Ayla Güner (Via Jikeli) wird in „High Stakes“ zum Poker-Profi.
Bild: ZDF/Mario Stumpf
Gläubige Muslima stehen selten im Fokus von seriellen Erzählungen. Noch weniger solche, die gleich in zwei männlich dominierten Bereichen mitmischen – Naturwissenschaften und Poker. Somit ist die neue ZDF-Serie „High Stakes“, die am 5. September on Demand startet, die erste, die diesen ungewöhnlichen Mix an Eigenschaften in einer Protagonistin vereint. Doch kommt dadurch auch eine spannende, sehenswerte Story zustande?
Gegensätze ziehen sich an: Dieses Prinzip haben die kreativen Köpfe von „High Stakes“ wohl ganz genau genommen und in einer einzigen Person umgesetzt – Protagonistin und Heldin Ayla (Via Jikeli). Die 25-jährige Astrophysik-Studentin erhält die Chance ihres Lebens: ein sechsmonatiges Praktikum bei der NASA. Nur so kommt sie ihrem Traum einen Schritt näher, nämlich die erste Astronautin mit Kopftuch zu werden. Der einzige Haken: Ayla ist pleite, müsste aber selbst für Flug und Unterkunft aufkommen.
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Mit über 18.000 Euro Schulden und etwa 22.000 Euro bevorstehenden Kosten hat Ayla quasi keine Möglichkeit, bis zum Antritt ihres Praktikums an Geld zu kommen. Aber eben nur „quasi“, denn da wäre ja noch das Pokern, das sie zufällig für sich entdeckt. Und „zufällig“ hat sie als Mathematikerin ein gutes Händchen dafür … wäre da nicht ihr Glauben, der ihr einen Strich durch die Rechnung macht. Vorerst.
Die Freunde Britta (Pauline Großmann, 2. v. r.), Tolga (Eren Kavukoğlu, l.) und seine Freunde Leonard (Max Koltai, 2. v. l.), Marek (Daniel Prussak, 3. v. l.) und Vincent (Jannik Schümann, r.) spielen mit Cent-Beträgen eine Runde Poker. Ayla (Via Jikeli) leckt Blut. ZDF/Jürgen Olczyk
Astrophysik, Pokern, Islam – nichts davon passt zusammen. Im Islam gilt Glücksspiel als haram und naturwissenschaftliche Ansichten widersprechen häufig religiösen. Trotzdem (oder gerade deshalb) lässt „High Stakes“ all diese unterschiedlichen Welten in und mit Ayla aufeinanderprallen. Das sorgt natürlich per se schon für jede Menge Konflikt.
Die 25-Jährige muss sich ihrem Glauben widersetzen, um ihren Traum, im naturwissenschaftlichen Bereich angesiedelt, zu erreichen. Gleichzeitig überrascht die Protagonistin auch durch ihre Sichtweise, dass sich Wissenschaft und Religion gar nicht unbedingt widersprechen. In einer bedeutsamen, wenn auch etwas erzwungen wirkenden Szene, teilt Ayla ihre Theorie, dass es zu viele Zufälle in der Entstehung des Universums gibt, damit es sich lediglich um Willkür handelt. Wie herrlich ironisch, dass ausgerechnet sie sich dann für das Glücksspiel, was Zufall und Willkür miteinschließt, begeistert.
Vincent ist ehemaliger Poker-Profi und bringt Ayla mehr als nur die Spielregeln bei. ZDF/Jürgen Olczyk
Die erste Folge mit dem Augenzwinkern-Titel „Houston, I have a problem!“ führt die Zusehenden schnell und plump in Aylas Welt. Nach einem Teaser, der eine beträchtliche Veränderung der Protagonistin verspricht, kämpft die 25-Jährige in einem Video-Call um ihren Praktikumsplatz, den sie, zu ihrer großen Überraschung, ergattert. Aber selbst für einen Freudenschrei ist keine Zeit, denn das Geld muss her. In kürzester Zeit, dank eines raschen Zusammenschnitts samt eingeblendeter Absagen, wird klar: Förderungen, Darlehen oder sonstige Finanzierungen stehen Ayla nicht zur Verfügung. Wieso? Darauf gibt es keine Antwort. Genauso wenig wie auf die Frage, wieso Ayla mit 25 als offensichtlicher Astrophysik- Genie „nur“ einen Bachelorabschluss hat – nicht, dass dies verwerflich wäre, aber es passt nicht zum Bild, das von der jungen, ehrgeizigen Frau gezeichnet wird. Im Nachhinein wäre ein bisschen mehr von Aylas Alltag durchaus sehenswert gewesen, insbesondere da ihr Eintritt in die Poker-Welt unmittelbar folgt.
Denn nur wenig später leckt Ayla bei einem Pokerspiel unter Freunden Blut – und da kommt wortwörtlich Vincent (Jannik Schümann) ins Spiel. Die Bekanntschaft ihres Bruders Tolga (Eren Kavukoğlu) erkennt direkt das Talent, das in der jungen Astrophysikerin schlummert, die sich jedoch natürlich erstmal gegen ihre eigene Faszination sträubt.
Wie eine Motte zum Licht wird sie immer wieder magisch vom Spiel angezogen – was visuell großartig umgesetzt ist und durchaus im Subtext vor dem Suchtcharakter von Glücksspiel warnt. Demnach gibt sie sich schließlich einige Begegnungen später der Versuchung hin und nimmt spontan an einer „High Stakes“-Runde teil, d.h. an einer Runde, in der es nicht um Cents wie unter Freunden, sondern um Tausende geht.
Auch hier überrascht die Serie mit einem unerwarteten Plottwist. Statt alles zu verlieren oder groß abzuräumen, steigt Ayla ganz vernünftig nach einem kleinen Verlust aus. Allerdings nur, um vom Meister selbst zu lernen: Der, wie sich später herausstellt, ehemalige Poker-Profi Vincent soll ihr das Spiel auf High-Stakes-Niveau beibringen. Ihr Ziel: 22.000 Euro gewinnen, um ihr Praktikum zu bezahlen.
Die einzige Frau am Poker-Tisch: Ayla sieht im Glücksspiel ihre Chance, schnell an Geld zu kommen. ZDF/Jürgen Olczyk
Wie der Titel es schon verrät, dreht sich somit in Folge zwei „Playing Games“ alles um das Spiel. Bluffen, Tells vermeiden und erkennen, Menschen lesen und deuten lernen – das macht die Szenen, in denen Vincent Ayla das Pokern beibringt, zu absoluten Highlights. Es vereinfacht auch die Identifikation mit Ayla als Protagonistin, da Zusehende mit ihr gemeinsam die Poker-Welt und ihre Regeln erforschen. Dennoch kommt es zu einigen Unstimmigkeiten, die die Handlung ausbremsen.
So gerät Ayla in einen Konflikt mit ihren Eltern, die aus einem unerklärlichen Grund ein Praktikum bei der NASA für verwerflich halten. Das sorgt für Dissonanz in Anbetracht der sonst sehr offenen dargestellten Lebensweise und -einstellung – so hat der Vater beispielsweise in Tolgas Start-up investiert, eine Dating-App für homosexuelle Muslime. Für den Streit hätte es mehr Kontext gebraucht, denn so wirkt es erneut wie eine erzwungene Wendung, nur um Ayla den letzten Ruck zu geben, den sie so gar nicht gebraucht hätte.
Ayla im Streit mit ihren Eltern (Mutter Selma (Lale Yavas) und Adil Özgür Karadeniz)) ZDF/Jürgen Olczyk
Auch kristallisiert sich ein skurriles Liebesdreieck heraus: Vincent hat eine Beziehung mit Aylas Bruder Tolga, ist aber offensichtlich auch zunehmend an der Nachwuchs-Pokerspielerin interessiert. Er handelt ihr gegenüber grenzüberschreitend und teilweise respektlos, so auch, als er unangekündigt bei ihrem Elternhaus aufkreuzt und ihren Gebetsring stiehlt, was zumindest in der Episode nicht weiter aufgegriffen wird. Dass er Ayla beeinflusst und in die „dunkle“ Welt des Glücksspiels zieht, ist offensichtlich. Ob diese toxisch-romantische Verstrickung jedoch nötig wäre, sei dahingestellt.
„High Stakes“ hat zwar eine starke Ausgangslage, diese ist jedoch thematisch bereits sehr überladen – das Bild der Frau beim Pokern, im Islam, in der Naturwissenschaft … dadurch entsteht schon jede Menge Stoff, der abgehandelt werden muss. Doch statt an manchen Stellen mit dem Erzähltempo herunterzufahren und mehr Tiefe zu erlauben, kommt Füllmaterial zum Einsatz, zum Beispiel Bilder von Galaxien, stille Szenen, in denen Ayla schwerelos im Wasser schwebt oder gedankenverloren aus dem Fenster blickt. Die oft mit Floskeln verwobenen Dialoge helfen ebenso wenig weiter, aus der Erzählung mehr als nur einen starken Plot herauszuholen.
Verliert sich Ayla im Pokerspiel – oder bleibt sie ihrem Traum, die erste Astronautin mit Kopftuch zu werden, treu? ZDF/Jürgen Olczyk
Trotzdem bleibt der Reiz, Ayla auf dem Weg zu ihrem Aufstieg – oder Untergang – zu verfolgen, auch nach Ende der zweiten Episode bestehen. Denn letztlich geht es um mehr als um den idealistischen Traum einer jungen Frau, Kopftuch im Weltall zu tragen, und was sie bereit ist, dafür zu tun. Sondern darum, dass solche Geschichten und Perspektiven eine Bühne bekommen und die Chance, gesehen und gehört zu werden.
Insgesamt kommt somit die Produktion von der Odeon Fiction GmbH frisch, originell und ja, auch ein bisschen skurril daher. Ayla ist eine ungewöhnlich vielseitige Protagonistin, die dadurch aber gerade beweist, dass wenn auch der Serienmarkt übersättigt scheint, es doch noch möglich ist, eine neue außergewöhnliche Geschichte zu erzählen. „Sie ist so etwas wie die weibliche, muslimische Version von Walter White aus „Breaking Bad“„, heißt es im Statement der Autor:innen Orkun Ertener und Kathrin Tabler. Das mag stimmen, es bestehen durchaus Parallelen. Aber eigentlich geht Ayla viel weiter als einst ein Walter White, der als Chemiker eigentlich nur das tut, was er am besten kann. Ayla bricht mit Konventionen, Klischees und Vorurteilen, bringt Elemente, die nicht zusammengehören sollten, zusammen. Und dadurch ist sie mehr als nur eine „Version“, sondern erweckt mit ihrer Figur etwas Bahnbrechendes zum Leben – mit kleinen, verzeihbaren Schwächen.
Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten zwei Episoden von „High Stakes“.
Meine Wertung: 3,5/5
„High Stakes“ ist eine sechsteilige „Neoriginal“-Dramaserie für ZDFneo. Ab Freitag, den 5. September sind die Episoden bei ZDF.de als Stream verfügbar. Ab Sonntag, den 14. September laufen sie sonntags ab 20:15 Uhr in Doppelfolgen in ZDFneo. Die Drehbücher stammen von Kathrin Tabler und Orkun Ertener (Headwriter), Jan Cronauer, Marianna Ölmez, Christoph Busche. Regie führte Marijana Verhoef.
Über die Autorin
Originalität – das macht für R.L. Bonin eine Serie zu einem unvergesslichen Erlebnis. Schon als Kind entdeckte die Autorin ihre Leidenschaft für das Fernsehen. Über die Jahre eroberten unzählige Serien unterschiedlichster Genres Folge für Folge, Staffel für Staffel ihr Herz. Sie würde keine Sekunde zögern, mit Dr. Dr. Sheldon Cooper über den besten Superhelden im MCU zu diskutieren, an der Seite von Barry Allen um die Welt zu rennen oder in Hawkins Monster zu bekämpfen. Das inspirierte sie wohl auch, beruflich den Weg in Richtung Drehbuch und Text einzuschlagen. Seit 2023 unterstützt sie die Redaktion mit der Erstellung von Serienkritiken. Besonders Wert legt sie auf ausgeklügelte Dialoge, zeitgemäße Diversity und unvorhersehbare Charaktere.