„The Billion Dollar Code“: „David gegen Google“ in deutscher Netflix-Miniserie – Review

Wahre Geschichte aus der Pionierzeit des Internets stellt spannende Fragen

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 07.10.2021, 06:00 Uhr

Leonard Scheicher als Carsten und Marius Ahrendt als Juri in „The Billion Dollar Code“ – Bild: Netflix
Leonard Scheicher als Carsten und Marius Ahrendt als Juri in „The Billion Dollar Code“

Haben Sie schon einmal von Terra Vision gehört? Wahrscheinlich nicht, dabei ist es sehr wahrscheinlich, dass sie schon eine App benutzt haben, die auf dessen Algorithmus basiert: Google Earth. Terra Vision wurde allerdings schon gut zehn Jahre früher entwickelt – und zwar von zwei Deutschen und ihrem Start-Up ART+COM. Die vergessene Geschichte dieser Internetpioniere erzählt die Netflix-Miniserie „The Billion Dollar Code“ als klassisches David-gegen-Goliath-Drama.

Dabei werden drei der vier Folgen parallel auf zwei Zeitebenen erzählt: In der Gegenwartshandlung bereiten sich Carsten Schlüter (Mark Waschke, „Dark“) und sein ehemaliger Geschäftspartner Juri Müller (Mišel Matičević, „Im Angesicht des Verbrechens“) – getrennt – mit ihren Anwälten (Lavinia Wilson, Seumas Sargent) auf einen Gerichtsprozess gegen den Internetgiganten Google vor, den sie beschuldigen, ihr Programm gestohlen und daraus Google Earth gemacht zu haben. Durch ihre Aussagen wird die Vergangenheit zum Leben erweckt, das West-Berlin der Nachwendezeit.

Hier lernen sich der Kunststudent Carsten (jetzt Leonard Scheicher) und der talentierte junge Programmierer Juri (jetzt Marius Ahrendt) kennen und entdecken auf Anhieb viele Gemeinsamkeiten. Beide haben die frühen Cyberspace-Romane verschlungen, erkennen die revolutionären Möglichkeiten des Internets und träumen von einer Welt, die durch digitale Vernetzung freier und gerechter werden könnte. Dazu wollen sie mit einem Programm beitragen, das den Zugriff auf sämtliche Satellitenbilder der Welt und damit ein virtuelles Reisen an jeden Ort der Erde ermöglichen soll: Terra Vision. Mit einem Team aus Hackern und Kunststudenten machen sie sich an das fast unmögliche Unterfangen, dieses Projekt innerhalb eines Jahres fertigzustellen, als von der Deutschen Telekom bezahltes Kunstprojekt.

Ungleiche Freunde, aber doch seelenverwandt: Carsten und Juri in jungen Jahren Netflix

Showrunner Oliver Ziegenbalg und Regisseur Robert Thalheim, die auch die Drehbücher geschrieben haben, zeigen diese Phase des Aufbruchs und der Entwicklung in einer Mischung aus dem deutschen Kultfilm „23 – Nichts ist so wie es scheint“ und der AMC-Serie „Halt and Catch Fire“ und lassen dabei leider kein Klischee aus: junge Nerds im Programmierrausch, denen Legalität nicht ganz so wichtig ist wie Freiheit und Demokratisierung, und die sich hauptsächlich von Dönern ernähren. Witzig ist der Kontrast zur Telekom, dem (noch jungen) Staatskonzern, dessen Vertreter nur im Klein-Klein denken und „belastbare“ Studien darüber haben, dass sich dieses Internet nie über den universitären Bereich hinaus durchsetzen wird. Wer die späten 1980er und 1990er Jahre selbst bewusst miterlebt hat, wird einiges aus der Geschichte der deutschen Digitalisierung wiedererkennen, vom Bildschirmtext bis zu Boris Becker, der auch schon „drin“ war.

Doch die wahren Probleme für die Protagonisten fangen erst an, nachdem sie ihr fertiges Programm präsentiert haben. Bei einer Reise ins Sillicon Valley freundet sich der leicht verschrobene Juri mit seinem Idol Brian Anderson (Lukas Loughran) an, einem Starprogrammierer und IT-Unternehmer. Der vermittelt den Berlinern auch einen Kontakt zu Google. Doch die Zusammenarbeit platzt und der Großkonzern lässt sich von Anderson eine Anwendung entwickeln, die Terra Vision verdächtig ähnelt …

Die erste Präsentation von Terra Vision wird zum Triumph.Netflix

Es braucht etwas, bis die neue deutsche Netflix-Miniserie rund läuft. Das zweifache Aufrollen der Vorgeschichte im Anwaltsbüro und in Rückblenden wirkt anfangs etwas bemüht, die doppelte Besetzung der beiden Hauptfiguren in verschiedenen Lebensaltern erschwert zunächst die Identifikation. Auch sind die Entwicklungen manchmal etwas zu geradlinig inszeniert, die Dialoge zu künstlich geraten. Das ändert sich aber mit fortschreitender Laufzeit, wenn aus der Coming-of-Age-Geschichte langsam ein Justizdrama wird, das vom Kampf um Gerechtigkeit zwischen zwei ungleichen Gegnern erzählt: den idealistischen, aber eben auch naiven wahren Pionieren und dem seelenlosen Megakonzern, der sich nur für seinen Profit interessiert. Es ist eine Geschichte, wie man sie aus praktisch jedem Film und jeder Serie von Aaron Sorkin kennt, natürlich auch aus „The Social Network“ über die Frage, wer nun eigentlich wirklich Facebook entwickelt hat.

Erst in der überlangen letzten Folge wird klar, wie relevant das Thema tatsächlich ist, geht es bei dem Prozess vor einem Gericht in den USA eben im Grunde nicht nur um Google Earth, sondern um eine allgemeine Taktik des Konzerns, Ideen von innovativen kleinen Start-Ups abzugreifen, ohne sie dafür zu bezahlen. Und dahinter steckt auch die Frage, was von dem großen Freiheits- und Emanzipationsversprechen der Internet-Frühphase geblieben ist und wie sich das Netz hätte entwickeln können, wenn es nicht unter die kapitalistischen Räder gekommen wäre.

Vor Gericht: Carsten (Mark Waschke, M.) und Juri (Mišel Matičević) kämpfen mit Anwältin Lea (Alvinia Wilson) um ihr Recht.Netflix

Es ist aber auch eine Geschichte von Freundschaft und Verrat, die Ziegenbalg und Thalheim erzählen, eine letztlich ganz menschliche Geschichte von zwei Jugendfreunden, die sich entfremden und wiederfinden. Inszeniert ist das recht unspektakulär, nur einmal nutzen die Macher das Reinzoom-Prinzip von Terra Vison selbst, um zu einem Handlungsort zu wechseln. Nach dem großen Erfolg der ersten deutschen Eigenproduktion „Dark“ hat Netflix mit dieser auf Tatsachen beruhenden Serie wieder ein Thema gefunden, das international anschlussfähig sein dürfte. Das Berliner Unternehmen ART+COM ist übrigens immer noch aktiv und konzentriert sich hauptsächlich wieder auf digitale Kunstprojekte.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der kompletten Miniserie.

Meine Wertung: 4/​5

Alle vier Episoden von „The Billion Dollar Code“ sind seit dem 7. Oktober bei Netflix verfügbar.

Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

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