„Beforeigners“: Gelungene ARD-Krimiparabel um Zeitmigranten in Oslo – Review

Wikingerkriegerin und Kommissar ermitteln zwischen Steinzeitmenschen und anderen „Flüchtlingen“

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 12.03.2021, 17:00 Uhr

Das Ermittlerduo Lars Haaland (Nicolai Cleve Broch) und Alfhildr Enginnsdóttir (Krista Kosonen) – Bild: HBO Europe
Das Ermittlerduo Lars Haaland (Nicolai Cleve Broch) und Alfhildr Enginnsdóttir (Krista Kosonen)

Individuelle Schicksale, die von den Wellen der Zeit – im fast wörtlichen Sinne – hinweggespült werden, stehen im Mittelpunkt der ungewöhnlichen Krimiserie „Beforeigners“. Am Anfang ist Kommissar Lars Haaland (Nicolai Cleve Broch) noch ein glücklicher Mann: Gemeinsam mit seiner Ehefrau Marie (Agnes Kittelsen) besichtigt er in Oslo eine schöne Wohnung für die junge Familie, die Beiden machen einen sehr verliebten Eindruck. Als er zu einem nächtlichen Einsatz gerufen wird, scheint es sich nur um Routine zu handeln. Aus dem Hafenbecken wurden Menschen geborgen, die offenbar Isländisch sprechen. Doch der herbeigerufene Dolmetscher kann sie nur mit Mühe verstehen, sie seien keine Isländer, sondern sprächen eine Art Altnordisch und würden behaupten, aus der Vergangenheit zu kommen. Ein Fall für die Psychiatrie, denkt Haaland. Doch in der gleichen Nacht tauchen auch an anderen Orten Menschen im Wasser auf, die mal aus der Wikingerzeit, mal aus dem 19. Jahrhundert und manchmal sogar aus der Steinzeit stammen.

Einige Jahre später ist das sich in unregelmäßigen Abständen wiederholende Phänomen eine fast alltägliche Erscheinung geworden und die norwegische Gesellschaft hat sich durch die Zeitmigranten völlig verändert. Haaland ist geschieden, weil Marie sich in Gregers (Kyrre Haugen Sydness), einen bürgerlichen Mann aus dem 19. Jahrhundert, verliebt hat. Gemeinsam mit Lars’ Tochter Ingrid (Ylva Bjørkaas Thedin) leben sie jetzt zusammen, während Lars psychisch gebrochener Single und zudem abhängig von dem Medikament Temproxat ist, das eigentlich die Nebenwirkungen der Zeitreise lindern soll. Während das Zusammenleben der verschiedenen Kulturen (Höhlenmenschen, Wikinger, Bürgerliche und die in der Jetztzeit geborene Mehrheitsgesellschaft) zu großen sozialen Spannungen führt, tritt mit Alfhildr Enginnsdottir (Krista Kosonen) die erste Zeitmigrantin ihren Dienst bei der Osloer Polizei an. Als eine weibliche Leiche mit steinzeitlichen Tätowierungen gefunden wird, wird das Greenhorn dem abgebrühten Lars als neue Partnerin für die Mordermittlungen zur Seite gestellt. Dass das zu einem Cultural Clash erster Güte führt, versteht sich von selbst.

Multikulturelles Chaos in Oslo: Viele Neuankömmlinge bevorzugen das Leben im Freien. HBO Nordic/​Lukas Salna

„Beforeigners“, die erste norwegische Eigenproduktion von HBO Europe, ist endlich einmal eine Krimiserie mit einer wirklich originellen Prämisse. So ist das ungewöhnliche Gesellschaftsporträt, das das AutorInnenduo Anne Bjørnstad und Eilif Skodvin hier entwirft, auch wesentlich spannender als der eigentliche Mordfall. Viele der Auswirkungen der Migrationswellen werden nur im Hintergrund kurz angedeutet. So beginnt jede Folge nach einigen einführenden Szenen mit einer stets variierten Eröffnungssequenz, in der Lars – mal alleine, mal mit Alfhildr als Beifahrerin – im Auto durch die Osloer Innenstadt fährt. Begleitet vom 1970er-Jahre-Soulsong „Ain’t No Love in the Heart of the City“ von Bobby „Blue“ Bland sieht der Kommissar ungläubig durch seine Seitenfenster, wie sich seine Stadt verändert hat: Nackte Steinzeitmänner sitzen in Bäumen, Langbärtige schlachten Tiere am Straßenrand, Menschen stehen im Fluss und „angeln“ Fische mit Stöcken, Zylinderträger fahren auf Pferdekutschen und telefonieren dabei mit dem Handy. Sehr schön zeigen schon diese wortlosen Impressionen, wie die MigrantInnen einerseits ihre eigenen Kulturen weiterpflegen, andererseits aber durchaus moderne Annehmlichkeiten wie Kopfhörer oder Mobiltelefone in ihren Lebensstil integrieren.

Besonders lustig wird das, wenn etwa der Steinzeitmensch Navn Ukjent (Oddgeir Thune) – eigentlich nur norwegisch für „Name Unbekannt“, denn einige der Neuankömmlinge haben einfach ihre anfängliche bürokratische Bezeichnung als Vor- und Nachnamen behalten – nur im halboffenen Bademantel eine Blogparty im luxuriösen Haus seiner Influencer-Lebensgefährtin besucht. Die kulturelle Beeinflussung ist aber natürlich keine Einbahnstraße, so gibt es auch Menschen aus dem 21. Jahrhundert, die sich einem techniklosen Lebensstil des 19. Jahrhunderts oder von noch früher verschreiben. Herrlich sind auch solche Spitzen wie neue Szenerestaurants als Wikingertreffs, die nur Rohkost und Haferbreie auf der Karte haben (und in manchen Berliner Vierteln wohl schon heute kaum auffielen).

Steinzeitmensch Navn (Oddgeir Thune) läuft gerne nackt herum und erlegt sein Essen selbst. HBO Nordic/​Lukas Salna

Großartig ist die finnische Schauspielerin Krista Kosonen als ehemalige Wikingerkriegerin, die sich als Absolventin der Polizeischule ihren Platz in der Behörde erkämpfen muss. In gegerbter Lederhose stiefelt die toughe junge Frau durch die Ermittlungen, befragt ZeugInnen auf Altnordisch und lässt sich von mobbenden Kollegen und anderen Rückschlägen nicht aufhalten. Ihr bester Spruch zu ihrem neuen Partner Lars, der ein angebotenes Baguette wegen seiner Glutenunverträglichkeit ablehnt: Du willst lieber kein Brot, weil da ein unsichtbarer Dämon drinsitzt – und hälst mich für abergläubisch?!. So werden ganz nebenbei höchst gelungen die Abwege modernen Lebensstils auf die Schippe genommen.

Parallel zu den Ermittlungen der beiden ungleichen PolizistInnen, die naturgemäß an Duos wie Saga Norén und Martin Rohde aus der schwedisch-dänischen Serie „Die Brücke“ erinnern, entwickeln sich auch ihre jeweiligen privaten Geschichten. Bei Lars geht es dabei vor allem um Uneinigkeiten mit seiner Ex-Partnerin in Erziehungsfragen der gemeinsamen Teenagertochter. Alfhildr hingegen trifft immer wieder auf Menschen aus ihrer Vergangenheit, die ebenfalls in der Jetztzeit gestrandet sind: Mit einem früheren Vergewaltiger macht sie auf einer Restauranttoilette kurzen Prozess, ihre ehemalige „Schildmaid“ Urd (Ágústa Eva Erlendsdóttir) will sich nicht an die modernen „verweichlichten“ Zeiten gewöhnen, in der ein „schwächlicher“ Gott, der sich am Kreuz geopfert hat, zum Vorbild geworden ist. Der frühere Anführer von Alfhildr und Urd, Tore Hund (Stig Henrik Hoff), hat sogar sein Gedächtnis verloren und arbeitet als Fahrradkurier. In gelegentlichen Rückblenden in die Wikingerzeit sehen wir auch kurz, wie das Leben der Figuren damals ausgesehen hat – wesentlich blutrünstiger als heute.

Kommissar und Vater: Lars Haaland (Nicolai Cleve Broch) mit Tochter Ingrid (Ylva Bjørkaas Thedin) zwischen Zeitmigranten HBO Nordic/​Eirik Evjen

Die sechsteilige erste Staffel funktioniert auf vielerlei Ebenen: als Krimiserie vor multikulturellem Hintergrund, als amüsante Satire auf zeitgenössische kulturelle Phänomene, vor allem aber als vielschichtige Parabel auf die Flüchtlings- und Integrationsdebatten. Dabei erlaubt der originelle Ansatz der Zeitmigranten, herrliche Seitenhiebe einzubauen, ohne auf Political Correctness Rücksicht nehmen zu müssen: So gibt es etwa einen Security-Dienst namens Cro Magnon, bei dem hauptsächlich Steinzeitmenschen arbeiten. Auf filmisch hohem Niveau und mit überzeugenden unverbrauchten SchauspielerInnen erweist sich die norwegische Produktion auch vielen US-Hochglanzserien als überlegen.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten drei Episoden von „Beforeigners“.

Meine Wertung: 4/​5

Alle sechs Folgen der Auftaktstaffel von „Beforeigners“ laufen am 13. März ab 23:40 Uhr im Ersten und sind ab dem folgenden Morgen um 5:30 Uhr in der ARD Mediathek abrufbar. Linear sind sie noch einmal in Doppelfolgen ab Dienstag, den 13. April um 22:00 Uhr in One zu sehen. Eine zweite Staffel wurde bereits beauftragt.

Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • am

    Eine schöne Serie die man eigentlich jedem empfehlen kann. Die meisten Darsteller machen einen überzeugenden Job, allen voran die "Wikingerfrauen". Ohne zu spoilern, in diesem Kontext mußte ich an einer Stelle der letzten Folge eine Träne wegdrücken.

    Ich freue mich auf die zweite Staffel, die leider auch die letzte sein wird. Aber Miniserien haben Zukunft, wie gerade einige davon auf Netflix beweisen. Quasi XXL Spielfilme mit 6 - 8 Stunden Länge. Klasse, weiter so !
    • am

      Eine wirklich tolle Serie. Ich hoffe, es geht bald mit der 2. Staffel weiter, damit einige der offenen Punkte geklärt werden. Ich gespannt, wie es weitergeht.
      • (geb. 1966) am

        Eine der besten Serien der letzten Zeit. Hat mich manchmal ein wenig an LOST erinnert. Das die erste Staffel offen endet, habe ich erwartet, da ja eine zweite Staffel schon feststeht. Freue mich darauf :-)
        • (geb. 1974) am

          Bzgl.: "Zunächst einmal: schade, dass sich der Autor nicht die Zeit genommen hat, alle 6 Folgen zu schauen" - In diesem Fall fühle ich mich berufen, folgendes klarzustellen: Das Erste hat der Presse lediglich diese drei Folgen vorab zur Sichtung zur Verfügung gestellt.

          Generell beauftragen wir als Redaktion unsere Autoren dazu, zwei Folgen zu sichten (drei bei kurzen Comedys).
          • (geb. 1972) am

            Zunächst einmal: schade, dass sich der Autor nicht die Zeit genommen hat, alle 6 Folgen zu schauen, um dann seine Kritik zu schreiben - sie wäre mitunter anders ausgefallen...


            Ich liebe Krimis und natürlich auch besonders solche aus Skandinavien. Nun dies ist etwas anderes. Mir gefiel direkt der Genremix aus Krimi und Mystery, die Idee das "Problem" der Migranten und Flüchtlinge durch Zeitreisende zu tauschen. Spannend und mit einigen echt witzigen Seitenhieben - schon allein durch das veränderte Frauenbild. 


            ABER, und das ist leider ein großes ABER, was war das denn für ein Ende? So viel lose Stücke, unbeantwortete Fragen - einfach unbefriedigend, leider. 
            • am

              Es spielt in der Gegenwart und nur ab und zu in Rückblenden in anderen Epochen.

              Ich habe die erste Episode gesehen. Ich werde die restlichen Episoden aber auf jeden Fall noch nachholen, weil es imho mit die beste Serie ist, die ich in letzter Zeit aus skandinavischer Produktion gesehen habe!
              • (geb. 1967) am

                Ick wees nich....ick stehe zwar auf Skandinavische Serien, aber soewas....was zum Teil im 19.Jahrhundert und in der Steinzeit spielt??
                • (geb. 1978) am

                  Hm, klingt erstmal zu abgehoben, könnte aber auch was zum Gucken sein.

                  weitere Meldungen