The Leftovers – Review

TV-Kritik zum HBO-Drama von Damon Lindelof – von Marcus Kirzynowski

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 21.07.2014, 10:33 Uhr

Sheriff Kevin Garvey (Justin Theroux) versucht, wieder Normalität herzustellen.

Die Erwartungshaltung gegenüber HBOs Dramaserie „The Leftovers“ war höchst ambivalent. Hauptgrund dafür war der Name des verantwortlichen Showrunners: Damon Lindelof. Der feierte zwar als Ko-Schöpfer und einer der Head-Autoren der Mysteryserie „Lost“ große Erfolge, enttäuschte aber mit deren Finale viele langjährige Fans – wie so oft, wenn TV-Autoren sich Staffel für Staffel mit neuen Geheimnissen in die Sackgasse schreiben. Allein die Ankündigung, Lindelof übernehme die Leitung der Adaption von Tom Perrottas Bestseller lösten bei Fans deshalb Befürchtungen aus, die neue Serie könne am Ende einen ähnlich unbefriedigenden Eindruck hinterlassen.

Ob das tatsächlich der Fall sein wird, lässt sich nach drei Folgen naturgemäß noch nicht sagen. Was aber klar ist: Das Ansehen lohnt sich so oder so. Denn egal, wo und wie die Erzählung enden wird, der Weg dorthin ist schon einmal höchst faszinierend. Die Pilotfolge beginnt mit einem echten Schockeffekt: Von einem Moment auf den anderen verschwindet ein Baby auf einem Parkplatz aus dem Auto, buchstäblich vor den Augen der gestressten Mutter. Gleichzeitig scheint um sie herum die Welt zusammenzubrechen: Autos fahren führerlos ineinander, Kinder suchen verzweifelt auf der Straße nach ihren Elternteilen, überall tönen Sirenen, bleiben Notrufe unbeantwortet. Nach diesem effektiven Auftakt führt uns ein Zeitsprung von drei Jahren in die eigentliche Handlung: Wir erfahren – ganz beiläufig, durch im Hintergrund laufende Nachrichtensendungen -, dass an jenem verhängnisvollen Tag zwei Prozent der Menschheit einfach verschwunden sind – weltweit und ohne plausible Erklärung. Natürlich blieb das nicht ohne Folgen für die Gesellschaft: Während die meisten glauben, es handele sich um das Ereignis, dass die Bibel als „The Rapture“ (im Deutschen: „die Entrückung“) prophezeite, haben sich andere völlig vom christlichen Glauben abgewendet, sich in neu entstandene Sekten oder den Nihilismus geflüchtet. Wenn sich Millionen Menschen von einem Moment auf den anderen ohne erkennbare Ursache einfach in Luft auflösen können, welchen Sinn kann das Leben dann schon noch haben? Und selbst, wenn man an die biblische Erklärung glaubt: Wieso gehört man selbst dann nicht zu den Auserwählten, verurteilte Mörder und Kinderschänder aber schon?

Christopher Eccleston als vereinsamter Pfarrer Matt Jamison.

Perrotta und Lindelof interessieren sich anscheinend weniger für das, was passiert ist, sondern vielmehr für dessen Auswirkungen auf die Zurückgebliebenen. Ein ganzes Ensemble unterschiedlichster Figuren begleiten sie bei ihren Versuchen, im Angesicht des in seinen Grundfesten erschütterten Weltbilds irgendwie weiterzumachen – sei es wie bisher oder radikal anders. Im Mittelpunkt der ersten beiden Episoden steht dabei die Familie Garvey, deren Mitglieder dazu höchst differente Ansätze gewählt haben: Während Sheriff Kevin Garvey (Justin Theroux) versucht, seine Restfamilie zusammenzuhalten und insbesondere seiner Teenagertochter Jill (Margaret Qualley) Normalität zu vermitteln, hat seine Gattin Laurie (Amy Brenneman) die Familie verlassen, um sich einer obskuren Sekte anzuschließen. Und Sohn Tom (Chris Zylka) lebt auf der Farm eines selbsternannten Gurus. Gleich in der Auftaktfolge kommt es zur gewaltsamen Konfrontation zwischen den Bürgern der Kleinstadt Mapleton, die ihren verschwundenen Angehörigen am Jahrestag der „Rapture“ bei einem „Heldentag“ gedenken wollen, und den radikal nihilistischen Anhängern der Sekte „The Guilty Remnant“ („Schuldiger Rest“). Die sind der Ansicht, das Leben sei sinnlos geworden und nur in konsequenter Einfachheit überhaupt noch möglich. Diese äußert sich in einem Schweigegelübde und dem Tragen ausschließlich weißer Kleidung (und seltsamerweise auch in Kettenrauchen). Während Kevin merkwürdige (visionäre?) Träume hat und seine Tochter dem ungezügelten Hedonismus frönt, macht ein mysteriöser Fremder Jagd auf Hunde – die seiner Meinung nach keine normalen Hunde mehr sind.

Das mag hier alles etwas wirr und wie aus dem Handbuch für Mysteryautoren klingen – ist aber ungemein packend umgesetzt. Neben dem hervorragenden Schauspielerensemble (insbesondere „Private Practice“-Veteranin Brenneman überzeugt auch, ohne ein Wort zu sprechen) ist das vor allem der Inszenierung zu verdanken. Regisseur des Piloten ist Peter Berg, der seine Karriere als Schauspieler (Dr. Billy Kronk in „Chicago Hope“) begann, bevor er unter anderem den Kinofilm „Friday Night Lights“ drehte und die darauf basierende Serie entwickelte. Auf den von ihm etablierten Stil und die Kameraarbeit von Michael Slovis („Breaking Bad“) und in späteren Folgen Todd McMullen („The Newsroom“) trifft das bei modernen TV-Serien oft bemühte Attribut „filmisch“ wirklich zu: da fällt das Sonnenlicht schon mal direkt in die Kamera, wirken die Figuren oft ebenso entrückt wie die Handlung, werden aufeinanderfolgende Traumbilder fließend ineinander montiert. Gemeinsam mit der minimalistisch-repetitiven, an Philip Glass erinnernden Musik von Max Richter (auch wenn deren häufige Wiederholung im Piloten etwas penetrant wirkt) erzeugt das einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann – wenn man sich denn darauf einlassen kann. Für die weiteren Folgen der ersten Staffel hat unter anderem noch Mimi Leder auf dem Regiestuhl Platz genommen, die zu den prägendsten Regisseurinnen des berühmt gewordenen „ER“-Stils zählte und in den 1990ern auch Action-Blockbuster wie „Deep Impact“ inszenierte.

Nach einer inhaltlich schwächeren zweiten Folge verschiebt sich in der dritten der Fokus komplett auf eine Figur, die vorher nur am Rande vorkam: den vereinsamten und spirituell verirrten Pfarrer Matt Jamison. Der Brite Christopher Eccleston spielt ihn mit solcher Bravour und Ambivalenz, dass man verstehen kann, dass ihm schon nach einer Staffel als „Doctor Who“ die Lust verging. Warum auch jede Woche rumchangieren und vor Aliens flüchten, wenn man auch solche herausfordernden Serienrollen spielen kann? An seiner Seite darf auch Carrie Coon als Jamisons Schwester Nora erstmals glänzen. Bei ihrem Dialog in der Küche prallen zwei Weltanschauungen mit emotionaler Wucht aufeinander, gleichzeitig beleuchtet er die traumatische gemeinsame Vergangenheit der Geschwister, ohne dass das Drehbuch jede Hintergrundinformation explizit ausbuchstabieren müsste. Auch wenn ein entscheidender Plot Twist um den Kampf des Priesters, seine Kirche zu retten, etwas zu vorhersehbar wirkt: Mit dieser Folge wird die Serie endgültig zum Gesellschaftspanorama, das sich erlauben kann, seinen nominellen „Helden“ für 60 Minuten fast völlig zu vergessen, um anhand einer anderen Figur eine fesselnde Geschichte von Schuld und Sühne, Verzweiflung und Hoffnung, Gewalt und innerer Erlösung zu erzählen. Sollte es Lindelof und seinem Team gelingen, dieses inhaltliche und filmische Niveau zu halten, ohne sich in (pseudo-)religiösen Erklärungen zu verlieren, hätte HBO endlich wieder eine Dramaserie, die auch intellektuell höchsten Ansprüchen genügt.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten drei Episoden von „The Leftovers“.

Meine Wertung: 4/​5

Marcus Kirzynowski
© Alle Bilder: HBO

Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

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