Wozu braucht der Mensch Erinnerungen, und warum gibt es kein Gedächtnis ohne Vergessen? Gert Scobel diskutiert mit seinen Gästen die neuesten Erkenntnisse der Gedächtnisforschung. Neurowissenschaftlern gelingt es neuerdings, Gedächtnisinhalte mit Medikamenten und Substanzen zu manipulieren: Sie können traumatische Erinnerungen pharmakologisch abmildern oder Gedächtnisinhalte gar verändern und löschen. Ist das Vergessene dann für immer verloren? Dass Erinnerungen häufig unzuverlässig und manipulierbar sind, haben amerikanische Psychologen bereits in den 1980er-Jahren entdeckt. In Experimenten konnten Probanden dazu gebracht werden, sich Erinnerungen zu eigen zu machen, die es nie gab. Diese Erkenntnis spielt zum Beispiel eine zentrale Rolle in der Bewertung von Zeugenaussagen bei Gerichtsprozessen.Das Gedächtnis lebt vom Erinnern und Vergessen. Es ist dynamisch und
plastisch, es erneuert sich, passt sich an und schreibt sich um – ein Leben lang. Und es ist das Fundament unserer Persönlichkeit und Identität. Das wird besonders deutlich sichtbar, wenn das Vergessen zur Krankheit wird, bei Leiden wie Alzheimer oder Demenz, und wenn sich menschliches Lernen, Erinnern und Vergessen durch die Entwicklung neuer Technologien weiter-, oder wie manche befürchten, zurückentwickeln – Stichwort „digitale Demenz“.Der Prozess des Vergessens gibt der Forschung immer noch Rätsel auf. Oft wird Vergessen als Fehlfunktion wahrgenommen, aber Neurobiologen verstehen das Vergessen als Prozess, ohne den abstraktes Denken nicht möglich wäre. Für Philosophinnen wie Christine Abbt ist das Vergessen ein „Denkerlebnis“, das „Fremdwerden des Selbstverständlichen“, ein faszinierendes und rätselhaftes Phänomen, das das kritische Denken anstoßen kann. (Text: 3sat)