel hatten.“ Aber im Wahlkampf 2017 habe sich gezeigt, dass die sozialdemokratische Idee offenbar ausgedient hat, glaubt der „Spiegel“-Autor. Dennoch wünscht er sich „eine selbstbewusste und ehrgeizige SPD“ in einer Großen Koalition. (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereMi 13.12.2017Das Erste
  • Folge 543
    Die Gäste:
    Sebastian Kurz (österreichischer Bundeskanzler)
    Jürgen Trittin, B’90/​Grüne (ehem. Bundesminister).
    Am 18. Dezember 2017 krönte Sebastian Kurz seine erstaunlich rasante Karriere. Mit 31 Jahren wurde er zum österreichischen Bundeskanzler vereidigt und ist damit der jüngste Regierungschef der Welt. Doch seine Amtsübernahme wird von heftigen Protesten begleitet, denn der konservative ÖVP-Politiker regiert mit den Rechtspopulisten von der FPÖ. Wird er seinen harten Kurs in der Flüchtlingspolitik auch in Europa durchsetzen? Wie will er die Rechtsnationalisten in seinem Kabinett bändigen? Für welche Politik steht der Shooting-Star selber? In seinem ersten deutschen Fernsehinterview seit seinem Amtsantritt stellt sich Sebastian Kurz den Fragen von Sandra Maischberger. Außerdem zu Gast der ehemalige Bundesminister Jürgen Trittin, B’90/​Grüne, Kritiker der österreichischen Flüchtlingspolitik. (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereMi 17.01.2018Das Erste
  • Folge 544
    Die Zahl der Obdachlosen in Deutschland nimmt dramatisch zu. Aktuelle Schätzungen gehen von rund 860.000 Menschen aus, die in diesem Winter keine Wohnung haben. Grund dafür sind unter anderem die ständig steigenden Mieten und die fehlenden Sozialwohnungen. Zudem verschärft eine große Zahl an Armutseinwanderern aus Osteuropa das Problem. Die Notunterkünfte sind überfüllt. Sollten die Städte zugewanderte Obdachlose wieder zurückschicken, auch wenn sie EU-Bürger sind? Warum landen Menschen überhaupt auf der Straße? Tut der Staat zu wenig? Oder wollen manche Betroffene kein geregeltes Leben führen?
    Gäste:
    Klaus Seilwinder (lebte acht Jahre lang auf der Straße)
    Judith Rakers („Tagesschau“-Sprecherin)
    Jaqueline Kessler (ehemalige Obdachlose)
    Dorothea Siems (Journalistin)
    Christoph Butterwegge (Armutsforscher)
    Klaus Seilwinder
    „Obdachlos geworden bin ich aus eigener Dummheit. Ich bin vor Problemen immer weggelaufen“, sagt Klaus Seilwinder. Nachdem er sich mit seinem Arbeitgeber zerstritten hatte, strandete der damals 46-Jährige auf der Straße und finanzierte sein Leben als Flaschensammler. Nach acht Jahren Obdachlosigkeit hielt es der gelernte Chemiefacharbeiter nicht mehr aus: „Der Winter war kalt, und ein Kumpel nahm mich mit in seine Wohnung, zwang mich in ein normales Leben.“ Heute ist Klaus Seilwinder Stadtführer für „Querstadtein – Berlin anders sehen“ und erklärt auf seinen Touren, wie er auf der Straße überlebt hat.
    Judith Rakers
    Betteln in der Fußgängerzone, Essen im Armenhaus, Übernachten unter der Brücke: Judith Rakers kennt die Nöte von Obdachlosen. Für die ARD-Dokumentation „Schicksal obdachlos“ machte die Journalistin einen Selbstversuch und verbrachte 30 Stunden auf der Straße. Das Betteln sei „würdelos und eine extreme Überwindung“ gewesen, erinnert sich Judith Rakers. Geschockt war die NDR-Moderatorin aber vor allem von der Reaktion der Menschen: „Die Leute gingen weiter, als ob ich gar nicht da wäre.“ Die „Tagesschau“-Sprecherin engagiert sich seit langem besonders für obdachlose Frauen.
    Jaqueline Kessler
    Wegen des schwierigen Verhältnisses zu ihrem Stiefvater landete die damals 17-Jährige in einem Kinderheim, aus dem sie nach wenigen Wochen weglief. Drei Jahre lang lebte die Ausreißerin auf der Straße, in einer Gartenlaube und in Notunterkünften. „Am Anfang schämt man sich, weil man dreckig rumläuft. Später nimmt man das nicht mehr wahr“, berichtet Jaqueline Kessler. Vergangenes Jahr kam die mittlerweile 26-Jährige über die Mainzer Wohnungslosenhilfe zur Initiative „Hundetraum“ und führt seitdem Hunde aus. „Die Zuneigung und das Vertrauen der Hunde bauen mich auf, so traue ich mir selbst wieder mehr zu.“, sagt die ehemalige Obdachlose, die seit kurzem wieder in einer eigenen Wohnung lebt.
    Dorothea Siems
    Für die Wirtschaftsredakteurin der „Welt“ ist Obdachlosigkeit kein strukturelles Problem: „Wir haben in Deutschland ein soziales Netz, das einen vor extremer Armut bewahrt. Hartz IV deckt die gesamten Wohnkosten, und der Mieterschutz ist sehr stark.“ Mehr Sozialwohnungen seien nicht die Lösung, glaubt die Journalistin. Das Problem sei vielmehr, dass einige Menschen nach Schicksalsschlägen die ihnen zustehenden Hilfen nicht annehmen. Als Ursache für die zunehmende Obdachlosenzahl macht Dorothea Siems Armutsmigration aus und fordert: „EU-Bürger, die hier nicht arbeiten, haben keinen Anspruch auf Sozialhilfe und kein Aufenthaltsrecht und müssen zurückgeführt werden.“
    Christoph Butterwegge
    „Die steigenden Mieten können sich viele nicht mehr leisten. Wenn dann noch ein persönliches Schicksal hinzukommt, führt das viele in die Obdachlosigkeit“, warnt der Politikwissenschaftler, der bei der Bundespräsidentenwahl vor einem Jahr als Kandidat für die Linke antrat. Deutschlands bekanntester Armutsforscher wirft der Politik Versagen beim sozialen Wohnungsbau vor. Außerdem unternehme die Regierung nichts gegen die stetig wachsende Zahl an Niedriglohnjobs, die zu Armut und Obdachlosigkeit führten. Christoph Butterwegge fordert deshalb, leerstehenden Wohnraum zu beschlagnahmen und den Mindestlohn deutlich zu erhöhen. (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereMi 24.01.2018Das Erste
  • Folge 545
    Schon seit vier Monaten wartet Deutschland auf eine neue Regierung. Jetzt soll alles ganz schnell gehen mit der großen Koalition. Bis nächste Woche wollen Union und SPD ihre Verhandlungen abgeschlossen haben. Die Bundeskanzlerin verspricht schon „einen Aufbruch für Deutschland“. Doch können Merkel, Seehofer und Schulz eine neue Vision für das Land entwickeln? Stehen die bisher vereinbarten Inhalte nicht eher für ein „Weiter so“ mit faulen Kompromissen, die am Ende nur die AfD stärken? Und was passiert, wenn die drei Parteien am Ende doch nicht zusammenfinden?
    Die Gäste:
    Ralf Stegner, SPD (stellvertretender Parteivorsitzender)
    Alexander Gauland, AfD (Partei- und Fraktionsvorsitzender)
    Sahra Wagenknecht, Die Linke (Fraktionsvorsitzende)
    Christoph Schwennicke (Chefredakteur „Cicero“)
    Ralf Stegner
    „Die Koalitionsverhandlungen gestalten sich mehr als mühselig“, beklagt der SPD-Parteichef von Schleswig-Holstein. Die Union werde sich schon noch bewegen müssen, „wenn am Ende unsere Mitglieder zustimmen sollen“, droht der stellvertretende Parteivorsitzende. Konkret fordert er Nachbesserungen bei befristeten Arbeitsverträgen und beim Thema Zwei-Klassen-Medizin. Auch wenn er einer GroKo weiter skeptisch gegenüber stünde, sieht Ralf Stegner seine Sozialdemokraten in der Pflicht: „Denn ohne die SPD läuft in Deutschland nach wie vor nichts.“
    Alexander Gauland
    Der AfD-Chef wirft den etablierten Parteien vor, seine Partei im Bundestag auszugrenzen. Nach der Ablehnung des AfD-Kandidaten für das Geheimdienstkontrollgremium im Parlament kündigte der Fraktionsvorsitzende an: „Wenn man Krieg in diesem Bundestag haben will, dann kann man auch Krieg haben.“ Seine Fraktion habe jetzt schon aus der Opposition heraus viel Einfluss, glaubt Alexander Gauland: „Wir zwingen andere Parteien zum Teil zu Kurskorrekturen und dazu, dass sie ihre Entscheidungen stärker erklären müssen.“
    Sahra Wagenknecht
    Die Fraktionschefin der Linkspartei löste mit ihrer Idee einer linken Volkspartei eine breite Debatte aus. Sie forderte auch SPD-Mitglieder zum Mitmachen auf, denn die Linke sei derzeit nicht stark und einflussreich genug, um alleine die „Wiederherstellung des Sozialstaats“ zu gewährleisten. Sahra Wagenknecht beklagt eine „Krise der Demokratie, weil viele von der Politik gar nichts mehr erwarten“. Manche machten deshalb aus Wut ihr Kreuz bei der AfD.
    Christoph Schwennicke
    „Politische Stabilität war einmal das Markenzeichen der Bundesrepublik“, aber Deutschland scheint unregierbar geworden zu sein, kritisiert der Journalist. Die führenden Akteure Merkel, Seehofer und Schulz wirkten „matt, verbraucht und lahm“ und würden nur noch versuchen, sich in letzte Ämter zu retten, so der Chefredakteur der Zeitschrift „Cicero“. Scheitern die Koalitionsverhandlungen, sei dies der Anfang vom Ende der Ära Merkel, ist Christoph Schwennicke überzeugt: „Bis auf die Grünen möchte keine Partei mehr mit ihr regieren, zu weiten Teilen nicht einmal mehr ihre eigene, die CDU.“ (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereMi 31.01.2018Das Erste
  • Folge 546
    Die Gäste:
    Stephan Weil, SPD (Ministerpräsident Niedersachsen)
    Serap Güler, CDU (Bundesvorstand)
    Rudolf Dreßler, SPD (ehem. Präsidiumsmitglied)
    Wolfgang Herles (Journalist) (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereMi 14.02.2018Das Erste

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