„M – Eine Stadt sucht einen Mörder“: Märchenhaft inszenierter Albtraum – Review

David Schalkos Neuinterpretation liefert bitterböses Gesellschaftporträt

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 22.02.2019, 17:30 Uhr

„M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ – Bild: TVNOW
„M – Eine Stadt sucht einen Mörder“

Es ist sicher das ambitionierteste österreichische Serienprojekt der vergangenen Jahre: ein Remake des legendären Filmklassikers „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ (1931) von Fritz Lang als sechsteilige Miniserie mit Starbesetzung, inszeniert von Kultregisseur David Schalko. Letzterer hat 2012 mit „Braunschlag“ Österreich als Serienland bei den deutschen Nachbarn quasi überhaupt erst ins Bewusstsein gerufen. Folgerichtig ist die Serie „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ dann auch eine Koproduktion des ORF mit der deutschen Mediengruppe RTL. Während ORF eins die Serie ganz traditionell in drei Doppelfolgen in seinem linearen Programm ausstrahlte, werden sie in Deutschland zunächst nur online im RTL-Streamingportal TVNOW veröffentlicht und zwar alle sechs Folgen auf einen Schlag.

Schalko, der gemeinsam mit seiner Ehefrau Evi Romen auch die Drehbücher verantwortet, hat die Handlung vom Berlin der Zwischenkriegszeit ins Wien der Gegenwart verlegt. Während im Vorspann der nur als Schatten zu sehende Mörder jeweils eine mit einem anderen Symbol gefüllte Schneekugel zertrümmert, erscheint auch die Stadt selbst wie in einer solchen: begraben unter einer dichten Schneedecke, aber auch hermetisch eingeschlossen. Die surrealen Elemente der Vorlage treibt Schalko von Beginn an auf die Spitze: Schon in der Anfangssequenz begegnet die kleine Elsie, die im Park ihre rote Winterjacke vergessen hat, auf der Straße einem Horrorclown, der Luftballons mit bedrohlich wirkenden Gesichtern verkauft. Ein alter Mann im Pelzmantel (gewohnt stoisch: Udo Kier) fotografiert überall auf den Straßen, wo etwas passiert (oder eben auch nicht), wie ein notgeiler Stalker. Und Die-Ärzte-Schlagzeuger Bela B gibt als Bleicher Mann der Polizei mysteriöse Hinweise über den Kindermörder, der die Stadt in Atem hält.

Dessen erstes Opfer war ein arabisches Flüchtlingsmädchen, aber erst als die österreichische Elsie ebenfalls verschwindet, beginnen Öffentlichkeit und Politik sich richtig für den Fall zu interessieren. Die Erzählstruktur beginnt noch relativ konventionell mit starkem Fokus auf Elsies leidende Eltern (Verena Altenberger und Lars Eidinger) und die einsetzenden Ermittlungen der Kripo (mit Sarah Viktoria Frick und Christian Dolezal als ungleichem Kommissarsduo), franst aber zunehmend in alle möglichen und unmöglichen Richtungen aus. So ergibt sich nach und nach ein Panorama einer Stadt im Ausnahmezustand, was spätestens dann nicht mehr nur metaphorisch zu verstehen ist, als der karrieregeile Innenminister (Dominik Maringer) eine Ausgangssperre verhängt, vorgeblich um weitere Kindsmorde zu verhindern.

‚Mutter Elsie‘ (Verena Altenberger)

Dass Schalko nicht nur herrlich absurd-lakonische Dialoge schreiben kann, sondern auch ein großer Stilist ist, hat er schon mit seinen vorangegangenen Miniserien „Braunschlag“ und vor allem „Altes Geld“ bewiesen. Diesmal haben seine Bilder (Kamera: Martin Gschlacht) jedoch einen solchen Grad an Stilisierung erreicht, dass man sich viele davon als Filmstill an die Wand hängen könnte. Sein Wien wirkt dabei wie eine Mischung aus dem Gotham in Tim Burtons beiden Batman-Filmen und einer winterlichen Version von „Twin Peaks“ mit lauter verschrobenen – wie schon im Original bis auf die Kinder namenlosen – Einwohnern. Ist diese Stadt also einerseits höchst artifiziell – was sich auch in den Dialogen spiegelt, die oft schon an Poesie grenzen -, verortet er sie andererseits klar im Österreich der Gegenwart mit seinen hysterischen innenpolitischen Debatten. Während der Innenminister mit seinen an die FPÖ erinnernden Forderungen und seinem dem Typus Sebastian Kurz entsprechenden Äußeren die Verbrechensserie für seine eigenen Kanzlerträume missbraucht, bestimmt eigentlich der Inhaber der dominierenden Medien (vom an die reale Zeitung Österreich angelehnten Boulevardblatt bis zum Privatsender) die politische Agenda, indem er die öffentliche Meinung nach Belieben manipuliert. Dass diese Mediengruppe dann noch nach einer Widerstandsgruppe aus der Nazizeit benannt ist, ist besonders perfide. Moritz Bleibtreu gibt diesen Verleger mit Gotteskomplex als eine Mischung aus Kai Diekmann und Matthias Döpfner.

‚Verleger‘ (Mortiz Bleibtreu)

Wie im Original nehmen auch in der neuen Version irgendwann die örtlichen Kriminellenbanden die Suche nach dem Kindermörder – weil er schlecht für ihr Geschäft ist – und damit die Justiz selbst in die Hand. Sophie Rois spielt die Verbrecherfürstin „die Wilde“ wie eine überkandidelte Gundel Gaukeley mit „Zauberstab“ und permanent schlechter Laune. Ihre Bestrafungsaktion einer untergebenen Prostituierten sorgt nebenbei für die absurdeste und vielleicht grausamste Szene der Serie. An absurden Szenen mangelt es aber auch sonst nicht. Die Autoren lieben es etwa, aus einschlägigen Genrefilmen hinlänglich bekannte Standardsituationen aufzugreifen und bis ins Groteske zu steigern, dabei aber auch immer wieder mit den Erwartungen der Zuschauer zu spielen. Beispiel: Was kann ein Vater Blöderes tun, als nachts bei Unwetter mit seiner kleinen Tochter im um das Haus gelegenen Wald Verstecken zu spielen? Er kann den skurrilen Mann, der bei der Suche nach dem Mädchen plötzlich vor ihm steht, bitten, ihm suchen zu helfen. Der bringt das Kind dann erst einmal unbeschadet zum Vater zurück, obwohl wir ihn längst als „M“ (Gerhard Liebmann) erkannt haben.

‚Bleicher Mann‘ (Bela B. Felsenheimer)
Für die Tätersuche selbst interessieren sich Schalko und Romen übrigens am wenigsten, obwohl sie in der zweiten Folge gleich eine ganze Reihe von Verdächtigen präsentieren. Ausgerechnet die mittelalten Männer, die schon qua ihres Berufes Freunde der Kinder sein sollten – der Lehrer und der Inhaber eines altmodischen Süßwarenladens à la Willy Wonka – geraten dabei besonders ins Visier. Anders als in der Vorlage gibt es am Ende sogar eine recht komplexe Hintergrundgeschichte des Serienmörders. Die eigentliche Stoßrichtung ist aber wie gesagt eine ganz andere: Die Autoren arbeiten die zeitlosen und leider immer noch zeitgemäßen politischen und sozialen Aspekte von Fritz Langs Film stärker heraus und spiegeln sie in der oftmals absurd anmutenden innenpolitischen Realität des heutigen Österreich. Einmal mehr muss man dabei den Mut der ORF-Verantwortlichen bewundern, solch ein Projekt in dieser Form abzunehmen. Bei ARD und ZDF wäre so eine Serie mit ihrem ziemlich deutlichen Kommentar zur Regierungspoltik heutzutage unvorstellbar (bei den deutschen Privatsendern sowieso). Natürlich ist die politische Situation hierzulande auch nicht so angespannt, sitzt doch in Deutschland (noch) keine rechtspopulistische Partei in der Regierung – aber immerhin schon im Bundestag und bald wahrscheinlich auch als zweitstärkste Fraktion in mindestens einem Landtag. Die Tendenzen, die die Serienmacher kaum kaschiert kritisieren, sind also universell. Waren diese gesellschaftskritischen Aspekte in „Braunschlag“ noch nur subtil vorhanden und traf die Satire in „Altes Geld“ wegen ihrer mangelnden Zielgenauigkeit seltsam ins Leere, ist sie in „M“ wesentlich treffsicherer.

Könnte man sich so auch an die Wand hängen: (v.l.) ‚Psychologin‘ (Julia Stemberger), ‚Innenminister‘ (Dominik Maringer), ‚Polizeipräsidentin‘ (Johanna Orsini-Rosenberg)

Zwar ist die neue Schalko-Miniserie längst nicht so lustig wie „Braunschlag“ (und will es auch gar nicht sein). Dafür erreicht der Regisseur und Autor mit wunderbaren Bildern, einem eindringlichen Score von Dorit Chrysler, seinem überwiegend überzeugenden deutsch-österreichischen Ensemble und der Mischung aus märchenhafter Albtraumhandlung und bitterbösem Gesellschaftsporträt eine ganz andere künstlerische Qualität. Während deutsche TV-Sender eine Eigenproduktion wie „Babylon Berlin“ als Jahrhundertserie bewerben und dabei trotz Riesenbudgets und zeithistorischem Setting letztlich nur eine solide Kriminalromanadaption herauskommt, steckt der ORF (mit Hilfe RTLs) in Relation ebenso erhebliche Mittel in eine Primetime-Serie, die man nur als Kunst im besten Sinne bezeichnen kann.

Dieser Text auf der Sichtung der kompletten Miniserie „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“.

Meine Wertung: 4,5/​5


Marcus Kirzynowski
© Alle Bilder: TVNOW/​Superfilm/​Pichler/​Pertramer


Die sechsteilige Serie „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ wird in Deutschland am Samstag (23. Februar 2019) beim Streamingangebot TVNOW veröffentlicht. In Österreich erfolgte die Ausstrahlung beim ORF seit dem 17. Februar 2019.

Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • am

    Wenn einem Filmemacher selbst nichts einfällt, krallt er sich einen erstklassigen alten Stoff mit bekanntem Titel und Grundkonzept, walzt ihn zu einer Serie aus, verlegt ihn nach Wien und in die Gegenwart, ungeachtet, daß die Handlung in dieser Dichte heutzutage nicht passieren könnte, sondern die Vorgänge an die Zustände der 20er Jahre mit extremer Armut und vernachlässigten Straßenkindern gekoppelt ist. Natürlich mußten Immigranten, Flüchtlinge, die Huren- und die Bettlermafia mit einer "wilden Wanda" thematisiert werden und die aktuelle Regierung mit einem geschönten Innenminister, FPÖ-Zitaten (diese Kritik war wohl die Hauptabsicht). Die Krimineser werden gegendert, alle Versatzstückeln, ein bißchen Dritter Mann, Kampusch und Peter Pan, die Mutter des Opfers muß hochgefährlich neurotisch sein, Esoterik, Amtsmißbrauch, Mobbing, Medienkampagnen usw.
    Aus dem komprimierten Stoff Fritz Langs, der schon protestierte, als man nach dem Krieg seinen Arbeitstitel für einen neuen Film verwendete, wurde eine langatmige Aneinanderreihung von Klischees, von allem, was einem Autor einfallen kann - schade um die Zeit.
    • am

      schon lange nicht mehr so einen Schrott gesehen

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