Rose Ayling-Ellis spielt die Hauptrolle im neuen Crime-Drama „Code of Silence“.
Bild: ITV
Entweder es geht um die Kriminellen oder um die, die sie fassen wollen – selten aber werden beide Perspektiven gleichzeitig gezeigt. Das macht die neue britische Serie „Code of Silence“ durch eine wesentliche Figur möglich: Alison (Rose Ayling-Ellis), eine junge, gehörlose Frau, die einem Ermittlungsteam mit ihrer Fähigkeit, Lippen zu lesen, helfen soll. Aber kann sie den geplanten Raub wirklich verhindern, bevor sie selbst zu tief hineingerät?
Am 18. Mai hat das kurzweilige Crime-Drama „Code of Silence“ in Großbritannien Premiere gefeiert. Die sechs Episoden drehen sich um Alison Woods: Die junge Frau arbeitet in der Kantine eines Polizeireviers in Canterbury. Sie ist gehörlos und hat sich selbst das Lippenlesen beigebracht. Diese Fähigkeit hat sie im Rahmen ihrer Anstellung vermerkt – so greift ein Ermittlungsteam auf sie zurück, als die üblichen „Profis“ nicht verfügbar sind.
Alison soll den Detectives dabei helfen, den nächsten großen Coup einer gefährlichen Gang zu verhindern. Natürlich wissen die Kriminellen, dass die Polizei ihnen auf der Spur ist. Deshalb treffen sie sich immer dort, wo sie nicht abgehört werden können. Da kommt Alison als Lippenleserin ins Spiel: Sie sieht sich die Live-Streams und Aufzeichnungen an, um herauszufinden, was die Gang plant. Eine Hilfe ist ihr Neuling Liam (Kieron Moore), der wohl von der Gruppe als Hacker rekrutiert wurde. Wofür – das ist das große Geheimnis, das Alison lüften will.
Alison (vorne im grünen Pullover) hilft als Lippenleserin den Detectives bei den Ermittlungen.
Entgegen den Anweisungen der Polizei beginnt sie auf eigene Faust zu ermitteln. Dabei trifft sie schließlich auf Liam und baut ein Vertrauensverhältnis zu ihm auf. Das macht sie für die Ermittelnden zu einer unverzichtbaren Informantin. Doch wie lange kann Alison den Schein wahren und ab wann vermischen sich die Gefühle mit ihrer Aufgabe?
Das Konzept ist einerseits so simpel, dass es verwunderlich ist, warum es noch keine Serie dieser Art gibt. Andererseits verbergen sich hinter dem Offensichtlichen komplexe und scharfsinnige Details, die „Code of Silence“ zu einer Serie machen, in der nicht nur die Lippen, sondern zwischen den Zeilen gelesen werden muss.
Rose Ayling-Ellis verkörpert die junge Protagonistin Alison Woods mit viel Charme und Selbstbewusstsein. Denn das ist Alison auch: Sie fordert Detective James Marsh (Andrew Buchan) heraus, als er vor ihren Augen über sie tuschelt; sie ergreift Eigeninitiative, als sie mit Ermittlerin Ashleigh Francis (Charlotte Ritchie) in einer Bar die Gang beobachtet, jedoch nicht nah genug ist, um Lippen zu lesen. Wie jede gute Heldin bringt sie genau diese Eigenschaften manchmal auch in große Schwierigkeiten: Als sie Liam mit dem Fahrrad zu einem geheimen Treffen folgen will, fährt sie ihm vors Auto. Und das hat auch nichts damit zu tun, dass sie gehörlos ist: In einer Szene erklärt Alison selbst, so etwas sei ihr noch nie passiert. Somit macht Schauspielerin Ayling-Ellis durch ihre Darstellung glasklar, dass Alison nicht durch ihre Behinderung oder gar ihre Fähigkeit, Lippen zu lesen, definiert wird. Vielmehr geht es um eine junge Frau, die sich selbst befähigt, um sich aus den Schubladen, in die die Gesellschaft sie steckt, zu befreien.
Ermittlerin Ashleigh (Charlotte Ritchie, l.) wird zur Kontaktperson von Alison (Rose Ayling-Ellis, r.).
Das macht „Code of Silence“ auf mal direkte, mal subtile Art immer wieder deutlich: Als Gehörlose wird Alison in erschreckend vielen alltäglichen Situationen unterschätzt, ignoriert und missachtet. Sei es, wenn sie bei ihrem Zweitjob gefeuert wird, weil sie eine Bestellung, die ihr nachgerufen wird (und sie folglich nicht sieht), nicht aufnimmt; oder auf dem Revier, wo sie wiederholt erklären muss, warum sie einen direkten Blick auf die Gesichter braucht, da sie sonst keine Lippen lesen kann. Umso aussagekräftiger ist Alisons Aussage an einem Tiefpunkt in der ersten Folge, als sie sich wünscht, die Dinge wären anders: Und zwar nicht, dass sie hören kann, sondern dass alle anderen es mal nicht könnten. Wer zu der Gruppe „alle anderen“ gehört, wird spätestens an dieser Stelle realisieren, dass der erste Schritt in Richtung Inklusion Empathie ist.
Liam ist der Neue in der Gang – ihm kommt Alison näher, um mehr über den geplanten Raub in Erfahrung zu bringen.
Auch unabhängig davon hat „Code of Silence“ als Crime-Drama-Serie viel zu bieten: Durch Alison, die von der Lippenleserin zur Informantin wird, bekommt man als Zusehende die seltene Gelegenheit, das geplante Verbrechen und die Ermittlungen gleichzeitig zu erleben. Die meisten Krimi-Formate drehen sich entweder um das eine (die Tat) oder das andere (die Ermittlung), oder aber es wird beides nacheinander, beziehungsweise mit Rück- und Vorausblenden erzählt. Eine parallele und vor allem „neutrale“ Erzählperspektive, weil Alison weder Kriminelle noch Ermittelnde ist, sorgt für frischen Wind in dem äußerst abgegrasten Crime-Genre, in dem es kaum bis gar nichts gibt, was es nicht gibt.
Visuell überzeugt die britische Serie auf ganzer Linie. Wie Untertitel werden die Worte, die Alison den Gang-Mitgliedern von den Lippen liest, eingeblendet – aber nicht in der richtigen Reihenfolge. Es ist wie ein Puzzle oder Rätsel, das, wenn auch für wenige Sekunden, für Höchstspannung sorgt: In diesen Momenten ist der Zusehende nämlich für einmal nicht „allwissend“. Auch die Detectives, die sich häufig überheblich präsentieren, sind plötzlich im Nachteil.
Alison braucht mehrere Jobs, um über die Runden zu kommen. Einer davon ist „zufällig“ in der Stamm-Kneipe der Gang.
Denn Alison ist die Einzige, die aus dem angezeigten Buchstabensalat kohärente Worte und Sätze erkennt – erst verzögert werden die Aussagen in korrekter Schreibweise abgebildet. So wird klar, dass das Lippenlesen kein selbstverständlicher „Nebeneffekt“ der Gehörlosigkeit ist, sondern eine komplizierte Technik, die auch professionelles Training bedarf. Obwohl Alison letzteres nicht vorweisen kann, glänzt sie in ihrer Aufgabe – was ihr wiederum den Mut gibt, mehr aus ihrem Leben zu machen. Musik und Sounds werden bescheiden verwendet, manchmal auch bewusst gedämpft und vollkommen stumm geschalten, um möglichst nah an der Protagonistin zu sein. Auch diese Stilistik sorgt für elektrisierende Momente der Spannung, in der Stille so viel mehr auslöst als Lärm.
Für Crime-Fans, die einen 08/15-Kriminalfall mit Standard-Figuren und den typisch vorhersehbaren Ermittlungsschritten sehen wollen, ist „Code of Silence“ nicht das Richtige. Wer sich aber für einen ungewöhnlichen Blick zwischen kriminell und gesetzestreu, normal und außergewöhnlich, hörend und gehörlos begeistern kann, wird von der neuen Serie positiv überrascht sein.
Meine Wertung: 5/5
„Code of Silence“ feierte am 18. Mai in Großbritannien Premiere. Die erste Staffel umfasst sechs Episoden. Geschrieben wurde die Serie von Catherine Moulton, die aus ihren eigenen Erfahrungen geschöpft hat. Neben Rose Ayling-Ellis in der Hauptrolle sind Kieron Moore, Charlotte Ritchie, Andrew Buchan, Joe Absolom, Beth Goddard und Andrew Scarborough zu sehen. Eine deutsche Heimat für die Serie gibt es noch nicht.
Über die Autorin
Originalität – das macht für R.L. Bonin eine Serie zu einem unvergesslichen Erlebnis. Schon als Kind entdeckte die Autorin ihre Leidenschaft für das Fernsehen. Über die Jahre eroberten unzählige Serien unterschiedlichster Genres Folge für Folge, Staffel für Staffel ihr Herz. Sie würde keine Sekunde zögern, mit Dr. Dr. Sheldon Cooper über den besten Superhelden im MCU zu diskutieren, an der Seite von Barry Allen um die Welt zu rennen oder in Hawkins Monster zu bekämpfen. Das inspirierte sie wohl auch, beruflich den Weg in Richtung Drehbuch und Text einzuschlagen. Seit 2023 unterstützt sie die Redaktion mit der Erstellung von Serienkritiken. Besonders Wert legt sie auf ausgeklügelte Dialoge, zeitgemäße Diversity und unvorhersehbare Charaktere.
Ich verstehe, was User1810 meinte: Du bekommst ein Produkt angepriese in höchsten Tönen und zum Schluss kommt ein "Sorry, aber anschauen kannst es nicht.". Kein Weltuntergang und dient vielleicht auch dazu um auf Streaming Dienste Druck zu machen es aufzunehmen. Aber halt etwas entschäuschend für den Leser.
User 1810564 (geb. 1968) am
In Großbritannien veröffentlicht, von einem Start in Deutschland ist bei der Kritik nichts zu lesen, einfach nur zum Kopfschütteln.
spontaneously written am
Am Ende steht doch "Eine deutsche Heimat für die Serie gibt es noch nicht.". Was man nicht weiß, kann man nicht erwähnen...
Ich bin mir nicht hunderprozentig sicher, worauf sich das "Kopfschütteln" beziehen soll. Einerseits bespricht unsere Redaktion häufiger Serien im Umfeld der Weltpremiere (die bei Streamingdiensten dann häufig auch parallel in Deutschland zu sehen ist aber nicht sein muss). Andererseits kann man aus "unserer Heimatregion" Köln britisches TV auch über Satellit empfangen.
Flapwazzle am
@User 1810564 Auch wenn die Serie noch nicht in Deutschland verfügbar ist, kann man sich bei einer ansprechenden Kritik solche Serien zumindest schon einmal vormerken und wird so informiert, wenn ein deutscher Anbieter gefunden wurde.