„Irma Vep“: Alicia Vikander schlüpft für HBO ins Latexkostüm des Ur-Vamps – Review

Serienversion des Kultfilms als intellektueller Parforceritt

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 06.06.2022, 17:30 Uhr

Alicia Vikander als „Irma Vep“ – Bild: HBO
Alicia Vikander als „Irma Vep“

Mira (Alicia Vikander) ist ein junger Hollywood-Star, international bekannt geworden durch Blockbuster-Superheldenfilme. Doch die Schauspielerin hat genug von Rollenangeboten wie einen weiblichen Silver Surfer zu spielen, sucht nach künstlerischen Herausforderungen. Deshalb übernimmt sie in Paris die Titelrolle einer neuen Fernsehserie über Irma Vep an, einem Remake des berühmten Kinoserials „Die Vampire“ über eine mondäne Gangsterbande aus dem Jahr 1915. Doch schnell stellt sich heraus, dass die Produktion mit allerlei Problemen behaftet ist, allen voran einem psychisch höchst instabilen Regisseur.

Olivier Assayas ist einer der interessantesten zeitgenössischen Filmemacher aus Frankreich. Hierzulande ist er vor allem für seinen TV-Mehrteiler über den Terroristen „Carlos – Der Schakal“ bekannt. Programmkinogänger kennen ihn aber vielleicht auch für seine thematisch vielfältigen Filme, die oft intellektuelle Diskurse mit Genrethemen verbinden und meist mit internationalen Stars besetzt sind, von Maggie Cheung und Asia Argento bis Juliette Binoche und Kristen Stewart. 1996 widmete er sich schon einmal der Figur „Irma Vep“ (einem Anagramm des Worts Vampire), die in der Stummfilmserie von 1916 von der Französin Musidora gespielt wurde, dem ersten Vamp der Filmgeschichte. Dass Assayas nun ausgerechnet für den US-Branchenprimus HBO eine neue Version seiner Geschichte als achtteilige Miniserie inszenieren konnte, ist ebenso überraschend wie folgerichtig.

Filme über das Filmemachen gibt es viele, aber hier haben wir es nun mit dem Serienremake eines Kinofilms zu tun, in dem ein TV-Remake einer Stummfilm-Kinoserie gedreht wird. Um es noch komplizierter zu machen, hat auch innerhalb der Serienhandlung der psychotische Regisseur René Vidal (Vincent Macaigne) bereits vor Jahren eine Kinofassung von „Irma Vep“ gedreht. In der hatte eine chinesische Schauspielerin die Hauptrolle, mit der er später auch verheiratet war. In der Realität spielte Hongkong-Kinostar Maggie Cheung in Assayas’ Kinoversion die Irma Vep, von 1998 bis 2001 waren die beiden dann ein Ehepaar. Solche autobiografischen Bezüge wird man als Insider noch einige finden können und generell wirkt es, als habe sich Assayas mit dem überforderten Vidal selbst porträtiert.

Hollywood-Star in Paris: Mira (Alicia Vikander) HBO

Im Mittelpunkt der Handlung steht aber die US-Amerikanerin Mira, die zunächst mit großer Offenheit in die Welt des europäischen Filmemachens eintaucht. Nach einer Trennung von ihrer früheren Geliebten und Assistentin Laurie (Adria Arjona, „Good Omens“) ist sie auf der Suche nach einer neuen Richtung in ihrem Leben. Die Produktion gestaltet sich aber schwieriger als erwartet: endlose Diskussionen zwischen Regisseur und Schauspielern mit zu großen Egos, diverse Drogen und Medikamente und nicht zuletzt der an sich schon absurde Ansatz, einen Stummfilm zwar mit Dialogen, aber ansonsten eins zu eins neu zu inszenieren. Als dann in der Mitte der zweiten Folge auch noch Lars Eidinger („Faking Hitler“) als deutscher Schauspieler Gottfried von Schalck im Leopardenfellmantel auf unfreiwilligem Crackentzug eintrifft, drohen die Dreharbeiten endgültig im Chaos zu versinken.

Assayas greift einige seiner Themen aus früheren Filmen wieder auf, etwa den Widerspruch zwischen Kommerzkino und Arthouse aus „Die Wolken von Sils Maria“ und generell die Bedingungen des Filmemachens im globalisierten Kapitalismus. So besteht Vidal darauf, dass er keine Fernsehserie mache, sondern einen Film, der lediglich wegen der Länge in acht Teilen veröffentlicht werde. Der Geldgeber meint, dass die Produktion nur eine Nische bediene, aber eben ein Prestigeprojekt sei (ähnlich würde wohl HBO über diese Miniserie argumentieren), und die Schauspieler streiten darüber, ob es nicht eh nur noch darum ginge, Content für die Streamingdienste zu liefern.

Filmkulturen prallen aufeinander: der französische Regisseur René Vidal (Vincent Macaigne) und Mira HBO

Solange große US-Sender noch solche Werke produzieren wie dieses, gibt es aber noch Hoffnung. Denn „Irma Vep“ ist auch als TV-Fassung vor allem eines: sperrig. Zwar hat sich Assayas stilistisch weitgehend zurückgenommen und erfüllt rein optisch internationale Serienstandards (sieht man einmal von den immer wieder eingeschobenen Originalszenen aus der Stummfilmserie ab). Aber inhaltlich wird sehr viel auf höchstem Niveau diskutiert (mal auf Englisch, dann wieder auf Französisch mit Untertiteln) und mit Anspielungen auf Kinogeschichte und Kultur(industrie) um sich geworfen. Aber es gibt auch Humor – vor allem in Form des herrlich überdrehten, zynischen und Crack rauchenden Lars Eidinger – und Poesie – etwa wenn dem ruhelosen Vidal nachts seine Ex-Frau erscheint.

Und dann ist da noch das schwarze Latexkostüm, das Irma Vep auf ihren nächtlichen Raubzügen durch Paris trägt. Wie schon im Kinofilm auf Maggie Cheung scheint es einen ganz besonderen Einfluss auf Mira auszuüben, so dass sie beginnt, tatsächlich in fremde Hotelzimmer zu schlüpfen und Kreditkarten zu stehlen. Und der animierte Vorspann – die Musik stammt von Sonic-Youth-Mitglied Thurston Moore – deutet an, dass es dabei auch bald auf die Hausdächer von Paris gehen wird.

Exzentrischer Schauspieler mit Crack-Sucht: Gottfried von Schalck (Lars Eidinger) HBO

Alicia Vikander (Oscar-Preisträgerin für „The Danish Girl“) ist ganz klar der Star der Serie, sie wirkt fast schon zu sympathisch und natürlich für einen Hollywood-Star. Der Rest des Casts besteht hauptsächlich aus französischen DarstellerInnen, deren Gesichter man teilweise aus dem Arthouse-Kino kennen könnte, etwa Hippolyte Girardot als Obervampir oder Alex Descas als Produzent. Etwas nervig ist Vincent Macaigne mit seinem nicht enden wollenden eintönigen Redeschwall.

„Irma Vep“ ist sicher keine Serie für jedermann. Wer französische Autorenfilme mag, bereit ist, sich auf Neues und Abseitiges einzulassen, und nebenbei noch etwas über frühe Filmgeschichte lernen möchte, sollte aber einen Blick riskieren. Die Faszinationskraft des jungen weiblichen Vamp(ir)s vom Beginn des vorigen Jahrhunderts ist jedenfalls ungebrochen.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten vier Episoden der Miniserie „Irma Vep“.

Meine Wertung: 3,5/​5

Die achtteilige Miniserie läuft ab dem 6. Juni jeweils montags auf HBO. Parallel wird sie im Originalton über Sky Ticket und über Sky Q zum Abruf bereitgestellt. Die lineare Ausstrahlung – dann auch mit Synchronfassung – erfolgt voraussichtlich ab September bei Sky Atlantic.

Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

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