„American Song Contest“ bricht mit vielen ESC-Traditionen – zu vielen – Review

Wie viel Eurovision Song Contest steckt noch in der US-Adaption?

Lukas Respondek
Rezension von Lukas Respondek – 29.03.2022, 10:00 Uhr

Snoop Dogg und Kelly Clarkson moderieren den „American Song Contest“ – Bild: Trae Patton/NBC
Snoop Dogg und Kelly Clarkson moderieren den „American Song Contest“

Was Europa bereits seit 1956 feierlich veranstaltet, wagen nun auch die Vereinigten Staaten: die Suche nach dem besten originalen Song in Form eines staatenübergreifenden Musikwettbewerbs, der ab heute auch auf ServusTV gezeigt wird. Doch wie viel „ESC“ steckt im „American Song Contest“ – und taugt die Adaption des US-Networks NBC zu mehr als bloß einem Zeitvertreib bis zum nächsten Eurovision Song Contest im Mai?

Die Spannung im vergangenen Jahr war groß, als bekannt wurde, dass die USA ihren eigenen ESC erhalten. Ein Jahr später ist es nun soweit – doch wer eine 1-zu-1-Adaption des ESC für die US-amerikanische Region erwartet, wird enttäuscht: Denn der „American Song Contest“ bricht mit so vielen altbekannten ESC-Traditionen, dass sich durchaus die Frage stellt, was der ASC noch mit dem einst als Grand Prix Eurovision de la Chanson Européenne gestarteten Schlagerwettbewerb zu tun hat.

Die Grundidee ist dabei tatsächlich dieselbe: Jeder Staat schickt seinen eigenen Song ins Rennen – und am Ende küren das Publikum und eine Jury den Siegertitel. Doch die hohe Anzahl an Teilnehmern im ASC, der sich insgesamt aus 50 Bundesstaaten, fünf Außengebieten („territories“) und dem Distrikt der Hauptstadt Washington, D.C. zusammensetzt, hat zufolge, dass der Wettbewerb in mehreren Runden ausgetragen wird. Dies geschieht nicht wie beim ESC in zwei Halbfinals, die noch in der Woche des großen Finals ausgetragen werden, sondern in einem wöchentlichen Rhythmus über zwei Monate hinweg: Der Wettbewerb umfasst somit ganze acht Liveshows – und hier liegt bereits die erste Krux.

Fast so blumig geschmückt wie Karl Moiks Musikantenstadl: Kelsey Lambs Auftritt für Arkansas Trae Patton/​NBC

Eingebettet in eine wöchentliche Ausstrahlung mangelt es dem ASC an der Ereignishaftigkeit eines Eurovision Song Contests, der nach vielen Wochen der internationalen Songsuche in internen Auswahlverfahren oder öffentlichen Vorentscheiden und weiteren Wochen der Vorbereitung, Probe und Promo in dieser einen Maiwoche gipfelt, in der sich die meisten Teilnehmer erst in einem von zwei Halbfinals qualifizieren müssen, um noch in derselben Woche in der international vielbeachteten Samstagabend-Finalshow aufzutreten. Dieser enge zeitliche Rahmen für insgesamt drei Liveshows macht aus der ESC-Woche ein Festival, während der ASC durch seine wöchentliche Ausstrahlung am NBC-Montagabend nicht wie ein Festival daherkommt, sondern wie die achtteilige Staffel einer von vielen Castingshows.

Genre-Vielfalt auf der Bühne

Den ASC gleich als beliebige Castingshow abzustempeln, wird dem besonderen Format jedoch nicht gerecht: Zwar findet die Show nicht in einer großen Arena, sondern in einem der vielen kalifornischen Fernsehstudios statt, doch muss man ihr trotzdem zugutehalten, dass sie als wöchentliche Liveshow mit Teilnehmern und vor allem mit originalen Songs aus dem gesamten US-Gebiet auffällt. Gecovert wird hier nichts. Dem Publikum werden also nicht bloß frische Künstlerinnen und Künstler präsentiert, sondern ebenso viele frische Songs. Zum Entdecken neuer Musik eignet sich der ASC also ebenso gut wie der ESC.

Hierbei bekommt man Musik aus verschiedensten Musikrichtungen zu hören: „Pop, Rock, R&B, Latin, Electronic, Hip-Hop“ werden allein zu Beginn der ersten Show genannt. Tatsächlich ist von Popmusik der Band Yam Haus aus Minnesota über Cowboy Western Rap aus Wyoming bis zu K-Pop aus Oklahoma einiges an musikalischer Vielfalt vertreten. Und mit Michael Bolton („How Am I Supposed to Live Without You“, 1989) steht ein nicht unbekannter Sänger für Connecticut auf der Bühne.

Ein Cowboy rappt über seine Stiefel: Ryan Charles für Wyoming Trae Patton/​NBC

An die musikalische Vielfalt – und teilweise auch Kuriosität – des Eurovision Song Contests kommt der ASC zumindest in der ersten Vorrunde nicht heran. Hier gelingt es dem ESC, mit den sehr vielen und sehr verschiedenen (Musik-)Kulturen und Sprachen Europas eine noch abwechslungsreichere Auswahl an dargebotenen Songs zu bieten. So stellt sich der Einbezug von US-Außengebieten wie Puerto Rico, einer überwiegend von spanischen Muttersprachlern bewohnte Region, als Gewinn für die Show heraus. Ganz ohne englischsprachigen Songtext kommen aber selbst K-Pop und Latin Pop in der ersten Sendung nicht aus.

Viel Zeit für wenig Musik

In weiteren Punkten unterscheidet sich der ASC ebenfalls deutlich vom ESC: In den Einspielern, die vor den Auftritten die Künstler und ihre Heimat vorstellen, kommen die Künstler selbst, aber auch Freunde zu Wort. Und das kann sich ziehen. Michael Bolton wird etwa in mehr als zweieinhalb Minuten vorgestellt, was die Show massiv ausbremst. Vom ESC ist man da spürbar mehr Tempo gewohnt – was sich auch an anderen Stellen der US-Adaption zeigt, die bei NBC nach fast jedem der elf Songs aus Show 1 durch eine Werbepause unterbrochen wird.

Auch dem Moderationsduo Snoop Dogg und Kelly Clarkson wird viel Sendezeit gewidmet. Gemeinsam feiern und loben der grundentspannte Rapper und die „American Idol“-Siegerin jeden einzelnen Auftritt oder heben gegen Mitte der zweistündigen Sendung im „ASC Halftime Report“ ein sportliches Highlight aus einem der bereits gezeigten Auftritte hervor. Selbst für völlig unpassende Quizfragen zu den einzelnen Bundesstaaten ist zwischendurch noch Zeit. Den Eurovision Song Contest dagegen erwähnen die beiden Moderatoren in einem einzigen Satz – kaum hörbar inmitten des jubelnden Studiopublikums. Mehr Fokus auf den musikalischen Kern würde dem ASC guttun.

Yeah Yeah Fire: Auch Keyone Starr aus Mississippi kann FuegoTrae Patton/​NBC

Bei all den Längen zwischen den Auftritten erstaunt es umso mehr, mit welch überrumpelnder Geschwindigkeit am Ende der ersten Sendung die Entscheidung verkündet wird: In unter zwei Minuten wird derjenige Act bekanntgegeben, der durch das Ranking der 56 Jurys direkt für das Halbfinale qualifiziert wird – damit hakt der ASC die Juryentscheidung noch schneller ab als Florian Silbereisen den Recall am Ende der neuen „DSDS“-Castingfolgen. Welche drei weiteren Songs ebenfalls ins Halbfinale kommen, erfahren die Zuschauer erst in der Folgewoche – denn das Publikumsvoting läuft über die Sendezeit der Liveshow hinaus.

Umzingelt von LED-Screens

Immerhin visuell ist die Sendung ansprechend gestaltet. Auch wenn es ungewohnt ist, während der Auftritte den durchgehend eingeblendeten TikTok-Profilnamen der Künstler zu sehen, ist das Design der Show rundum gelungen und enthält quasi alle Farben, die der NBC-Pfau und die Regenbogenflagge hergeben. Auch die Wandelbarkeit des Studios zahlt sich aus: Jeder Auftritt sieht völlig anders aus, denn nicht nur der Hintergrund der Bühne besteht aus einer LED-Wand, sondern auch die Seiten und sogar der Boden der Bühne, auf der bei manch einem Auftritt eindeutig zu viele Menschen gleichzeitig stehen. Es wird mitunter unübersichtlich. Plötzlich lernt man das bei ESC-Auftritten geltende Sechs-Personen-Limit zu schätzen.

Es geht auch reduzierter: Hueston singt für Rhode Island Trae Patton/​NBC

All diese Brüche mit liebgewonnenen ESC-Traditionen machen aus dem „American Song Contest“ nicht die Art von US-Adaption, die sich Fans erhofft haben mögen. Zu sehr wirkt das Konzept in die Konventionen eines US-Networks gepresst. Doch als letztlich schön gestaltete Musikshow mit lauter neuen Titeln, eignet sich die Show wunderbar, um frischer US-amerikanischer Musik vor allem von Newcomern zu begegnen und die einzelnen Staaten der USA endlich abseits der rot und blau eingefärbten „Magic Wall“ von CNN-Moderator John King kennenzulernen.

ServusTV zeigt den „American Song Contest“ ab heute, 29. März, dienstags gegen 22 Uhr mit deutschsprachigem Kommentar.

Über den Autor

Lukas Respondek verpasste zwar als Kind der späten 90er Jahre die Hochphase der Gameshows, kann sich aber auch nachträglich für die kurzweiligen Sendungen des frühen Privatfernsehens begeistern. Aufgewachsen mit zahlreichen Animes und aufregenden Senderstarts gräbt der stolze Gewinner einer „Live nach Neun“-Badeente heute in allerlei Archiven nach Meilensteinen und Kuriositäten der Unterhaltungsgeschichte. Ausgerüstet mit Fernbedienung, Festplatte und freier Sicht nach 19,2° Ost setzt sich Fernsehhistoriker Lukas gegen das Versenden ein. Der studierte Medienwissenschaftler ist seit 2014 Teil der Redaktion von fernsehserien.de und behält dort sowohl längst vergessene als auch noch gar nicht angekündigte Sendungen im Auge. Seit 2020 ist Lukas außerdem Juror beim Grimme-Preis.

Lieblingsserien: Detektiv Conan, Brooklyn Nine-Nine, Die 6 Siebeng’scheiten

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • (geb. 1971) am

    Geschätzte Redakteure, was soll ein Distrikt sein?
    • am via tvforen.de

      Wie ausgeprägt sind dort eigentlich die Sympathien und Abneigungen zwischen den einzelnen Staaten?
      In etwa so stark, dass sie wie beim ESC bei der Punktevergabe eine Rolle spielen könnten?
      Sprachbarrieren und länderspezifische Kulturkreise dürften dort jedenfalls weniger eine Rolle spielen.
      • am via tvforen.de

        andreas_n schrieb:
        -------------------------------------------------------
        > Wie ausgeprägt sind dort eigentlich die
        > Sympathien und Abneigungen zwischen den einzelnen
        > Staaten?
        > In etwa so stark, dass sie wie beim ESC bei der
        > Punktevergabe eine Rolle spielen könnten?
        > Sprachbarrieren und länderspezifische
        > Kulturkreise dürften dort jedenfalls weniger eine
        > Rolle spielen.

        Spannendes Thema. Da treffen verschiedene "Strömungen" aufeinander.

        An erster steht der Patriotismus für Amerika, den jeder kennt und der teilweise voll die Klischees erfüllt.

        Dann gibt es die Liebe für den Bundesstaat, äußert sich auch in den Spitznamen der Staaten, der Autokennzeichen und diversen anderen Kleinigkeiten. Das kann auch wechseln, weil Amerikaner sehr oft umziehen.

        Zusätzlich gibt es die Bürgerkriegslager, ähnlich wie bei uns West-Ost. Gerade die Staaten im Süden halten zusammen, auch weil sie kulturell oft ähnlich unterwegs sind. Das wäre dann der ominöse Ostblock des ESC.

        Zuletzt gibt es noch die örtlichen Patrioten. Da ist die Stadt, die local community das Wichtigste, jeder kennt jeden, das Übliche. In größeren Städten ist es vergleichbar mit Fußballvereinen. Wenn jemand sagt, er kommt aus New York, ist das, als ob jemand sagt, ich bin FC Bayern Fan seit der ersten Sekunde meiner Geburt.

        Als Besonderheit gibt es noch die ethnische Herkunft, die durchaus eine Rolle spielt. Man ist nicht Amerikaner, sondern Irish-American oder Hispanic-American (ich habe keine Ahnung, wie sich die Gruppe gerade nennt). Selbst wenn der Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Uropa zu einem Drittel Schotte war, wird das "Scottish Heritage" gefeiert, habe ich selbst erlebt.
        Meine Familie ist selbst ein Mix aus Deutsch, Waliser und Amerikaner. Außer dass ich zweisprachig aufgewachsen bin und als Kind ein beeindruckendes Vokabular an Militärschimpfwörtern hatte (hat sich leider nicht gehalten), fühle ich mich mehrheitlich Deutsch. Dennoch ist das für die amerikanische Verwandtschaft immer Thema.

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