Mila (Derya Akyol) hadert in „Euphorie“ mit sich und der Welt.
Bild: RTL/Zeitsprung
„Deutsche Serien gucke ich schon lange nicht mehr!“ Ein nur zu vertrauter Satz, vor allem im Zeitalter der Streamingdienste, die ein gigantisches Angebot an fiktionalen Inhalten aus aller Welt geradewegs zu uns nach Hause spülen. Den schlechten Ruf haben sich heimische Fernsehproduktionen zu einem Gutteil selbst zuzuschreiben. Denn Mut und Ideenreichtum gedeihen hierzulande eher selten. Dass bei aller berechtigten Kritik ein pauschaler Rundumschlag aber wenig hilfreich ist, zeigt das neue RTL+-Jugenddrama „Euphorie“, das im Sommer 2025 mit seinen ersten drei Episoden beim Filmfest München seine Weltpremiere feierte und schon dort bestens ankam (siehe hier). Kantige, unbequeme Stoffe haben auch in deutschen Redaktionen eine Chance, und gerade junge Kreative sind im Stande, Aufregendes zu leisten – wenn man sie mal richtig machen lässt!
Grundlage der Coming-of-Age-Serie ist das israelische Format „Euphoria“, das 2012 das Licht der Welt erblickte. Die aufwühlende Geschichte um die Träume, Sorgen und Sehnsüchte einer Gruppe von Teenagern erlangte erst durch die von Sam Levinson auf den Weg gebrachte, mit Marvel-Star Zendaya prominent besetzte US-Version gleichen Namens weltweite Bekanntheit. Da die Macher der deutschen Fassung lediglich die Rechte an der Ursprungsserie erwarben, muss es nicht verwundern, dass sie sich inhaltlich in manchen Punkten deutlich von der gefeierten Neuverfilmung abheben. Eine transsexuelle Figur, wie sie Hunter Schafer im amerikanischen „Euphoria“ verkörpert, gibt es bei uns beispielsweise nicht.
Mila (Derya Akyol) ist auf Basti (Kosmas Schmidt) schlecht zu sprechen.RTL/Zeitsprung
Vergleiche drängen sich natürlich dennoch auf. Die RTL+-Interpretation schafft es allerdings sehr schnell, ihren eigenen Weg zu finden, das Grundkonzept des Originals in einen hiesigen Kontext zu verpflanzen. Verortet ist „Euphorie“ im Schmelztiegel des Ruhrgebiets, genauer gesagt in Gelsenkirchen. Dreh- und Angelpunkt der Handlung ist die 16-jährige Mila (Derya Akyol), die nach einem vermeintlichen Selbstmordversuch in der Jugendpsychiatrie landete.
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Nun, drei Monate später, kehrt sie in ihr altes Leben zurück – und damit auch an ihre alte Schule, was ihr ganz und gar nicht schmeckt. Sieht sie dort doch Mädchenschwarm Basti (Kosmas Schmidt) wieder, der vor ihrer Einweisung ein Sexvideo mit Mila groß in Umlauf brachte. Ein Grund, warum sie die Welt einfach nur zum Kotzen findet. Bei einer Party kommt sie kurz darauf mit ihrem Mitschüler Jannis (Eren M. Güvercin), einem aufstrebenden Jungschauspieler, ins Gespräch, der trotz bester Karriereaussichten verzweifelt nach seinem Platz im Leben sucht. Anders als er betäubt Mila ihre Unsicherheiten und ihre Frustration zu Beginn noch nicht mit Drogen, was sie wiederum von der Protagonistin des US-Remakes unterscheidet, die von Anfang an unter einer starken Abhängigkeit leidet.
Milas Ringen um etwas Halt wird erschwert, als mit Ali (Sira-Anna Faal) das Mädchen wieder auftaucht, in das sie sich in der Klinik verliebt hat, die dann aber über Nacht von der Bildfläche verschwand. Die Gefühle sind sofort wieder da. Parallel genießt Mila aber auch die Gesellschaft von Jannis, dessen Weltschmerz sie so gut verstehen kann.
Jannis (Eren M. Güvercin) und Mila (Derya Akyol) sind beide auf der Suche.RTL/Zeitsprung
Durchaus gewagt ist das, was die kreativ Verantwortlichen um Headautor Jonas Lindt und das Regieduo André Szardenings und Antonia Leyla Schmidt in Angriff nehmen. Ernste, sensible Themen wie psychische Erkrankungen und Drogensucht werden auf betont poppige Weise inszeniert. Von den ersten Momenten an begleitet uns Milas mitunter sarkastischer Voice-over-Kommentar, der manchmal sogar allwissenden Charakter annimmt. Immer wieder lässt sie uns auf verbal ruppige Weise an ihren Gefühlen und Gedanken teilhaben oder aber berichtet, was andere junge Menschen in ihrem Umfeld umtreibt und beunruhigt. Des Öfteren durchbricht die Serie außerdem die vierte Wand. Soll heißen: Milas Blicke und/oder Worte richten sich direkt an uns, die Zuschauer. Die Illusion der fiktionalen Welt gerät auch dann ins Wanken, wenn sich urplötzlich ein Scheinwerfer auf eine der Figuren richtet. Irritationen wie diese sorgen dafür, dass man sich nicht einfach nur zurücklehnen kann. Bertolt Brechts episches Theater lässt grüßen, mit dem der berühmte Dramatiker verhindern wollte, dass sein Publikum zu tief im Geschehen versinkt.
Ein spannender Kniff ist es, in der dritten Folge unverhofft die Erzählperspektive zu wechseln. Auf einmal kommentiert Borderline-Patientin Ali ihre Geschichte, ihre Vergangenheit und ihre Zeit mit Mila in der Psychiatrie. Gerade in ihrem Fall findet „Euphorie“ Mittel und Wege, psychische Probleme und Ängste visuell greifbar zu machen. Am eindrücklichsten wohl in einer Animationssequenz, die Alis Sehnsucht nach Geborgenheit bei gleichzeitiger Furcht vor zu viel Nähe betont. An anderer Stelle sind Milas Beschreibungen zur Wirkung bestimmter Medikamente in surreal-prägnante Bilder gegossen: Glücklich lächelnd tänzelt die junge Frau in Zeitlupe über einen hell erleuchteten Klinikflur und klatscht dabei das Personal und andere Patienten ab. Um uns das turbulente Innenleben der Charaktere zu vermitteln, kommt überdies ein abwechslungsreicher Soundtrack zum Einsatz, der 90er-Jahre-Klassiker ebenso beinhaltet wie moderne Hip-Hop-Songs und Retro-Hits.
Ali (Sira-Anna Faal) fällt es nicht immer leicht, zu kämpfen.RTL/Zeitsprung/Nirén Mahajan
Mit ihrer enormen Dynamik, ihrer sehr agilen Kamera und den vielen optischen Kabinettstückchen spiegelt die Serie die Lebenswirklichkeit der sogenannten Gen Z, die im Zeitalter von Smartphones und sozialen Medien aufgewachsen ist. Eine Generation, der unzählige Optionen offen stehen, die vielleicht so viel kommuniziert wie keine vor ihr, die aber trotzdem alles andere als frei von Einsamkeit, Zukunftsängsten und Erwartungsdruck ist. Dass Mila den Boden unter den Füßen verliert, die Welt verteufelt, hängt eben nicht nur mit dem geleakten Sexvideo oder dem Auseinanderbrechen ihrer Familie nach der erfolgreich überstandenen Krebserkrankung ihrer Mutter (Halima Ilter) zusammen. Auch die Krisen unserer Zeit, allen voran die Corona-Pandemie und die drohende Klimakatastrophe, nagen an ihrem Gemütszustand, befeuern den Wunsch, der immer komplexeren und bedrohlicheren Realität, wenigstens kurz, zu entfliehen. Schön, wie hier in kleinen Dosen gesellschaftliche Aspekte in die Handlung miteinfließen.
In den ersten vier von insgesamt acht Episoden, die für diese Kritik gesichtet wurden, ist die Zeichnung der Nebencharaktere zwar nicht in allen Fällen in gleichem Maße überzeugend. Ein wenig nach Klischee riecht beispielsweise die Figur von Jannis’ Vater (Ken Duken), der sich bloß für die Karriere seines Sohnes zu interessieren scheint. Mit Blick auf das zentrale Trio – Mila, Ali und Jannis – findet die Serie trotz aller Inszenierungskunstgriffe jedoch ausreichend Zeit, um zu entschleunigen und emotional tiefer zu schürfen. Dass viele der kleinen, intimen Szenen ungemein berühren, liegt nicht zuletzt an einem wunderbar ungekünstelt aufspielenden Ensemble. Mit ihren großen, ausdrucksstarken Augen ist Derya Akyol sicherlich der Fixpunkt von „Euphorie“. Die Kollegen an ihrer Seite tragen aber ebenso dazu bei, dass diese Neuverfilmung für eine deutsche Produktion ungewöhnlich aufrichtig wirkt. Ob sich in den restlichen vier Kapiteln daran noch etwas ändert? Schwer zu glauben …
Meine Wertung: 4/5
Am Donnerstag, dem 2. Oktober gehen alle acht Folgen der Serie „Euphorie“ bei RTL+ an den Start.
Über den Autor
Christopher Diekhaus, Jahrgang 1985, erlebte seine TV-Sozialisation in den 1990er-Jahren. Seine echte Liebe für den Flimmerkasten entbrannte allerdings erst gegen Ende der Schulzeit. Nach seinem Studium landete er zunächst in einer Film- und Fernsehproduktionsfirma. Seit 2013 schreibt Christopher als Freiberufler Film- und Serienkritiken. Das Portal fernsehserien.de unterstützt er seit Ende 2019. Im Meer der Veröffentlichungen die Perlen zu entdecken – diese Aussicht spornt ihn immer wieder an. Insgeheim hofft er, irgendwann eines seiner in der Schublade liegenden Drehbücher zu verkaufen. Bis er den Oscar in Händen hält, sichtet und rezensiert er aber weiter fleißig die neuesten Serien.