die nordstory Folge 314: Die ganze Welt auf der Zunge
Folge 314
Die ganze Welt auf der Zunge
Folge 314 (60 Min.)
Kaum etwas spiegelt den Zeitgeist einer Stadt besser wider als ihr kulinarisches Angebot. Durch den innovativen Umgang mit Rohstoffen und Lebensmitteln entwickeln die Menschen das Geschmacksportfolio der Metropole Hamburg stetig weiter. Spürbar nah begleitet diese „nordstory“ Menschen, die sich mit dem Thema Essen auf leidenschaftliche, fantasievolle und individuelle Weise auseinandersetzen. Menschen, für die Essen mehr ist als Kochen, nämlich Wagnis, Neuanfang, Selbstverwirklichung und Lebenselixier. Frank Brüdigam steckt seine bloßen Finger in einen Topf siedendes Wasser. Gleich fertig, jetzt kann die Pasta hinein. Er kocht mit Herz und immer mit den Händen. Er greift auf heiße Herdplatten, in frisches Gemüse und warmes Fleisch. In einer Stadt, in der alles immer schneller geht, wirkt Frank trotz Stress wie ein Fels in der Brandung. Sein Restaurant liegt mitten in Hamburg, es ist einer von aktuell mehr als 5.000 gastronomischen Betrieben der Metropole. Dass er sich bereits seit sieben Jahren auf dem hart umkämpften Markt halten kann, ist seinem Einsatz zu verdanken: kein Stillstand, nie Wochenende, Urlaub schon gar nicht. Warum ausgerechnet Hamburg? Die Einflüsse, sagt Frank Brüdigam. Ringsum die regionale Vielfalt, über den Hafen kommen Gewürze dazu, per Schiff aus Übersee. Janine Op het Veld ist mit dem Flugzeug gekommen. Das war vor einigen Monaten. Seitdem sucht die junge Niederländerin nach einem passenden Raum für ihren Traum: ein vegetarisches und veganes Restaurant mit orientalischen Einflüssen. Auch, wenn „nur Gemüse“ bislang noch eine Nische ist. Im Stadtgebiet gibt es bereits mehr als 200 „vegane und veganfreundliche“ Orte. Janine kann es kaum erwarten, endlich loszulegen! Doch eine passende, bezahlbare Location zu finden, ist unendlich schwer. In ihrer Heimat werden „Durchstartern“ schon mal die ersten Monatsmieten erlassen. In Hamburg ist das anders. Doch Janine kämpft beharrlich und mit Leidenschaft. So wird jeder Tag mit ihr zur Entdeckungsreise: welches Viertel passt zu ihrer Idee? Wie „schmeckt“ die Stadt? Und wo gibt es die besten Produkte? Bei Stevie Engelbrecht in Wilhelmsburg gibt es auf jeden Fall die besten Zucchini. Und es gibt sie massenweise, Ernteschwemme. Da kann man nichts machen, außer sie einzumachen! Das, was übrig ist,
konservieren, bevor es schlecht wird. Und das macht Stevie nicht nur mit Zucchini, sondern mit allem, was in ihrem Garten den Sommer über gewachsen ist. Und das ist weit mehr als nur Gemüse. Minitopia heißt ihr Reich unweit der Elbe, ist 1.000 Quadratmeter groß und für keine Idee zu klein. In einer ehemaligen Lkw-Werkstatt und einem dahinter liegenden, wild wachsenden Garten, hat sich Stevie gemeinsam mit Freunden eine eigene Welt geschaffen. Für den Fall, dass es mit der Welt an sich mal nicht mehr so läuft. Wie wollen wir in Zukunft leben? Wie können wir uns, gerade in der Großstadt, auf begrenztem Raum selbst versorgen? Das sind die großen Fragen, die Stevie antreiben. Die kleinen sind, wie viele Zucchini eigentlich noch wachsen wollen? Das Wort „viele“ hat für Kati Decker und Daniela Sichting eine ganz neue Bedeutung bekommen. Normalerweise machen die Schwestern quietschbunte, kunstvoll dekorierte Cake Pops, Kuchen am Stiel. Jetzt aber stehen sie in ihrer Werkstatt in Ottensen und sehen das Parkett vor lauter Pralinen nicht. 20.500 Stück, das ist ihr bislang größter Auftrag. Alle müssen von Hand gefüllt, auf Stiele gesteckt und verpackt werden. Mama Christine und ihre Freunde helfen mit. Trotzdem: die Zeit rennt! Vor fünf Jahren haben die beiden ihre alten Jobs aufgegeben und sich zuerst dem Kuchen gewidmet, jetzt kommt die Schokolade hinzu. In Hamburg bestehen heißt: sich ständig neu erfinden. Stetig wachsen. Niemals still stehen. Gut, wenn einem „Stillstand“ erst gar nicht im Blut liegt. Wer Thomas Sampl erwischen will, muss flink sein. In einer Sekunde steht er an einem Regal voll Liebstöckel, fährt mit den Händen behutsam über das Kraut. Im nächsten Augenblick sind seine Finger bereits auf den Tasten seines Telefons. Dann beschleunigt der Koch von Null auf Hundert in drei Sekunden und flitzt an der Käsetheke vorbei, schräg links hinterm Salatbuffet entlang durch seine Markthalle. Das Smartphone am Ohr. Eine Reservierung für zwölf Personen? Abgemacht! Hat jemand Äpfel nachbestellt? Wann wird das Wildschwein geliefert? Aufgelegt, schon sitzt er an der Kasse. Das Leben, das er seit Kurzem führt, ist neu für ihn. Koch ist er schon lange, Markthallenbesitzer erst seit August. Im Hamburger Oberhafen geht er ein enormes Wagnis ein: Er eröffnet Restaurant und Lebensmittelgeschäft in einem. (Text: NDR)