1992 – Review

Italienisches Zeitgeschichtsdrama startet on demand bei Sky – von Marcus Kirzynowski

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 23.03.2015, 13:08 Uhr

Ein Bulle, der nichts zu verlieren hat: Luca Pastore (Domenico Diele)

Ein besessener HIV-infizierter Polizist, ein skrupelloser Werbefachmann, dem es nichts ausmacht, ob er leicht bekleidete Teenagerinnen oder rechte Politiker an den Mann bringt, ein Irakkriegsveteran, der mit populistischen Reden Politkarriere macht – nicht gerade ein Ensemble an Sympathieträgern, das Sky Italia in seiner zweiten seriellen Eigenproduktion „1992“ präsentiert. Auch sonst macht die Serie es einem – insbesondere als ausländischer Zuschauer – nicht leicht.

„Gomorrha“ war 2014 die erste Serie, die der italienische Sky-Ableger selbst in Auftrag gab. Die ebenso realistische wie cineastisch-stylishe Mafiaserie wurde ein großer Erfolg – nicht nur in Italien. Da dauerte es folgerichtig nicht lange, bis eine weitere Eigenproduktion folgte, die wieder in fiktionalisierter Form auf realen politischen und gesellschaftlichen Hintergründen beruht. Diesmal ist das Thema allerdings nicht so universal geraten, dass man es auch ohne Kenntnisse der italienischen Innenpolitik und Zeitgeschichte auf Anhieb fassen könnte. Das beginnt schon beim kryptischen Titel: 1992 war das Jahr, in dem der Staatsanwalt Antonio Di Pietro eine groß angelegte Anti-Korruptions-Ermittlung begann, die als „Mani Pulite“ (Saubere Hände) berühmt wurde. Ihr fielen zahlreiche Wirtschaftsbosse und Spitzenpolitiker zum Opfer – bis hin zu Ministerpräsident Bettino Craxi, der zwei Jahre später zurücktreten musste. Danach zerbrach auch noch das etablierte Parteiensystem, was noch korruptere Gestalten vom Schlage eines Silvio Berlusconi an die Macht spülte. Für jeden Italiener mag diese Jahreszahl eine ähnliche Symbolwirkung haben wie 9/​11 überall auf der Welt. Als Nicht-Italiener kann man sich darunter jedoch zunächst nicht allzu viel vorstellen, ist man mit der Fülle der realen Namen, die in den ersten Folgen beiläufig erwähnt werden, überfordert. Andererseits: In „The Wire“ wurde auch sehr wenig erklärt.

In sich rasch abwechselnden Sequenzen präsentiert uns die Auftaktfolge zunächst eine ganze Reihe von (fiktiven) Figuren aus unterschiedlichen sozialen Millieus, die erst einmal nichts miteinander zu tun zu haben scheinen: Während der junge Polizist Luca Pastore (Domenico Diele) an einer Razzia gegen den (realen) sozialistischen Politiker Mario Chiesa teilnimmt, der gerade gegen Schmiergeld einen öffentlichen Auftrag vergeben hat (die Geldscheine werden buchstäblich die Toilette wieder hochgespült), kehrt der Soldat Pietro Bosco (Guido Caprino) aus dem Irak zurück. Seine Wut ist dort nicht gerade weniger geworden. Als er nachts einem älteren Mann zu Hilfe kommt, der von zwei Albanern überfallen wird, wird Bosco zum Medienhelden wider Willen – die Zeitungen nennen ihn „Batman“. Der Überfallene war zufälligerweise ein Politiker der neuen aufstrebenden Rechtspartei Lega Nord – für deren Ziele kommt ein Mutiger, der sich gegen ausländische Kriminelle auflehnt, gerade recht und so überredet man Bosco, für sie bei der nächsten Wahl zu kandidieren. Bosco ist einer dieser „kleinen Leute“, die bisher immer nur auf der Verliererseite standen. Seine einzige Motivation ist, es „denen da oben“ mal so richtig zu zeigen. Kein Wunder, dass seine Parolen bei den Lega-Nord-Anhängern Begeisterung auslösen.

Verkauft alles: der Werbefachmann Leonardo Notte (Stefano Accorsi)
Auch Luca Pastore fühlt sich betrogen: Durch eine verseuchte Blutkonserve hat er sich mit HIV infiziert. Daraus resultiert seine Wut gegen ein korruptes System, das so etwas erst ermöglicht hat. Der Kampf des Staatsanwalts gegen Unternehmens- und Parteiführer kommt ihm da gerade recht, um sich rückhaltlos hineinzustürzen. Dabei schreckt er vor nichts zurück, auch nicht davor, mit der Tochter des ebenfalls korruptionsverdächtigen Unternehmers Mainaghi (Tommaso Ragno) Bibi (Tea Falco, Typ Punk und schwarzes Schaf der reichen Familie) anzubandeln. Der Daddy selbst hat eine Affäre mit der wesentlich jüngeren Veronica Castello (Miriam Leone, eine frühere Miss Italia), einem Gelegenheits-Callgirl, das von der großen TV-Show-Karriere träumt.

Seltsam anmutende Fernsehshows, die wie eine Mischung aus der „Mini Playback Show“ und Tutti Frutti wirken, spielen auch in einem anderen Handlungsstrang eine wichtige Rolle: Der Werbezeitverkäufer Leonardo Notte (Stefano Accorsi, der auch die Idee zu „1992“ hatte) sieht in diesen eine Chance, gesetztere Männer mit seinen Spots zu erreichen, die sich vom Anblick der blutjungen, ausgelassen tanzenden Teilnehmerinnen in ganz spezieller Weise angezogen fühlen. Diese Idee wird für ihn zum Einstieg in die Polit-PR.

Ganz schön starker Tobak, den die Serienautoren Alessandro Fabbri, Ludovica Rampoldi und Stefano Sardo – alle Drei schrieben schon die italienische Version von HBOs „In Treatment – Der Therapeut“ – hier schon in der ersten Folge auftischen. Es ist kein positives Bild, das sie von ihrem Heimatland zeichnen, der Titel Gomorrha würde auch hier gut passen. Anders als in der Camorra-Serie ist die Gewalt, die hier porträtiert wird, eine rein strukturelle, die ohne Waffen und physische Angriffe auskommt. Die lässt sich naturgemäß nicht so einfach abbilden wie eine Schießerei unter Mafiosi oder die Exekution eines unschuldigen Opfers. So wirkt die Inszenierung von Giuseppe Gagliardi in den ersten beiden Folgen über weite Strecken etwas dröge, besteht im Gegensatz zu den großartigen Totalen von Stadtlandschaften in „Gomorrha“ überwiegend aus talking heads, aus Menschen im Dialog. Unterbrochen werden diese regelmäßig von recht heftigen Sexszenen, als wäre man plötzlich in eine HBO-Serie geraten. Diese Mischung wirkt anfangs etwas befremdlich, mit der Zeit entwickelt sich aber zumindest ein leichter Sog – wenn man erst einmal halbwegs begriffen hat, wer all diese Figuren sind und wo sich Verbindungen zwischen ihnen ergeben. Dass all das nicht nur ein Mosaik kleiner Einzelschicksale ist, deutet sich nur verhalten an – etwa, wenn in der Ermittlungseinheit der Name Craxi fällt und di Pietro seine Männer ermahnt, diesen nie in den Mund zu nehmen. Dann erahnt man, hinter wem er und der verzweifelte Luca tatsächlich her sind: Ihr Ziel könnte nicht höher hängen.

Die wenigen Szenen, in denen nicht ständig geredet wird, werden gerne von zeitgenössischen Popsongs untermalt. So ertönt etwa der PM Dawn-Hit „Set Adrift On a Memory Bliss“ („Baby, you send me …“), wenn Luca und Bibi nach der ersten Begegnung in der Disco gemeinsam durch die nächtlichen Straßen fahren. Ein Period Piece ist „1992“ trotzdem nicht geworden, dazu sind wohl auch die gezeigten Vorgänge noch zu nah an der italienischen Gegenwart – nicht nur in zeitlicher Hinsicht. In diesen Jahren hat vieles seine Anfänge, was das Land noch heute beutelt (nicht zufällig arbeitet Notte für die Vertriebsabteilung von Mediaset, dem zu Berlusconis Finanzimperium Fininvest gehörenden Medienkonzern, und auch der junge Cavaliere selbst hat als reale Fernsehaufnahme bereits einen Auftritt). Mit der Entscheidung, eine ganze zehnteilige Serie diesem komplexen Thema zu widmen, fordert Sky sein Publikum zwar ziemlich heraus, stellt sich aber auch in beste internationale Pay-TV-Tradition. Die Faszination von „Gomorrha“ erreichen die Macher zwar leider nicht, die meist bemühten Versuche deutscher Fernsehproduzenten, zeitgeschichtliche Themen fiktionalisiert aufzubereiten, lassen sie aber weit hinter sich.

Dieser Text basiert auf Sichtung der ersten zwei Folgen der Serie.

Meine Wertung: 3,5/​5


Marcus Kirzynowski
© Alle Bilder: Sky Italia/​Beta Film

Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

Kommentare zu dieser Newsmeldung

    weitere Meldungen