Prosit, „Aktenzeichen XY …ungelöst“

ZDF strahlt 450. Folge der legendären Fahndungssendung aus – von Ralf Döbele

Ralf Döbele
Ralf Döbele – 21.09.2011, 10:22 Uhr

Im November 1987 holt Eduard Zimmermann seine Tochter Sabine ins Team
Filmfall-Dramaturgie

Markenzeichen von „Aktenzeichen“ waren von Anfang an die Filmfälle, in denen die aufzuklärenden Verbrechen nachgestellt werden. Ohne sie und ihren Wiedererkennungswert wäre „XY“ kaum je zur Kultsendung geworden. Doch warum sind sie bis heute so einzigartig, so gruselig, so spannend, aber mitunter auch unfreiwillig komisch? Eines steht fest, die Schauspielleistungen sind vor allem in den vergangenen Jahren um Einiges besser geworden. Doch heute wie auch in den Anfängen wird hauptsächlich auf die Ähnlichkeit zu den realen Opfern und Tätern hin besetzt, so dass Abstriche bei anderen Kriterien kaum zu vermeiden sind. In alten Fällen findet sich so manches bekannte und äußerst talentierte Gesicht von heute: Jochen Busse, Heiner Lauterbach, Peer Augustinski oder Rolf Schimpf sind nur ein paar Beispiele.

Warum prägten aber nun diese 10- bis 15-minütigen Einspieler ganze Fernsehgenerationen, ließen sie nach der Sendung mit einem recht flauen Gefühl ins Bett gehen oder gar unter Alpträumen leiden? Vielleicht, weil „XY“ seine Zuschauer noch immer regelmäßig mit in reale, albtraumhafte Situationen nimmt und er gar nicht umhin kann, als sich mit dem Opfer zu identifizieren. Das steht schließlich fast immer im Mittelpunkt eines Filmfalls. Gleichzeitig weiß man: Das Verbrechen ist bereits geschehen und mit einem unbarmherzigen Countdown nähert man sich der Tat. Eine Hoffnung ihr zu entgehen gibt es nicht, lediglich sie mit Hilfe der Sendung zu klären. Dabei ist das Leben des Opfers vor der Tat oft so alltäglich, ja fast banal, dass man gar nicht umhin kann, auch Teile des eigenen Lebens darin wieder zu erkennen. Es kann also jedem passieren, auch mir, dem Zuschauer.

Welten, die den Zuschauern fremd sind

Horror im Filmfall damals: Eine junge Architektin wird in ihrer Wohnung von einem Unbekannten getötet (September 1993)
Die Realität des Gezeigten wird zusätzlich durch einen nicht selten unheilsschwangeren Sprechertext unterstützt, der ebenfalls zu einem Markenzeichen der Sendung geworden ist:

„In einer ruhigen Wohngegend am Rand der Stadt wird in wenigen Stunden ein furchtbares Verbrechen stattfinden“. (Oktober 1998)

„Kaja B. bricht morgens um 7:15 Uhr zur Heimfahrt auf. Es wird eine Reise ohne Wiederkehr.“ (November 1987)

„Montag, der 22. Februar 1993, ist für Doris K. nach dem Urlaub ihr erster Arbeitstag – es wird aber auch der letzte Tag ihres Lebens sein.“ (November 1993)

„Der Abend ist perfekt – bis dahin …“ (Februar 2010)

In 44 Jahren sorgten vier langjährige Sprecher für diesen zusätzlichen Gruselfaktor: Wolfgang Grönebaum (1967 – 1989), der später als Hausmeister Egon Kling aus der „Lindenstraße“ bekannt wurde, Isolde Thümmler (1985 – 2005), Joachim Höppner (2001 – 2006) und Michael Brennicke (1989 – 2003, seit 2006). Manchmal war es allerdings auch die Aufgabe der unheimlichen Vier der Realität bei der Vorstellung von Verbrechensopfern unter die Arme zu greifen. Oft zeigten sich Eduard Zimmermann und seine Redaktion darum bemüht, die Hauptfiguren in einem besonders positiven Licht darzustellen – wer weiß, ob sonst so mancher, konservativer Zuschauer zum Telefonhörer gegriffen hätte?

So wurde aus der exzentrisch-chaotischen Besitzerin eines Wiener Elektronikladens eine Frau mit „großzügigem Ordnungssinn“ (Dezember 1975). Ein Macho, der stets mit großer Klappe auf Menschen losging, die ihn nur aus einmal aus Versehen schief ansahen, ging „Zwistigkeiten nicht aus dem Weg“ (September 1989). Eine Frau, die ihre gemeinen Rachepläne in die Tat umsetzt weiß, „dass sie manchmal zu weit geht. Aber sie kann gar nicht anders“ (Februar 1998). Und als ein deutscher Tourist in Amsterdam einen deutschen Stricher mit zu sich in die Wohnung nimmt, ahnt er nicht, dass der die „angebahnte Männerfreundschaft für einen brutalen Überfall missbrauchen will“ (März 1970). Manchmal griff auch Zimmermann persönlich und beschwichtigend ein, so wie im September 1970, als er seinem Publikum die Berührungsangst mit der Welt der „Hippies und Gammler“ nahm und klarstellte: „Nicht alle jungen Leute mit langen Haaren nehmen Drogen“.

„Angebahnte Männerfreundschaft“ in einem Filmfall vom März 1970
Immerhin darf man behaupten, dass Eduard Zimmermann und sein Team wohl niemals einen Fall zurückwiesen, nur weil er in einem Milieu spielte, das man den Zuschauern erst einmal erklären musste – auch wenn sich Zimmermann selbst nicht darin auskannte. Bars, in denen Männer mit „homophilen Neigungen“ miteinander tanzten, Sexshops in denen sich Polizisten noch 1995 darüber wunderten, was es so alles „zwischen Himmel und Erde“ gibt, Jugendliche, die sich mit einem freudigen „Lasst uns dancen!“ zum aktuellen Techno-Sound in Schwung versetzten … Ja, selbst das Milieu der „sogenannten SM-Typen“ war Thema in „Aktenzeichen“. Die Szene der Sadomasochisten war dann auch in Deutschland „größer, als man sich als Normalbürger vorstellt“, was bei einem Todesfall dann die Frage aufwirft: „Betriebsunfall oder Verbrechen?“ In den letzten Jahren ist es den „XY“-Machern gelungen, bei der Darstellung solcher „Welten“ um ein vielfaches souveräner zu wirken als in der Vergangenheit, dabei aber nicht ihren Kultcharakter zu verlieren. Ein kleines Kunststück, das sicher auch die anhaltende Beliebtheit der Sendung erklärt.

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