„Der Auserwählte“: Netflix verlegt Mark Millars „American Jesus“ nach Mexiko – Review

Comic-Adaption über Jugend-Clique weckt Assoziationen an „Stand by Me“ & Co.

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 16.08.2023, 09:01 Uhr

„The Chosen One – Der Auserwählte“ – Bild: Netflix
„The Chosen One – Der Auserwählte“

Ein einfaches Leben wird Jodie Christianson wohl nicht haben. Das kann man schon nach der Auftaktsequenz sagen, in der seine Mutter Sarah (Dianna Agron) sich in einem Motelraum brutal mit einem Eindringling prügelt, während Jodie noch als Baby im Wohnzimmer vor dem laufenden Fernseher liegt. Nachdem Sarah den Angreifer überwältigt hat, flieht sie mit dem Säugling im Auto Richtung Mexiko. Dabei wird sie von einem Grenzpolizisten angehalten, aber es ist der Säugling, der ihn nur durch seinen Blick überzeugt, sie weiterfahren zu lassen. Offenbar ist wenig normal an diesem Kind.

Aber ist er wirklich „Der Auserwählte“ des deutschen Titels dieser Netflix-Serie? Das lässt sich zumindest nach den ersten beiden von insgesamt sechs Episoden noch nicht beantworten, entsprechende Hinweise werden aber gelegt. Etwas verwirrend ist die Namensgebung dieser Produktion, die im spanischsprachigen Original „El Elegido“ und auf Englisch „The Chosen One“ heißt (was zu Verwechslungen mit einer gleichnamigen brasilianischen Netflix-Serie führen dürfte). Die als Vorlage dienende Comic-Trilogie von Mark Millar („Kick-Ass“) und Zeichner Peter Gross heißt aber „American Jesus“, auch in der deutschen Ausgabe des Panini Verlags. Die Titeländerung resultiert zumindest zum Teil daraus, dass die Serienmacher die Handlung von einer US-Kleinstadt in die mexikanische Provinz verlegt haben.

Zwölf Jahre nach dem dramatischen Auftakt lebt Jodie (Bobby Luthnow) nämlich immer noch mit seiner Mutter in einer mexikanischen Wüstenstadt und spricht entsprechend fließend Spanisch. Er ist Teil einer Clique von ungefähr Gleichaltrigen, zu der auch noch der extrovertierte Hipólito (Jorge Javier Arballo Osornio), der Zauberfan Wagner (Alberto Pérez-Jácome Kenna), der jüngere Indigene Tuka (Juan Fernando González Anguamea) und – als einziges Mädchen – die intelligente Magda (Lilith Amelie Siordia Mejia) gehören. Die Freunde treffen sich nachmittags in einem Wohnwagen, was die Frage aufwirft, ob Bestsellerautor Millar jemals „Die drei ???“ gelesen hat. Auch sonst ist der Aufbau sehr klassisch für eine Coming-of-Age-Geschichte. So sind sowohl Jodie als auch Hipólito in Magda verliebt, wobei sich der schüchterne Jodie aber nicht traut, es ihr zu offenbaren. Eingeführt wird recht schnell auch noch ein Schulschläger als Gegenspieler.

Eine ganz normale Jugendliebe? Magda (Lilith Amelie Siordia Mejia) und Jodie (Bobby Luthnow) Netflix

Nach etwa einer Viertelstunde Laufzeit brechen die Freunde zu einer heimlichen Expedition in die Wüste auf, um das Meer zu erreichen, in dem Tukas Onkel (ein Fischer) eine Sirene gesehen haben will. Die Jugendlichen wollen das Fabelwesen mit eigenen Augen sehen, es wird aber vor allem eine Reise zu sich selbst. Spätestens jetzt fühlt man sich als Zuschauer stark an „Stand by Me“ oder „Die Goonies“ erinnert, klassische Coming-of-Age-Filme der 1980er Jahre mit jugendlichen Cliquen als Helden. Der Trip der Freunde liefert hier auch großartige Landschaftsaufnahmen von der Salz- und der Sandwüste, die schließlich nach vielen Gefahren zum Meer führen. Die größte Gefahr ereignet sich aber erst auf dem Rückweg: Ein Lkw kommt von einer Hochstraße ab und stürzt genau auf den darunter stehenden Jodie. Der überlebt fast unverletzt und wird daraufhin von den Medien als Wunder gefeiert. Damit kommt die eigentliche Handlung erst richtig in Gang.

Denn ein solcher Wunderknabe zieht naturgemäß nicht nur Schaulustige und Bewunderer an, sondern ruft auch Neider auf den Plan. Und dann ist da auch noch derjenige, vor dem Sarah damals mit Jodie geflohen ist – oder diejenigen? Ob es sich um einen Einzelnen oder eine ganze Organisation handelt, die seit seiner Geburt versucht, Jodie in ihre Gewalt zu bringen, bleibt zunächst unklar. Auf letzteres deutet ein Rückblick auf die Geburt hin, die Züge von „Rosemaries Baby“ trägt. Zunächst versuchen die Freunde aber, aus Jodies plötzlichem Ruhm ein bisschen Kapital zu schlagen, indem sie weitere Wundertaten vortäuschen. Unterdessen bereitet Sarah bereits die eventuell notwendige erneute Flucht vor.

Besorgte Mutter: Sarah (Dianna Agron) versucht, ihren Sohn zu schützen.Netflix

Viel Stoff also für nur sechs zwischen 35 und knapp 50 Minuten schwankende Episoden. Dabei lassen sich Everardo Gout, Leopoldo Gout und Jorge Dorantes (ersterer hat auch alle Folgen inszeniert) als Autoren am Anfang viel Zeit für den Ausflug in die Wüste, um ihre jugendlichen Helden besser vorzustellen. Die Figurenkonstellation ist für sich genommen nicht sehr originell und als erfahrener Serienfan fragt man sich langsam, wie viele Fantasyserien mit Jugendcliquen die Streamingdienste eigentlich noch produzieren wollen. Es gab nach „Stranger Things“ schließlich auch schon „Locke & Key“ und die tollen, aber leider früh abgesetzten „Paper Girls“.

Etwas Abwechslung kommt durch den ungewöhnlichen Schauplatz auf, sieht man doch im deutschen Sprachraum sehr wenige mexikanische Produktionen. Visuell erinnern die ersten Episoden teilweise eher an Kinofilme, auch wenn die Szenen in der bizarr anmutenden Salzwüste nicht ganz den Sog erzeugen, den etwa Werner Herzog in „Salt and Fire“ erreichte. Konterkariert wird dieses Weitwinkelgefühl allerdings durch das Bildformat, das in schmalem 4:3 gehalten ist, wahrscheinlich als Hommage an die Handlungszeit Ende der 1990er Jahre.

Kommt einem irgendwie bekannt vor: Die Clique zieht ins Abenteuer in der Salzwüste.Netflix

Auf den ersten Blick ist auch das Thema nichts Neues. Jodie, der Junge, der übernatürliche Kräfte entwickelt, dient als Auslöser für allerlei religiöse Fragestellungen. Wobei durch die Verlegung nach Mexiko neben christlichen Motiven auch solche der indigenen Religionen miteinbezogen werden. Oder wie es Tuka schon in der zweiten Folge sehr schön auf den Punkt bringt, als einer der anderen Jungs meint, er vermische gerade Elemente aus mehreren Religionen: Es ist alles das Gleiche, nur mit anderen Namen. Trotz seiner besonderen Fähigkeiten und der eventuellen Rolle als Messias ist Jodie aber auch ein Junge mit ganz normalen Gefühlen und Problemen. Das gelingt den Serienmachern sehr gut zu vermitteln und insbesondere die sich zart andeutende Liebesgeschichte zwischen ihm und Magda ist anrührend in Szene gesetzt.

Etwas zurückfahren können hätte man vielleicht die Symbolik. So träumt Jodie immer wieder von Wüsten, Gewittern und einem Blutstropfen, der in den Sand fällt. Manchmal wähnt man sich dabei fast in David Lynchs Verfilmung von „Der Wüstenplanet“. Insgesamt versuchen die Autoren, mehrere Zielgruppen zu bedienen, indem sie etwas Fantasy, eine Dosis Horror und eine große Portion Jugenddrama vermischen. Das fügt sich in den ersten beiden Folgen noch nicht zu einem großen Ganzen zusammen, hat aber Potential. Bleibt zu hoffen, dass sich die Gouts und ihre Ko-Autoren dabei nicht zu sehr in (pseudo-)religiösem Hokuspokus verlieren, sondern sich weiterhin auf ihre jungen Figuren und deren Beziehungen untereinander konzentrieren – sind das doch klar die interessantesten Aspekte.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten beiden Episoden von „Der Auserwählte“.

Meine Wertung: 3,5/​5

Die sechs Episoden der Serie sind ab Mittwoch, den 16. August bei Netflix verfügbar.

Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

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