Das deutsche Fernsehjahr 2020 im Rückblick (Teil 1): Quarantäne-TV, Masken-Shows und Wendler-Wahnsinn

Trash-TV-Tiefpunkte mit „Promis unter Palmen“ und „Sommerhaus der Stars“

Glenn Riedmeier
Glenn Riedmeier – 25.12.2020, 09:00 Uhr

Sexismus-Vorwürfe gegen „M.O.M – Milf oder Missy?“

Joyn

Auch der Streamingdienst Joyn geriet in die Kritik. Grund war eine extrem fragwürdige Werbekampagne, die für „M.O.M – Milf oder Missy?“, die erste nonfiktionale Eigenproduktion des Anbieters, gestartet wurde. Die Datingshow will angeblich untersuchen, welche Rolle das Alter bei der Partnersuche spielt. Es wirken sowohl ältere als auch jüngere Frauen mit. Auf den Plakaten zur Sendung, die in deutschen Innenstädten hingen, wurden die Kandidatinnen abgebildet und mit Sprüchen wie „Was Altes? Was Junges? Was Neues!“ oder „Freitags ist MILF Time.“ versehen. Auf Twitter erntete Joyn dafür einen heftigen Shitstorm. Sexismus, Objektifizierung und Herabwürdigung von Frauen lauteten die Vorwürfe.

Auch in der Politik wurde die Empörung immer lauter. Unter anderem warf Bayerns Landtagspräsidentin Ilse Aigner dem Anbieter vor, mit der Werbekampagne die Menschenwürde zu verletzen. Für mich steht außer Frage, dass hier Frauen wie Dinge behandelt und bewertet werden, schrieb Aigner in einem wütenden Brief an den Vorstandssprecher von ProSiebenSat.1. Der herabwürdigende Titel der Sendung sei alles andere als hilfreich für das gesamtgesellschaftliche Bemühen um ein respektvolles Miteinander. Sie appellierte an den Medienkonzern, mehr gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Nachdem sich Joyn zunächst uneinsichtig zeigte, reagierte der Streamingdienst letztendlich doch: Die Plakate wurden abgehängt und die Sendung neu vertont. Insbesondere wurde auf den herabwürdigenden Begriff „Milf“ fortan verzichtet und der Titel der Sendung in „M.O.M – Die neue Datingshow“ geändert.

„Big Brother“-Comeback gescheitert

Jochen „Jocho“ Schropp Sat.1/​Willi Weber

Bei all dem Reality-Wahnsinn geriet ein Format in den Hintergrund, das vor zwei Jahrzehnten die Vorreiterrolle einnahm: 20 Jahre, nachdem „Big Brother“ das erste Mal in Deutschland zu sehen war, wollte Sat.1 mit der Jubiläumsstaffel für Aufwind an seinem chronisch schwachen Vorabendprogramm sorgen – nachdem dort zuvor bereits zahlreiche Genres wie Daily Soap, Quiz, Magazin oder Kuppelshow untergingen. Geklappt hat es nicht, „Big Brother“ blieb die gesamte Laufzeit über hinter den Erwartungen zurück.

Doch woran lag es? Das Problem ist schlichtweg: Zu wenig Zuschauer haben noch die Bereitschaft, sich auf so eine 100-tägige Realityshow einzulassen, und auch keine Geduld mehr zu warten, bis sich etwas langsam entwickelt. Im Gegensatz zu enorm verdichteten, krawalligen Formaten wie „Das Sommerhaus der Stars“ oder „Promis unter Palmen“ soll sich bei „Big Brother“ alles so natürlich und authentisch wie möglich entwickeln – ohne zu viel redaktionelle Einflussnahme, um bestimmte Reaktionen zu provozieren.

Sat.1

Dies hat zur Folge, dass es stets länger dauert, bis man mit den Bewohnern „warm“ wird. Doch aufgrund der langen Dauer baut man auch als Zuschauer letztendlich eine viel stärkere Bindung auf, identifiziert sich mit bestimmten Bewohnern, fiebert mit ihnen mit und hat klare Sympathien und Antipathien. Beim Cast handelte es sich größtenteils um spannende und gleichzeitig angenehm normale, sozial verträgliche Kandidaten. Damit wollten die Macher offenbar ganz bewusst einen Gegenentwurf zum sonst üblichen Proll-Personal liefern.

Bei „Big Brother“ geht es um mehr als nur das kurze Trash-Vergnügen: Die Sendung soll, so weit es geht, das wahre Leben abbilden und wird mitunter auch von der dramatischen Realität eingeholt. So wie in der zurückliegenden Staffel, als die Bewohner in der Isolation zunächst nichts von der Corona-Pandemie mitbekommen haben, bis sie schließlich in einer Sondersendung darüber informiert wurden. Die sichtlich geschockten Bewohner konnten Fragen stellen und erhielten außerdem Video-Botschaften von ihren Angehörigen. Echter und wahrhaftiger war deutsches Reality-TV lange nicht mehr.

Sat.1

Die Zukunftsaussichten für „Big Brother“ sind jedoch alles andere als rosig. Für anspruchsvolleres Reality-TV, in dem nicht alles auf Teufel komm raus auf Krawall gebürstet ist, sind allem Anschein nach viele Zuschauer kaum noch empfänglich. Handwerkliche Mängel, Fehlentscheidungen, die Missachtung der Wünsche der Fans und eine offensichtlich falsche Erwartungshaltung des Senders haben ihr Übriges getan. Ein genauer Blick auf die Quoten offenbart, dass die vergangene Staffel im Schnitt zwischen 800.000 und einer Million Zuschauer verfolgt haben. Verglichen mit den späteren Staffeln bei RTL Zwei fällt der Unterschied gar nicht mal so eklatant aus.

Schon zwischen 2007 und 2011 bestand der harte Kern der deutschen „Big Brother“-Community aus vergleichbaren Reichweiten. Problematisch war allerdings die Tatsache, dass gerade junge Zuschauer in der Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen dem Format fernblieben und die Marktanteile in dieser Altersklasse ungenügend waren. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die Quizshows „5 Gold Rings“ und zuvor „Genial daneben – Das Quiz“ den Rest des Jahres auf dem 19-Uhr-Sendeplatz noch deutlich schlechtere Quoten einfahren – aber eben auch deutlich günstiger zu produzieren sind.

Im zweiten Teil unseres Rückblicks auf das Fernsehjahr 2020 wird es morgen um weitere Themen gehen, die die TV-Welt bewegt haben. Es gab einige Jubiläen zu feiern, doch es haben sich auch langjährige TV-Institutionen verabschiedet. Auch die Frage, welche positiven und negativen Trends sich im zurückliegenden Jahr beobachten ließen, wird beantwortet.

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Über den Autor

Glenn Riedmeier ist Jahrgang ’85 und gehört zu der Generation, die in ihrer Kindheit am Wochenende früh aufgestanden ist, um stundenlang die Cartoonblöcke der Privatsender zu gucken. „Bim Bam Bino“, „Vampy“ und der „Li-La-Launebär“ waren ständige Begleiter zwischen den „Schlümpfen“, „Familie Feuerstein“ und „Bugs Bunny“. Die Leidenschaft für animierte Serien ist bis heute erhalten geblieben, zusätzlich begeistert er sich für Gameshows wie z.B. „Ruck Zuck“ oder „Kaum zu glauben!“. Auch für Realityshows wie den Klassiker „Big Brother“ hat er eine Ader, doch am meisten schlägt sein Herz für Comedyformate wie „Die Harald Schmidt Show“ und „PussyTerror TV“, hält diesbezüglich aber auch die Augen in Österreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten offen. Im Serienbereich begeistern ihn Sitcomklassiker wie „Eine schrecklich nette Familie“ und „Roseanne“, aber auch schräge Mysteryserien wie „Twin Peaks“ und „Orphan Black“. Seit Anfang 2013 ist er bei fernsehserien.de vorrangig für den nationalen Bereich zuständig und schreibt News und TV-Kritiken, führt Interviews und veröffentlicht Specials.

Lieblingsserien: Twin Peaks, Roseanne, Gargoyles – Auf den Schwingen der Gerechtigkeit

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