„Altered Carbon“: Netflix präsentiert eine tragische Verschwendung genialer Ideen – Review

Ambitionierte Science-Fiction-Serie scheitert bei der praktischen Umsetzung

Bernd Krannich
Rezension von Bernd Krannich – 01.02.2018, 17:45 Uhr

Schöne neue Welt in „Altered Carbon“ – Bild: Netflix
Schöne neue Welt in „Altered Carbon“

Willkommen in der schönen neuen Welt von „Altered Carbon“, dem 25. Jahrhundert, wo die Menschheit den Tod überwunden hat. Der Verfall der „sterblichen Hülle“ ist nicht mehr gleichbedeutend mit dem Todesurteil. Dadurch ist die Welt aber für die meisten nicht besser geworden, eher schlechter. Als Guide für den Zuschauer fungiert Takeshi Kovacs, der gerade für 250 Jahre in einem elektronischen Gefängnis eingesperrt war und nun von dem superreichen und sehr alten Laurens Bancroft auf die Erde geholt und reaktiviert wurde, um einen Mord aufzuklären: Den Mord an Laurens selbst.

Das alleine hört sich schon verwirrend an, und leider gelingt es der Auftaktepisode von „Altered Carbon“ nicht, diese Informationsflut in verdaubarer Form zu liefern, auch wenn dem Zuschauer immerhin gleich zu Anfang eine kurze Schulung gegeben wird. Jeder Bürger erhält im Alter von einem Jahr einen Datenspeicher („Stack“) in den Nacken implantiert, auf dem die Persönlichkeit in elektronischer Form gesichert wird. Im Falle des „Todes“ kann von diesem Speicher die Persönlichkeit auf einen Computer übertragen werden und ebenso leicht in einen anderen Körper – nurmehr eine beliebig austauschbare Hülle („Sleeve“) – übertragen werden. Und natürlich muss man nicht bis zum Tod warten: Wer genug Geld hat, kann jederzeit in einen bereitstehenden anderen Körper wechseln. Daneben kann man in Datenform via „Needle Cast“ überlichtschnell zu jedem von Menschen besiedelten Planeten gelangen.

„Altered Carbon“ beschäftigt sich im Umfeld seiner Detektivgeschichte mit den vielfältigen Implikationen und Komplikationen, die mit der neuen Technologie einhergehen. Schwierig wird der Einstieg, denn in der Auftaktepisode bekommen die Zuschauer den Protagonisten Takeshi gleich mit vier unterschiedlichen Gesichtern zu sehen. Einerseits in seiner aktuellen Hülle, dem fast schon grotesk muskulösen Körper von Joel Kinnaman („The Killing“). Daneben in der Hülle, in der er vor 250 Jahren wegen terroristischer Vergehen verhaftet wurde. Darüber hinaus lernen wir den Sohn einer japanischstämmigen Mutter und eines in Polen verwurzelten Vaters als kleinen Jungen kennen, der auf der fremden und harschen Siedlerwelt Harlans World aufgewachsen ist. Und schließlich tritt er in der Hülle von Will Yun Lee als, als ursprünglichen, erwachsenen Takeshi, der einst vom Gangster zum Soldaten zum Mitglied der terroristischen Gruppierung der Envoys wurde.

Takeshi Kovacs (Joel Kinnaman) ist ein schlagkräftiger und wenig zimperlicher Ermittler.

Auf der anderen Seite findet sich der von James Purefoy („Rom“, „The Following“) dargestellte Laurens Bancroft. Zur Zeit, als die Stack-Technologie entwickelt wurde, war er ein einflussreicher Industriemagnat. Mittlerweile lebt er seit mehr als 350 Jahren und gehört somit zu den Meths, wie der Club der Superalten in Anlehnung an die biblische Figur Methusalem genannt wird. Kürzlich ist Bancroft in seiner Residenz getötet worden. Mit einer Pistole, zu deren mit Gen-Scan gesichertem Aufbewahrungsort nur Bancroft und seine langjährige Ehefrau Miriam (Kristin Lehman, „Motive“) Zugang haben. Mehr noch: Auch der Stack wurde dabei vernichtet. Würde sich Bancroft nicht regelmäßige, automatische „Sicherheitskopien“ via „Needle Cast“ leisten, wäre es das für ihn gewesen, doch so sind seine Daten auch außerhalb seines Stacks gespeichert gewesen. Die Polizei, vertreten durch die dickköpfige Kristin Ortega (Martha Higareda), kam nach Sichtung aller Indizien zu dem Schluss: Selbstmord, da Miriam Bancroft ihre Unschuld via Lügendetektor nachweisen konnte. Selbstmord ist allerdings etwas, was sich Bancroft einfach nicht vorstellen kann – denn wenn er sich hätte umbringen wollen, dann hätte er das „richtig“ gemacht: „Real Death“ („RD“), bei dem alle seine eben als Sicherheitskopie hinterlegten Persönlichkeitsdaten gelöscht worden wären.

Um seinen Tod aufzuklären – auch in Hinblick auf mögliche weitere Tötungsversuche – hat der Meth den illustren Takeshi Kovacs aus der Haft gekauft – Haftstrafen werden mittlerweile dadurch abgesessen, dass die Essenz in einem Rechner zwischengespeichert ist. Meths haben genug Geld und Einfluss, um alles zu erhalten, was sie wollen – auch Hafturlaub für Terroristen. Kovacs hat nun ein klassisches Angebot erhalten, das er eigentlich nicht ablehnen kann: Entweder, er klärt den Tod von Laurens Bancroft auf – kommt frei und erhält unvorstellbare Reichtümer -, oder er geht zurück ins „Gefängnis“, in seinem Fall auf unbestimmte Zeit. Trotz anfänglicher Ablehnung nimmt Kovacs den Job schließlich an, nachdem ein Mordanschlag auf ihn – dem Fremden auf diesem Planeten – ihm deutlich macht, dass Bancroft sich wirklich nicht selbst getötet hatte.

Das seit weit mehr als hundert Jahren verheiratete Ehepaar Laurens (James Purefoy, r.) und Miriam Bancroft (Kristin Lehman) – was man sich wohl zum 200. Hochzeitstag schenkt?

Während „Altered Carbon“ wie dargelegt von einer einfachen Grundidee eine faszinierende reichhaltige Ideenwelt aufspannt, ist die Umsetzung leider wenig gelungen. Anzumerken ist dabei auch, dass die Serie auf dem gleichnamigen Roman von Richard Morgan basiert, die bereits viele der Ideen enthält. Allerdings wurden der Serie aber auch einige Fesseln angelegt, von denen sich die Adaption nicht befreien konnte, beziehungsweise Ideen, an deren Adaption die Serie scheitert.

Vieles in der Serie spielt sich in den Körpern und Köpfen der Protagonisten ab. Vor allem Hauptdarsteller Kinnaman verfügt leider nicht über die Fähigkeiten, dieses bewegte Innenleben auf den Bildschirm zu bringen. Takeshi hadert häufiger mit seinen Gefühlen, die durch Begegnungen mit Elementen seiner Vergangenheit auslöst werden. Takeshi gehörte einer Freiheitsbewegung an, den Envoys, die geistige Fähigkeiten bis auf ein Übermaß trainiert hatten – denn interstellare Reisen sind in der Welt von „Altered Carbon“ nur als Datenstrom sinnvoll, so dass man eben in der Regel nur die geistigen Fähigkeiten zu einem Einsatzort „mitnehmen“ kann, wo man in einen neuen Sleeve schlüpft. Nach dem Niederschlag der Bewegung war er der einzige Überlebende – alle Freunde und auch seine große Liebe gelten mittlerweile als Bestien – Bestien, denen etwa eine eigene Ausstellung gewidmet ist, wo die Stacks der gefallenen Envoys präsentiert werden.

Der ursprüngliche Körper von Takeshi (Will Yun Lee) und seine Schwester Reileen Kawahara (Dichen Lachman) im Einsatz für die Envoys

„Altered Carbon“ spielt zudem in einer Welt der Großartigkeit, der die Serienumsetzung auf tragische Weise nicht gerecht wird. Laurens Bancroft ist einer der Superreichen der Zukunft, dessen Residenz sich in der Serie auf dem Dach eines sprichwörtlichen Wolkenkratzers befindet: dauerhaft durch die dichte Wolkendecke von den dreckigen Niederungen abgeriegelt. Alleine, die Serie vermag optisch hier dieser Vorgabe eines prächtigen Herrschaftssitzes nicht gerecht zu werden. Zumeist kann „Altered Carbon“ mit optisch ansprechenden CGI-Kulissen protzen, während die real gedrehten Szenen geradezu billig aussehen, zumindest im Vergleich zu dem, was ähnliche Kinofilme bereits vor zehn Jahren leisten konnten. Auch in Sachen futuristischen Designs bleiben zahlreiche Wünsche offen. Szenen, die sich mit Einrichtungen beschäftigen, in denen Daten in Körper gepackt werden und wo Technik auf Medizin trifft, fordern geradezu zum Vergleich mit HBOs „Westworld“ ein – und schneiden dabei enttäuschend ab.

Eine weitere enttäuschende Kulisse ist das Hotel „The Raven“. In diesem von einer künstlichen Intelligenz namens Poe betriebenen Etablissement hat sich Kovacs eingemietet. Weil der Hotelbetreiber sich an Edgar Allen Poe anlehnt, ist die Einrichtung betont altertümlich gehalten, erinnert dabei etwa durch Verwendung eines Schwarz-Weiß-Röhrenfernsehers aber leider stark an die 1960er Jahre, während Poe im Alter von 40 im Jahr 1849 verstarb.

Die künstliche Intelligenz als leicht alberner Fanboy: Poe (Chris Conner) – gleichsam Hotelbetreiber wie auch Manifestation des Hotels

In vielen Bereichen versucht „Altered Carbon“, den Unterschied zwischen denen oben und jenen unten herauszuarbeiten mit einer „Mittelschicht“ an Leuten, die alles zu tun bereit sind, wenn das Geld stimmt. So erfahren die Zuschauer, dass Bancroft für sich und seine Ehefrau zahlreiche Klone seiner selbst zum Wechseln bereit hält, mit feinster Biotechnologie ausgestattet und je Klon teurer, als ein Normalsterblicher es sich in seinem Leben erarbeiten kann. Auf der anderen Seite sieht man die Wiedervereinigung eines bei einem Verkehrsunfall getöteten siebenjährigen Mädchens, das Anspruch auf einen staatlich gestellten neuen Sleeve hatte, mit seinen Eltern: Das Mädchen ist im verbrauchten Körper einer offensichtlichen Drogensüchtigen gelandet, in einem Sleeve, der deutlich älter als die verzweifelten Eltern ist.

Gescheitert ist der Versuch, Sexualität und Körperlichkeit angemessen auf den Bildschirm zu bringen. „Altered Carbon“ geht hier immer in die Vollen. Sei es, wenn Takeshi auf der Straße in eine aggressive „Werbemaßname“ eines Bordell-Betreibers gerät oder wenn ihn seine Ermittlungen in ein heruntergekommenes Etablissement bringen, viel nackte Haut wird den Zuschauern präsentiert. Daneben gilt auch in der Zukunft Jugend und ein makelloser Körper in der High Society viel, so dass Miriam Bancroft selten mehr als eine dünnes, den Körper kaum verhüllendes Gewand zur Schau trägt. Es gelingt aber nicht, die rücksichtlose Sexindustrie angemessen in ihrer Widerlichkeit darzustellen oder Miriam als das geradezu überirdisch verführerische Wesen, das die Supperreiche dank der modernen Medizin sein müsste.

Das Beste an „Altered Carbon“: Detective Kristin Ortega (Martha Higareda)

Größtes Asset der Serie ist dann auch Detective Ortega: Eine engagierte berufstätige Frau in einer korrupten Welt, die mit einer willensstarken Mutter, einem dem Geld hörigen Chef, einem väterlichen Partner im Polizeidienst und einem gebrochenen Herzen zurechtkommen muss. Nun muss sie sich auch noch mit dem interstellaren Terroristen Kovacs und dem leicht rachsüchtigen Bancroft herumschlagen. Zudem entstammt sie einer katholischen Familie, was sie bei „Altered Carbon“ in einen ethischen Zwiespalt bringt: Katholiken lehnen es ab, nach dem Tod des Körpers nochmals zurückgerufen zu werden, da sie dann nicht in Gottes Paradies eingehen könnten. Das macht sie zu bevorzugten Opfern von Raubmorden – denn jedes andere Opfer würde von der Polizei einfach in eine virtuelle Realität geladen („Spun up“), um eine Aussage abzugeben. Ortega selbst ist nicht ganz davon überzeugt, dass das der richtige Weg ist, denn so kann sie etwa ihren verstorbenen Vater nicht wiedersehen.

Wie schon angesprochen, überflutet die Auftaktepisode von „Altered Carbon“ den Zuschauer mit zahllosen Informationen und nicht-linearer Erzählweise, dazu gesellen sich auch noch Halluzinationen von Kovacs und zahlreiche Andeutungen, die erst später zu Fakten ausgebaut werden. Erst Mitte bis Ende der zweiten Folge hat „Altered Carbon“ seine Welt soweit erklärt, dass man dem Zuschauer einzelne Facetten vermitteln kann.

Aber auch der Bancroft-Clan wird erst später beleuchtet. Ihr eigenartiges Liebesleben der Superreichen, die über Jahrhunderte miteinander liiert sind, 21 gemeinsame Kinder haben, die Laurens in Art eines mythischen Kaisers beherrscht: Alle hängen von seinem Geld ab – ein Strom, der bei seinem „Real Death“ aber sofort versiegen würde. So übt er Druck aus, etwa indem er seine Kinder im „Rentenalter“ zwingt, ihr Leben in Klonen ihrer selbst zu verbringen, die stets um die 20 sind.

„Altered Carbon“ bietet insgesamt ein reichhaltiges Buffet an interessanten Ideen über die menschliche Existenz. Leider ist deren Umsetzung optisch nicht zufriedenstellend, erzählerisch überfrachtet und verworren und in einen verwirrenden Fall verpackt, in dem die Figuren selten organisch zu agieren vermögen.

Darüber hinaus reißt die Serie auch noch zahlreiche Themen an, die interessanter erscheinen als der Detektivfall. Etwa die Tatsache, dass die Technik, der die Menschheit ihre „Unsterblichkeit“ verdankt, auf Funde einer untergegangenen außerirdischen Zivilisation zurückgeht, oder auch alleine wie die Welt der Zukunft eigentlich aufgebaut ist. Oder die Welt der künstlichen Intelligenzen, von denen Poe eine ist. Und schließlich die Frage, wie sich die Welt in den letzten vierhundert Jahren entwickelt hatte, was in einzelnen Sequenzen angerissen wird. So weiß man kaum, ob man sich nach der enttäuschenden Auftaktstaffel eine Fortsetzung wünschen soll, in der solche Themen noch aufgegriffen werden könnten.

Dieser Text basiert auf Sichtung der ersten fünf Episoden der Serie „Altered Carbon“.

Meine Wertung: 3/​5


Bernd Krannich
© Alle Bilder: Netflix


Die zehnteilige erste Staffel von „Altered Carbon“ wird am 2. Februar 2018 bei Netflix veröffentlicht.

Über den Autor

Bernd Krannich ist Jahrgang 1974 und erhielt die Liebe zu Fernsehserien quasi in die Wiege gelegt. Sein Vater war Fan früher Actionserien und technikbegeistert, Bernd verfiel den Serien spätestens mit Akte X, Das nächste Jahrhundert und Buffy. Mittlerweile verfolgt er das ganzes Serienspektrum von „The Americans“ über „Arrow“ bis „The Big Bang Theory“. Seit 2007 schreibt Bernd beruflich über vornehmlich amerikanische Fernsehserien, seit 2014 in der Newsredaktion von fernsehserien.de.

Lieblingsserien: Buffy – Im Bann der Dämonen, Frasier, Star Trek – Deep Space Nine

Kommentare zu dieser Newsmeldung

    weitere Meldungen