„Der Therapeut von nebenan“: Wenn der Psychodoktor dein Leben übernimmt – Review
Paul Rudd und Will Ferrell in starker Apple-Dramedy
Rezension von Marcus Kirzynowski – 11.11.2021, 17:30 Uhr
Es gibt Geschichten, die sind so bizarr, dass man sie nicht glauben würde, wenn sie einem jemand persönlich erzählte. Es braucht dann schon den vor einem Film oder einer Serie eingeblendeten Hinweis „Basierend auf einer wahren Geschichte“, dass man das Gesehene als Tatsachen akzeptiert. So ein Fall ist die Apple-Miniserie „Der Therapeut von nebenan“, die auf dem Podcast „The Shrink Next Door“ (auch Originaltitel der Serie) basiert. Einfach unglaublich wirkt es, was sich hier der Patient von seinem Psychologen über einen Zeitraum von fast 30 Jahren gefallen lässt.
Kommt ein New Yorker Jude zum Therapeuten … Die Handlung beginnt (nach einem kurzen Vorausblick aufs Ende) wie ein Woody Allen-Film. Anfang der 1980er Jahre sucht der Unternehmer Martin „Marty“ Markowitz (Will Ferrell) auf Drängen seiner Schwester Phyllis (Kathryn Hahn) die Praxis von Dr. Isaac „Ike“ Herschkopf (Paul Rudd) auf. Marty hat die Großnäherei der Eltern geerbt, aber die langjährigen Angestellten nehmen den Sohn als neuen Chef nicht so richtig ernst. Im Gespräch mit schwierigen Kunden bekommt er sogar Panikattacken. Auch im Privatleben ist Marty ein Mensch, der sich mit seiner Schüchternheit selbst im Weg steht. Anfangs widerwillig, dann zunehmend begeistert nimmt er die Ratschläge des Psychiaters an, mehr aus sich herauszugehen und etwas zu wagen. Zunächst blüht er tatsächlich auf, wird weniger ängstlich, schafft es sogar, eine sympathische junge Verkäuferin auf ein Date einzuladen.
Doch schleichend nimmt „Dr. Ike“ einen immer größeren Raum in Martys Leben ein. Schon bald macht der gar nichts mehr ohne Herschkopfs Rat und der zeckt sich auch in sein Privat- und Berufsleben ein. Am Anfang sind es nur kleine Grenzüberschreitungen wie gemeinsam mittags essen gehen (und das als Sitzung in Rechnung stellen). Aber dann wird aus einem Coachingauftrag für Martys Belegschaft eine Festanstellung als Betriebspsychologe in der Näherei, die beiden gründen sogar zusammen eine Stiftung, wobei Marty fast das komplette Geld einbringt, das Ike dann ausgibt.
Immer mehr entpuppt sich der Therapeut als ebenso freigiebig wie egozentrisch, was nur Marty nicht merkt. Während der auf Anraten Ikes den einzigen familiären Kontakt zu seiner Schwester und deren Töchtern abbricht, okkupiert der Psychologe auch noch Martys geerbtes Sommerhaus in den Hamptons und degradiert den Hausherrn unmerklich zum Bediensteten – alles immer unter dem Vorwand, nur sein Bestes zu wollen.
Als ZuschauerIn steigt spätestens ab der vierten Folge der Fremdschäm- und Mitleidsfaktor für Marty so stark, dass es fast weh tut zu verfolgen, wie der sympathische Mann sich in seiner Gutgläubigkeit zunehmend sein Leben zerstören lässt. Dabei ist das Interessante, dass Herschkopf nie als klassischer Bösewicht gezeichnet wird. Tatsächlich wird nie eindeutig klar, ob er seinen Patienten bewusst ausbeutet oder vielleicht doch selbst davon überzeugt ist, ihm nur zu helfen. Denn er scheint eine völlig gestörte Selbstwahrnehmung zu haben, verbunden mit einer Mischung aus Selbstüberschätzung und Minderwertigkeitskomplex (weil er eben nicht aus einer reichen Familie stammt wie Marty).
Paul Rudd, früher hauptsächlich für Rollen in romantischen Komödien mit Jennifer Aniston bekannt, zeigt hier die vielleicht vielschichtigste Darstellung seiner bisherigen Karriere. Aber auch Will Ferrell beweist, dass er weit mehr drauf hat, als Witzfiguren zu verkörpern. Sein Marty ist ein Mann, über dessen Humor man manchmal lacht, den man mal für weise, dann wieder für dumm hält, mit dem man aber immer mitfühlt. Dritte wichtige Figur ist Martys Schwester Phyllis, die Kathryn Hahn („Crossing Jordan“) in ihrer unnachahmlichen Art zwischen bissiger jüdischer Matriarchin und sensibler Alleinerziehender spielt.
Autorin Georgia Pritchett („Succession“) erzählt die sich bis zum Exzess respektive Martys Beinahe-Ruin steigernden Ereignisse geradlinig und ökonomisch. Die Handlung beschränkt sich fast ausschließlich auf die Sichtweisen der beiden Hauptfiguren. Es gibt praktisch keine Szene, in denen nicht mindestens einer von beiden anwesend ist, wobei der Fokus klar auf Marty liegt. Schade ist, dass das Drehbuch manchmal einzelne Handlungsstränge aus den Augen zu verlieren scheint, einige werden aber in der Abschlussfolge wieder aufgegriffen. Regisseur Michael Showalter („Wet Hot American Summer“) inszeniert sowohl die komödiantischen als auch die dramatischen und psychologischen Momente punktgenau. Das jeweilige Zeitkolorit der verschiedenen Jahrzehnte – von den frühen 1980ern bis 2010 mit einem kurzen Epilog in der Gegenwart – wird durch authentisch wirkende Szenenbilder und passend eingesetzte Popsongs perfekt, aber nie aufdringlich vermittelt.
Am Ende entpuppt sich die überwiegend humoristisch begonnene Geschichte vor allem als Porträt einer (zu) empfindsamen Seele, eines Mannes, der durch seine Hilfsbedürftigkeit und Leichtgläubigkeit fast alles verloren hat, inklusive vieler Lebenschancen. Nach „Physical“ und „Mr. Corman“ ist dem noch jungen Streamingdienst Apple TV+ hier bereits zum dritten Mal eine ebenso kurzweilige wie tiefgründige Dramedyserie gelungen.
Dieser Text basiert auf der Sichtung der kompletten Miniserie „Der Therapeut von nebenan“.
Die ersten drei Episoden der insgesamt achtteiligen Miniserie sind ab Freitag, den 12. November auf Apple TV+ verfügbar. Die weiteren Episoden folgen dann wöchentlich.
Über den Autor
Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.
Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing
Kommentare zu dieser Newsmeldung
DerLanghaarige am
Wenn ich schon "Die Handlung beginnt nach einem Ausblick aufs Ende" lese, habe ich keinen Bock mehr. Das hat mir letztens schon "Only Murders In The Building" verdorben, wie da das Ende der Staffel in der ersten Szene der ersten Folge gespoilert wurde, ohne, dass es dafür irgendeinen Grund gab.