„Where’s Wanda?“: Wenn die „Leichen im Keller“ zu Schlangen werden – Review
Erste deutsche Original-Serie auf Apple TV+
Rezension von R.L. Bonin – 01.10.2024, 17:30 Uhr
Wer wüsste nicht gerne, was die Nachbarn hinter verschlossenen Türen so treiben? Besonders, wenn sich ein 17-jähriges verschwundenes Mädchen dahinter verbergen könnte? Mit „Where’s Wanda?“ startet am 2. Oktober eine Dark-Comedy-Serie, die all diesen Fragen nachgeht. In der ersten deutschen Produktion für Apple TV+ spionieren Carlotta und Dedo Klatt die Bewohner:innen einer Kleinstadt aus, um ihre vermisste Tochter wiederzufinden.
In „Where’s Wanda?“ geht es um die Klatts. Die Klatts sind eine (scheinbar) ganz normale Familie, in einer (scheinbar) ganz normalen Kleinstadt namens Sundersheim (und ja, der Name ist wohl nicht ganz zufällig sonderbar). Bis eines Herbsttages die 17-jährige Tochter Wanda (Lea Drinda) mit rotem Umhang und roter Vespa spurlos verschwindet – wie vom Erdboden verschluckt. Für die Eltern, Carlotta (Heike Makatsch) und Dedo (Axel Stein), sowie den jüngeren Bruder Ole (Leo Simon), bricht eine Welt zusammen. Bis die Klatts die Suche nach ihrer Tochter in eigene Hände nehmen: Fest überzeugt, dass Wanda noch lebt und vor allem in Sundersheim festgehalten wird, beginnen sie, ihre kleine ach-so-normale Stadt auszuspionieren. Doch nicht jedes Geheimnis, das sie entdecken, will auch offenbart werden …
An sich ist die Handlung simpel, die Heldenfiguren sind klar – viel Überraschung oder Mystery verspricht die reine Inhaltsangabe nicht; bis eben auf ein paar „dreckige“ Geheimnisse. Doch der Schein trügt – und die Serie liefert unerwartete, kreative Kniffs. So auch direkt zu Beginn: Wider Erwarten startet die Serie nicht mit dem dramatischen Schicksalsschlag der Klatts, sondern 84 Tage später. Das Ehepaar Carlotta und Dedo agiert wie ein perfektes Team: In Overalls drehen sie einer Hochschwangeren ihren kostenlosen Service an, den Rauchmelder zu überprüfen. Dieser vermeintlich banale Coup dient jedoch nur dazu, eine Wanze im Inneren zu verstecken – kurz darauf erleuchtet das schwarz-weiße Bild in einem dunklen Kellerraum, überfüllt mit etlichen ähnlichen Screens.
Nichtsdestotrotz darf ein bisschen Kontext natürlich nicht fehlen. Diesen liefert niemand anderes als die Verschwundene selbst: Wanda führt im Off als Erzählerin mit zynischen Kommentaren und allerlei Klischee-Aussagen durch die Kleinstadt, stellt deren Eigenheiten wie eine mysteriöse Legende um den „Nuppelwocken“ und die damit verbundene Tradition (die „Nuppelwockennacht“, in der sie auch verschwindet) sowie zum Schluss ihre Familie vor. Dabei bricht Wanda auch mit der berühmten „Vierten Wand“ – wenn fiktionale Charaktere mit dem realen Publikum interagieren und sich somit die „unsichtbare“ Grenze auflöst. Das sorgt direkt für Nähe und schafft eine emotionale Bindung.
Typischer könnte der Tag ihres Verschwindens nicht ablaufen: Die Mutter bereitet das Frühstück vor, ärgert sich über den Vater, der Bruder kümmert sich um seinen eigenen Kram, die Tochter trägt ein viel zu knappes Outfit – ein Streit bricht aus. Natürlich stürmt Wanda wutentbrannt aus dem Haus, nur um nie wieder zurückzukehren. Es wirkt wie „tausendmal gesehen“, trotzdem bleibt die Spannung bestehen – denn dank des intriganten Teasers ist die Neugierde groß, wie aus den „Spießer-Eltern“ die „Möchtegern-Spione“ werden. So kündigt Wanda (als Erzählerin) selbst den entscheidenden Wendepunkt an – ein Fernsehauftritt ihrer Eltern.
Schon bis zu diesem Punkt erinnert „Where’s Wanda?“ (nicht nur aufgrund des Titels) mehr an eine US, statt „deutsche“ Serie, was durch die Inszenierung des Live-Interviews im Fernsehstudio nur verstärkt wird. Absolut ausbeuterisch wird Wandas Verschwinden zu Unterhaltungszwecken ausgeschlachtet – überraschend ähnlich zum Serienkonzept. Ob die Macher:innen den Zusehenden in gewisser Weise einen Spiegel vorhalten möchten? Auf jeden Fall verwischt erneut die Grenze zwischen Fiktion und Realität, wenn Heike Makatsch im Close-Up verzweifelt und nahezu angewidert die Sensationsgier des Publikums – im und vor dem TV – verurteilt.
Dabei ist es gar nicht ihr Wutausbruch, der den Ball ins Rollen bringt. Der Prozess ist schleichend, kleinteilig, emotional – diese Tiefe braucht es auch und wird auch erforscht. Carlotta und Dedo greifen nicht zu illegalen Mitteln aus Rache, Wut oder Verzweiflung, sondern aus Hoffnung. Ein neuer Hinweis lässt sie nämlich fest daran glauben, dass Wanda noch lebt und in Sundersheim ist. Angesichts der vom TV-Moderator genannten Statistik, dass nach 100 Tagen die Chance rapide sinkt, Vermisste lebend wiederzufinden, entsteht plötzlich ein zeitlicher Druck. Prompt brechen Carlotta und Dedo zum ersten Mal bei einem möglichen Verdächtigen ein – eine großartige Sequenz, in der Carlotta nicht (nur) als leidende „Mutter“-Figur porträtiert wird, sondern vor allem als starke, furchtlose Frau, die es sogar mit Schlangen im Keller aufnimmt, um ihre Tochter zu finden.
Wenn auch Carlotta und Dedo als einzigartige Charaktere herausstechen, ist der jüngere Bruder Ole nicht zu vernachlässigen. Schon in der ersten Folge sorgt eine kleine Szene für großen Effekt: Der gehörlose Jugendliche nimmt sein Hörgerät heraus. Der Kontrast zwischen dem chaotischen Gezanke seiner Eltern und der Stille, in die er sich zurückzieht, erlaubt einen außergewöhnlichen Einblick in seine Gefühlswelt. Seine stille Trauer um Wanda ist förmlich greifbar – genauso wie an anderer Stelle seine schüchterne Verliebtheit. Doch tatsächlich entlarvt sich der Teenager als äußerst gewieft – nicht nur, weil er seine Eltern an die Überwachungshilfsmittel des 21. Jahrhunderts erinnert, sondern weil er sich plötzlich genau im Bett seines Schwarms vorfindet, um zusammen im Darknet eine Wanze zu kaufen. Newcomer Leo Simon schafft es hier sehr eindrucksvoll, seiner Figur eine gewisse Undurchschaubarkeit zu verleihen.
Heike Makatsch und Axel Stein sind das Duo, das wohl keiner erwartet hätte, aber jeder gebraucht hat: Die beiden ergänzen sich nahezu perfekt – sowohl als Darstellende als auch in ihren Figuren. Makatsch bringt viel Mimik, Ausdruck und Emotion in ihre Rolle ein; Stein ist zurückhaltend, trocken, was in tragisch-humorvollen Situationen besonders gut wirkt. In der zweiten Folge bricht seine Maske des endlosen Optimismus in einer äußerst schönen, mitfühlenden Szene, in der er nicht nur das Verschwinden seiner Tochter, sondern auch die Entfremdung seiner Frau schlicht und mal ganz ohne Witz verarbeitet.
Eine weitere wichtige Figur, die in den ersten zwei Episoden auftritt, ist Kommissarin Michelle Rauch (Nikeata Thompson). Sie zeichnet sich eher durch Härte und Fokus aus – doch gerade im Kontrast zur Tiefe der Hauptcharaktere wirkt sie dadurch bislang zu eindimensional. Ihrer Figur fehlen Nuancen und zumindest Anzeichen von Empathie. Dadurch erscheint sie häufig mehr wie ein Hindernis, gar eine Antagonistin, für die Klatts statt ein eigenständiger Charakter mit einem klaren Ziel. Die Promi-Besetzung wie Palina Rojinski und Kostja Ullmann tritt in den ersten Folgen so nebensächlich auf, dass eine genauere Beurteilung nicht möglich ist.
Visuell bricht „Where’s Wanda?“ sicherlich auch die ein oder andere Grenze zwischen Zeit und Raum: Alte Autos und Telefonzellen stehen Smartphones und Darknet gegenüber. Die Verschmelzung von altmodisch und modern verleiht der Serie eine surreale, fast schon traumhafte Atmosphäre – verstärkt wird dies nur noch durch die helle, blasse Farbgebung und die kreisförmige Architektur Sundersheims, die nahezu futuristisch-dystopisch angehaucht ist (und wieder an einen US-Stil erinnert). Warum kein deutsches „normales“ Kleinstadt-Setting gewählt wurde, könnte wohl an dem aktuellen Trend der Streamer liegen, deutsche Serien international zu vermarkten – ähnlich wie jüngst bei „Maxton Hall“.
Zum Abschluss: Wie heißt es so schön? Des einen Leid ist des anderen Freud
– mit diesem Sprichwort spielt „Where’s Wanda?“ nahezu die ganze Zeit. Angefangen bei der Prämisse, aus einer Tragödie eine Comedy-Serie zu machen – was genau die richtige Balance zwischen Emotion, Feingefühl und Humor bedarf. Bis hin zum kritischen Blick auf den Zuschauenden, der letztendlich genauso wie das Live-Publikum im Fernsehstudio sich vom Schicksalsschlag der Klatts unterhalten lässt. Diese Finesse regt zum Nachdenken und Hinterfragen der eigenen Sensationsgier an.
Frei von Schwächen ist das erste deutsche Original für Apple TV+ zwar nicht – Klischees und abgedroschene Statements wirken repetitiv, auch der versprochene „Star“-Cast überzeugen nicht gänzlich und das Setting ist gewöhnungsbedürftig. Doch genau aus all diesen Zutaten entsteht eine Serie, die zwar an der Basis simpel gestrickt sein mag, aber dafür eine überzeugende Illusion errichtet, in der die Zuschauenden genauso gut Nachbarn sein könnten, die von Familie Klatt auf der Suche nach ihrer Tochter beobachtet werden.
Die Review und Wertung basieren auf der Sichtung der ersten beiden Episoden von „Where’s Wanda?“.
„Where’s Wanda?“ startet mit einem internationalen Release am Mittwoch, den 2. Oktober. Nach den Doppelfolgen erscheint jeden Mittwoch bis 13. November wöchentlich eine neue Episode auf Apple TV+. In der achtteiligen Dark Comedy spielen Heike Makatsch, Axel Stein, Lea Drinda, Leo Simon, Nikeata Thompson, Palina Rojinski, Kostja Ullmann und Harriet Herbig-Matten mit. Produziert von der UFA Fiction, basiert die Serie auf einer Geschichte von Zoltan Spirandelli. Creator, Autor und Executive Producer ist Oliver Lansley.
Über die Autorin
Originalität – das macht für R.L. Bonin eine Serie zu einem unvergesslichen Erlebnis. Schon als Kind entdeckte die Autorin ihre Leidenschaft für das Fernsehen. Über die Jahre eroberten unzählige Serien unterschiedlichster Genres Folge für Folge, Staffel für Staffel ihr Herz. Sie würde keine Sekunde zögern, mit Dr. Dr. Sheldon Cooper über den besten Superhelden im MCU zu diskutieren, an der Seite von Barry Allen um die Welt zu rennen oder in Hawkins Monster zu bekämpfen. Das inspirierte sie wohl auch, beruflich den Weg in Richtung Drehbuch und Text einzuschlagen. Seit 2023 unterstützt sie die Redaktion mit der Erstellung von Serienkritiken. Besonders Wert legt sie auf ausgeklügelte Dialoge, zeitgemäße Diversity und unvorhersehbare Charaktere.
Lieblingsserien: Lost in Space, Supergirl, Moon Knight
Kommentare zu dieser Newsmeldung
Chrissi50 am via tvforen.de
...warum muss eigentlich der Titel in englisch sein bei einer deutschen Serie?...DerLötkolb am via tvforen.de
...um ältere Zuschauer abzuschrecken? Die Öffis wollen doch krampfhaft einen höheren Anteil junger Zuschauer. Ein junger mehr oder ein alter weniger ist statistisch (fast) der gleiche Effekt.