Durch ihr Fenster beobachtet Anna (Kristen Bell) das Treiben im Haus gegenüber.
Bild: Netflix
„The Woman in the House Across the Street from the Girl in the Window“ – was, bitte schön, ist das für ein sperriger Titel? Der grotesk lange Name der achtteiligen Miniserie dürfte so manchen Zuschauer verwundern. Offenbar wollen uns die Macher rund um das Showrunner-Trio Rachel Ramras, Hugh Davidson und Larry Dorf, die kreativen Köpfe hinter „Nobodies“, jedoch schon mit der seltsam unhandlichen Benennung auf den satirischen Gehalt ihrer Geschichte stoßen. Dumm nur, dass die neue Netflix-Produktion bis zur Hälfte noch keinen echten Biss zeigt und sich lieber ohne Esprit an bekannten Mustern entlanghangelt. Eine launige und packende Persiflage, wie sie den Verantwortlichen vorgeschwebt sein dürfte, sollte man jedenfalls nicht erwarten – es sei denn, die letzten vier Episoden schaffen es tatsächlich, eine 180-Grad-Wendung hinzulegen und ein paar clevere Ideen zu präsentieren.
Ins Visier genommen haben die Serienschöpfer eine Spielart des Psychothrillers, die in letzter Zeit vor allem auf dem Buchmarkt beachtliche Erfolge feiern konnte. Gemeint sind Werke wie S. J. Watsons „Ich. darf. nicht. schlafen.“, Paula Hawkins’ „Girl on the Train“ und A. J. Finns „The Woman in the Window“. Bestseller über labile Frauen mit brüchiger Wahrnehmung, deren zumeist trister Alltag durch handfeste Zweifel an Bezugspersonen oder durch ein möglicherweise beobachtetes Verbrechen schwer erschüttert wird. Die drei Romane zogen Verfilmungen mit reichlich Starpower nach sich, über die allerdings längst nicht alle Kritiker begeistert waren. Besonders negativ fielen die Stimmen zu Joe Wrights Adaption „The Woman in the Window“ aus, die ursprünglich im Kino starten sollte, dann aber im Zuge des Verkaufs von 20th Century Fox an Disney zu Netflix weitergereicht wurde. Umso amüsanter ist es, dass der US-Streaming-Riese seinen eigenen Erwerb nun mit „The Woman in the House …“ (von jetzt an nur noch abgekürzt verwendet) aufs Korn zu nehmen versucht.
Weil die beschriebene Thriller-Form mittlerweile ein beachtliches Repertoire an Klischees hervorgebracht hat, scheint es durchaus angebracht, die Genrestandards und Figurenaufstellungen ironisch aufzubrechen. Rachel Ramras, Hugh Davidson und Larry Dorf packen dafür jedoch von Anfang an den Holzhammer aus. Ihre Serie dreht sich um eine alleinstehende, sich einsam fühlende Frau, die ihrer Ehe und ihrem Familienglück hinterhertrauert. Schon in ihrem einleitenden Voice-over-Kommentar beschreibt sich diese Anna (Kristen Bell) als höchst unzuverlässig und ausgestattet mit einer blühenden Fantasie. Wenig später taucht sie, bekleidet nur mit einem Bademantel, vor der Schule ihrer Tochter Elizabeth (Appy Pratt) auf, die – so erfahren wir kurz darauf – bereits drei Jahre zuvor ums Leben kam. Das kurze Gespräch mit ihr im Kinderzimmer ist bloße Einbildung.
Anna (Kristen Bell) hat wohl schon einige Weinflaschen geköpft. Netflix
Damit auch wirklich jeder begreift, mit wie viel Vorsicht man Annas Wahrnehmung genießen muss, werden uns ihr beachtlicher Medikamentenvorrat, eine überquellende Schale mit Weinkorken und die stets bis zum Rand gefüllten Weingläser gezeigt, ohne die sie es zu Hause offenbar nicht aushält. Dass in solchen Erzählungen Frauen wie Anna eigentlich immer ein Trauma mit sich herumschleppen, unterstreicht die Serie mit einer bewusst absurden Zuschreibung. Leidet die Hauptfigur in „The Woman in the Window“ unter Agoraphobie, ist es in Annas Fall die sogenannte Pluviophobie, die Furcht vor Regen, die mit dem makabren Ableben ihrer Tochter in entferntem Sinne zusammenhängt.
Licht am Ende des eintönigen Tunnels sieht die Hauptfigur, als gegenüber der schnittige Witwer Neil (Tom Riley) samt Tochter Emma (Samsara Leela Yett) einzieht. Natürlich erhascht Anna einen Blick auf seinen durchtrainierten Körper, als er sich vor dem Fenster umzieht. Und freilich kommt es schon bald zu einer ersten kleinen Annäherung bei einem Abendessen. Ebenso klar ist aber auch, dass die Hoffnungen der jungen Frau nur von kurzer Dauer sind, denn in der zweiten Folge taucht Neils Freundin Lisa (Shelley Hennig) auf. Ein von Anna beobachteter Mord im Nachbarhaus, von dem es keine Spuren gibt, lässt ihre Alarmglocken endgültig schrillen. Während alle um sie herum das Verbrechen für ein Hirngespinst halten, schwingt sich unsere angeschlagene Heldin zur Hobbydetektivin auf.
Hat der nette neue Nachbar Neil (Tom Riley) etwas zu verbergen? Netflix
„The Woman in the House …“ versieht die Protagonistin mit allerlei zugespitzten Attributen, die man aus Büchern und Filmen wie den oben erwähnten kennt, folgt aber erst einmal brav und artig den vertrauten Formeln, anstatt die betont übersteigerten Stereotype auf gewitzte Weise zu unterlaufen. Gewiss, es gibt sie, die schwarzhumorigen Töne – etwa Elizabeths schrecklichen Tod. Beißende Komik lassen die ersten vier Episoden allerdings oft vermissen. Finden die Macher, zu denen als ausführender Produzent auch Spaßexperte Will Ferrell gehört, den Running Gag um einen dümmlichen, Annas Briefkasten fortlaufend reparierenden Handwerker (Cameron Britton) ernsthaft lustig? Fett ausgemalte Klischees einfach aneinanderzureihen, reicht definitiv nicht aus, um sich über die persiflierten Romane und Filme zu erheben.
Immer wieder stellt man sich die Frage, welche Treffer die Miniserie überhaupt landen möchte. Sollen vielleicht misogyne Erzählmuster attackiert werden? Wenn ja, warum zeichnet „The Woman in the House …“ Anna dann als echten Tollpatsch, der sich durch eine Kalle-Blomquist-Recherche auf überschaubarem Spannungsniveau wühlen muss? Als Privatermittlerin Veronica Mars durfte Kristen Bell im gleichnamigen Erfolgsformat da deutlich stärkere Akzente setzen. Mag sein, dass der große Tusch noch kommen wird. Bis zur Hälfte liefert Annas Geschichte aber keine Hinweise auf ein raffiniertes Spiel mit schablonenhaften Elementen. Wie man es deutlich besser macht, hat erst 2021 die AMC-Produktion „Kevin Can F**k Himself“ demonstriert, die zweifelhafte Tropen aus der Sitcom-Welt sarkastisch entlarvt und dekonstruiert. Von etwas Ähnlichem ist Netflix’ „satirische Version eines Psychothrillers“, wie es in der Ankündigung heißt, leider ein ganzes Stück entfernt.
Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten vier von insgesamt acht Folgen der Miniserie „The Woman in the House Across the Street from the Girl in the Window“.
Meine Wertung: 2/5
Die achtteilige Miniserie „The Woman in the House Across the Street from the Girl in the Window“ ist ab dem 28. Januar 2022 bei Netflix verfügbar.
Über den Autor
Christopher Diekhaus, Jahrgang 1985, erlebte seine TV-Sozialisation in den 1990er-Jahren. Seine echte Liebe für den Flimmerkasten entbrannte allerdings erst gegen Ende der Schulzeit. Nach seinem Studium landete er zunächst in einer Film- und Fernsehproduktionsfirma. Seit 2013 schreibt Christopher als Freiberufler Film- und Serienkritiken. Das Portal fernsehserien.de unterstützt er seit Ende 2019. Im Meer der Veröffentlichungen die Perlen zu entdecken – diese Aussicht spornt ihn immer wieder an. Insgeheim hofft er, irgendwann eines seiner in der Schublade liegenden Drehbücher zu verkaufen. Bis er den Oscar in Händen hält, sichtet und rezensiert er aber weiter fleißig die neuesten Serien.