„Mr. Mercedes“: Starke Stephen-King-Umsetzung mit begeisterndem Cast – Review

David E. Kelley macht aus dem grimmigen Terror-Krimi ein mitreißendes Charakterdrama

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 04.09.2017, 12:00 Uhr

Die Protagonisten von „Mr Mercedes“: Ex-Inspektor Bill Hodges (Brendan Gleeson, l.) und Brady Hartsfield (Harry Treadaway) – Bild: Audience
Die Protagonisten von „Mr Mercedes“: Ex-Inspektor Bill Hodges (Brendan Gleeson, l.) und Brady Hartsfield (Harry Treadaway)

Muss wirklich erst David E. Kelley kommen, um Stephen King gebührend auf den Bildschirm zu bringen? Scheint so, denn nach den diversen mauen (Mini-)Serien der letzten Jahr(zehnt)e, zu denen man seit Neuestem auch „Der Nebel“ zählen muss, erweist sich das, was der „Ally McBeal“- und „Big Little Lies“-Erfinder jetzt als Umsetzung des Kingschen Romans „Mr. Mercedes“ (2014) für das Pay-TV-Network Audience produziert hat, als qualitativer Sprung nach vorne. Nicht, weil Kelley hier konzeptuell großartig neue Wege ginge, sondern weil sich hier auf beeindruckend sorgfältige Weise ein Charakterdrama entfaltet, in dem immer wieder auch politische Momentaufnahmen eines Amerikas in der Krise aufblitzen und sich das typische King-Feeling trotzdem gleichsam wie nebenbei einstellt. Kelley nimmt den Roman, der als Kings erster „Hardboiled“-Krimi gilt, als das, was er ist, und verteilt den Plot in gemächlichem Tempo auf zehn Episoden. Dass die Serie toll besetzt ist, hilft da natürlich – und auch, dass Kings Roman durch tragische Ereignisse der letzten Zeit einen ganz neuen, durchaus beängstigenden Realitätsbezug gewonnen hat.

Wenn die ersten Episoden als Maßstab gelten dürfen, folgt die Serienhandlung dem Roman sehr genau, was auch heißt: Am Anfang steht ein Terroranschlag. Arglos warten die Erniedrigten und Beleidigten des amerikanischen Wirtschaftssystems schon morgens um drei Uhr in der Schlange vor einer sogenannten job fair, einer „Karrieremesse“, auf der Arbeitslose vermittelt werden sollen. Es ist 2009 in Ohio, die Wirtschafts- und Finanzkrise hat das Land voll im Griff. Ein netter junger Typ und eine nette junge Frau, die mangels Betreuungsmöglichkeit sogar ihr Baby in die nächtliche Warteschlange mitnehmen musste, werden wie Protagonisten eingeführt – doch dann kommt Mr. Mercedes. Mit einer Clownsmaske vorm Gesicht sitzt er am Steuer der namensgebenden Limousine. Er blendet die Scheinwerfer auf und taucht die Wartenden ins höhnische Licht seiner Luxuskarosse, dann brettert er mit Höchstgeschwindigkeit mitten in die Menge. Acht Tote, zahllose Verletzte. Die Szene, in der die Opfer mit Wucht über die Kühlerhaube fliegen, gehört nicht nur zum Heftigsten, was in jüngster Zeit im amerikanischen Serienfernsehen zu sehen war, es ist auch deshalb schwer erträglich, weil es so unmittelbar an die islamistisch (Nizza, Berlin, London, Barcelona) oder rassistisch motivierten (Charlottesville) Terroranschläge der jüngsten Zeit erinnert. Das Auto als Massenvernichtungswaffe für jedermann: Als King den Roman schrieb, war daran noch nicht zu denken; wahrscheinlich noch nicht einmal, als Kelley die Serie in Produktion brachte.

In Kings Roman und nun in der Serie „Mr. Mercedes“ ist die Tat der Auslöser für einen Mix aus Noir-Krimi und Psychothriller. Detective Bill Hodgens konnte den grausamen Mercedes-Fall (den letzten großen Fall, der ihm vor der Rente auf den Schreibtisch kam) nicht mehr aufklären, jetzt, zwei Jahre später, sitzt der hochdekorierte Haudegen einsam und verwahrlost zu Hause herum. Eine Frau hat er nicht (mehr), nur noch eine Schildkröte, der er jeden Morgen einen Salatkopf hinwirft – oder eher jeden Mittag, denn meistens schläft Bill nachts besoffen im Fernsehsessel ein. Für die Darstellung dieser ächzenden Antithese zur modernen Leitfigur des agil-aktiven Power-Rentners konnte Kelley den grandiosen Brendan Gleeson gewinnen, diesen irischen Grummelvirtuosen, der noch aus jeder Klischeegestalt ungeahnte Charaktertiefe herausschälen kann (siehe derzeit im Kino: „Hampstead Park“). Wie Gleeson als schmerbäuchiger Ex-Inspektor mit Prostataproblemen schlecht gelaunt über den Bildschirm schlurft, das muss man gesehen haben.

Der Cast der Serie „Mr. Mercedes“

Kontaktpersonen gibt es für Bill wenige, aber sie sind wichtig. Mit dem noch im aktiven Dienst befindlichen und schwer um ihn besorgten Ex-Kollegen Peter Dixon (Scott Lawrence, „JAGs“) trifft er sich gelegentlich zum Lunch, Nachbarsjunge Jerome (Jharrel Jerome aus „Moonlight“) kümmert sich ums Rasenmähen und um den Computer, vor allem aber wacht die alleinstehende Ida Silver (Holland Taylor, Charlie Sheens Serienmutter aus „Two and a Half Men“) aus dem Nachbarhaus über ihn – aus eigennützigen Gründen, hat sie Bill doch als potenziellen, schon rein räumlich bequem verfügbaren Sexualpartner im Sinn. Weshalb sie ihm beim Dinner schon mal ungefragt Nacktfotos von sich zum Dessert reich. Die Szenen, in denen sich Taylor (74, sieht jünger aus) und Gleeson (62, sieht älter aus) als Ida und Bill gegenseitig Beleidigungen und Bonmots an den Kopf werfen, sind ganz hervorragend gelungen – und ein wunderbares Beispiel dafür, wie gut Qualitätsserienfernsehen (jenseits der Sitcom) auch dann sein kann, wenn die Protagonisten im Rentenalter sind.

Nicht zuletzt Ida ist es, die Bill dazu rät, aus seinem ambitionslosen Alltag auszubrechen und sich neue Ziele zu suchen: Als sich der nach wie vor nicht gefasste Mr. Mercedes mit einer verstörenden E-Mail bei Bill meldet (die deutsche Zuschauer unangenehm an die Pink-Panther-Videos der rechtsextremen NSU-Terroristen erinnert), wacht, halb aus Panik, halb aus Wut, der alte Ermittler wieder in ihm auf. Im weiteren Verlauf wird Bill Janey Patterson kennenlernen („Weeds“-Star Mary-Louise Parker), die Schwester jener inzwischen durch Suizid aus dem Leben geschiedenen Frau, mit deren geklautem Wagen Mr. Mercedes einst die Terrortat beging. Aus der Begegnung mit Janey wird Liebe, und wer liebt, wird, wie jeder weiß, verletzlich.
Schicksalhafte Begegnung zwischen Janey Patterson und Bill

Für jene, die den Roman kennen, aber auch für jene, die sich als halbwegs geübte Serienzuschauer einschätzen, ist es keine Überraschung, dass sich am Ende der rundum gelungenen Pilotfolge jener junge Mann als Mr. Mercedes herausstellt, dessen Alltag in einer Parallelhandlung zum Bill-Hodgens-Strang geschildert wird: Brady Hartsfield (Harry Treadaway aus „Penny Dreadful“), leicht linkisch, aber nicht unsympathisch, arbeitet tagsüber unscheinbar in einem Elektromarkt, gemeinsam mit der lesbischen Kollegin Lou (Breeda Wool) steht er unter der Fuchtel des neurotischen, sich als Mentor verstehenden Filialleiters Robi (Robert Stanton, „Detektiv Hanks“). Und zu Hause, trashiges Reality-TV glotzend, wartet Bradys Mutter Deborah, die sich offenbar regelmäßig inzestuös an ihrem Sohn vergeht: Es ist ein unverhofftes und verblüffendes Wiedersehen mit Kelly Lynch, die um 1990 herum im Kino omnipräsent war („Road House“, „Drugstore Cowboy“) und danach kaum nennenswerte Rollen mehr fand.

Während der Zuschauer also früh um die Identität des gesuchten Attentäters weiß, verfolgt der Plot Bill Hodgens’ Bemühungen, ihm auf die Schliche zu kommen. Kelley und Regie-Routinier Jack Bender („Lost“) inszenieren das auf der Krimi-Ebene zweckmäßig spannend, auf der charakterdramatischen Ebene mit viel Feingespür und mit einigen deutlichen Seitenblicken auf ein Amerika im Zerfallszustand, in dem Arbeitslose die einfachsten Opfer sind und homophobe Elektromarktkunden als Vorboten der kommenden Trump-Mania dienen mögen.

Zugleich werden aber auch eingefleischte King-Fans glücklich gemacht, indem immer wieder bekannte Elemente aus dem literarischen Universum des berühmten Vielschreibers eingeflochten werden, angefangen beim gruselig grinsenden Emoji und bei der Clownsmaske des Täters, die beide ans Monster „Pennywise“ aus „Es“ erinnern, über Hockey spielende Kids auf den Straßen der Vorstadt bis hin zu jeder Menge Rock und Punk auf dem Soundtrack. Es sind lauter Songs, die die Handlung kommentieren, der „Well-Respected Man“ von den Kinks, die „Season of the Witch“ von Donovan, und als Brady erstmals auftritt, leisten sich die Macher sogar den Spaß, „Pet Sematary“ von den Ramones einzuspielen, einen Song also, der einst für eine andere (weit weniger gelungene) King-Verfilmung entstand ­- „Friedhof der Kuscheltiere“. Spätestens wenn der Abspann der Pilotfolge mit einer absoluten Punk-Rarität aus den späten Siebzigern beschallt wird („Laugh“ von Hammer Damage), ist absolut klar, dass hier Leute am Werk sind, die wissen, wie man mit Stephen-King-Vorlagen umgehen muss. Wie der angeschlagene Hodgens ermittelt und warum der rätselhafte Brady das tut, was er tut: Mit starken Figuren und prägnanten Szenen gelingt es „Mr. Mercedes“ von Beginn an, die Zuschauer der Beantwortung dieser Fragen entgegenfiebern zu lassen.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten beiden Episoden von „Mr. Mercedes“.

Meine Wertung: 4/​5


Gian-Philip Andreas
© Alle Bilder: Audience Network


Aktuell feiert die TV-Serie „Mr. Mercedes“ in den USA beim Audience Network des Satelliten-Fernsehanbieters AT&T Premiere. Eine deutsche Heimat für die King-Verfilmung ist bisher noch nicht bekannt geworden.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

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