2023/2024
Folge 195
30 Min.„Die Insel der Tausend Leuchttürme“ von Walter Moers: Er ist der Schöpfer von Zamonien und der Erfinder von Käpt’n Blaubär: Walter Moers ist Kult. Auch weil kaum einer weiß, wer Walter Moers ist. Keine Fotos, keine Interviews. Wobei – fast keine Interviews. Denis Scheck hat einen Weg gefunden.
„Druckfrisch“ im Reich der Fantasie. Auf der Bühne der Augsburger Puppenkiste trifft Denis Scheck den Meister der deutschen Fantasy zu einem Gespräch von Marionette zu Marionette. Walter Moers verrät, warum er als Autor lieber unerkannt bleibt, was für ihn Humor bedeutet und warum sein legendärer Erzähler Hildegunst von Mythenmetz Ähnlichkeiten mit Frau Mahlzahn aufweist, dem weiblichen Drachen aus Michael Endes „Jim Knopf“, vielleicht DEM Helden der Puppenkiste.
So schließt sich der Kreis. Denn Hildegunst von Mythenmetz steht auch im Zentrum des neuesten Zamonien-Romans „Die Insel der Tausend Leuttürme“. Die Reise geht auf eine Insel. Dort will der Schriftsteller seine Bücherstaub-Allergie auskurieren. Doch bald schon begegnet von Mythenmetz aufdringlichen tierischen Kreaturen und gefährlichen Dämonen. Die Fantasie-Maschine des Walter Moers rotiert hochtourig, zur Freude seiner vielen Fans.
„Das Meer der endlosen Ruhe“ von Emily St. John Mandel: Was, wenn alles nur eine Simulation ist? Und doch fühlt sich alles so real an. Emily St. John Mandel wagt ein ungeheuerliches Gedankenexperiment und schickt einen mysteriösen Zeitreisenden durch die Jahrhunderte.
Es sind die bekannten Zutaten der spekulativen Literatur, die die kanadische Autorin Emily St. John Mandel in ihrem Roman „Das Meer der endlosen Ruhe“ bemüht: Ein Zeitreisender, der den Ausgang der Geschichte zwar kennt, aber niemals in den Lauf der Dinge eingreifen darf. Eine Weltgesellschaft, die neues Leben auf fremden Planeten sucht. Pandemien, die die Menschheit in ihrer Existenz bedrohen. Alles schon mal gesehen oder gelesen. Und doch saugt einen die sprachliche Wucht von Emily St. John Mandel derart gekonnt in die Geschichte hinein, dass man ihr Buch kaum noch zur Seite legen mag.
Ein adliger Auswanderer, eine junge Frau im Kanada der 1990-er Jahre und die Mondkolonie-Schriftstellerin Olive verbindet ein mysteriöser Moment miteinander. Obwohl sie nichts voneinander wissen, obwohl sie in unterschiedlichen Epochen leben, werden sie Zeugen ein und desselben rätselhaften Phänomens. Nur langsam enthüllt St. John Mandel das Geheimnis dahinter. Denis Scheck hat die preisgekrönte Autorin, deren Vorgänger-Roman „Das Glashotel“ zu den Lieblingsbüchern Barack Obamas zählt, in New York getroffen.
Empfehlung von Denis Scheck: „Schneeflocken wie Feuer“ von Elfi Conrad: Die frühe Bundesrepublik in den 60-er Jahren: Elfi Conrads Roman wirft Fragen nach sexueller Macht und dem Missbrauch dieser Macht auf, die zwar damals spielen, aber doch mitten ins Herz unserer Gegenwart führen.
Eine fast 80-Jährige erinnert sich anlässlich eines Klassentreffens an ihr Leben als 17-Jährige in einer Kleinstadt im Harz. An ihre Mutter, die als BDM-Führerin eine glühende Nazi-Anhängerin war. An ihren Vater, Arztsohn und glückloser Erfinder, der früh in eine Ehe gepresst wurde und nun als Spanner dem Nachbarmädchen mit dem Fernrohr nachstellt. An die dumpfe Atmosphäre der frühen 60-er in der bundesdeutschen Provinz, das unappetitliche Gebräu aus Fremdenfeindlichkeit, Obrigkeitsdenken, stockkonservativen Frauenbildern und sexueller Unterdrückung. Das Mädchen erinnert sich aber auch an das Befreiungsversprechen des Rock’n’Roll und wie sie auf den Plan verfiel, ihren jungen Musiklehrer zu verführen. „Ich war 17, und ich war eine Frau.“ Mit diesem Paukenschlag von einem Satz lässt Elfi Conrad ihren Roman beginnen. „Er hatte keine Chance, mir zu entkommen.“
Was treibt die Erzählerin zu ihrer Verführung an. Handelt sie aus Rache? An wem und wofür eigentlich? „Schneeflocken wie Feuer“ ist ein herausragender Roman über Klassen- und Geschlechtergrenzen in der jungen Bundesrepublik. Über die Rebellion gegen die Zurichtungsmechanismen von Schule und Gesellschaft. Über Verantwortung und Selbstbehauptungswillen.
Außerdem in „Druckfrisch“: : Musik der französischen Pianistin Hélène Grimaud und Denis Schecks erfrischend pointierte Revue der Spiegel-Bestsellerliste, diesmal Belletristik. (Text: ARD)Deutsche TV-Premiere So. 10.09.2023 Das Erste Folge 196
30 Min.Salman Rushdie – Das Interview:
Das erste und einzige lange Fernsehinterview, das der Autor nach dem Attentat gibt, exklusiv für die Literatursendung „druckfrisch“!
Am 12. August 2022 geschah das, was immer im Bereich des Möglichen lag, und doch schockierend unerwartet war: Bei einem Messerangriff wurde Salman Rushdie schwer verletzt. Bis heute ist er auf dem rechten Auge blind und hat kein Gefühl mehr in der Schreibhand. Wie lebt und schreibt ein Mann, dem der Tod seit Jahrzehnten so nah ist?
Seit Salman Rushdie in den USA lebt, also seit mehr als 20 Jahren, schreibt er zweierlei Arten von Romanen. Die einen wie „Wut“ oder „Goldenhouse“ sind satirische Betrachtungen der gegenwärtigen amerikanischen Realität. Die anderen sind lyrische Erzählungen über sein Heimatland Indien. In seinem aktuellen Roman begibt er sich wieder in die indische Geschichte, übrigens an tatsächlichen historischen Fakten entlang, die er in ein Märchen verwandelt, ein goldenes Gespinst, durch das wir wiederum unsere Gegenwart sehen.
Themen wie Migration, Geschlechtergerechtigkeit, Ressourcenausbeutung, religiöser Fanatismus – sie durchziehen dieses Meisterwerk. Schon auf den ersten Seiten von Rushdies „Victory City“ geschieht Unfassliches. Wir sind in Südindien, im 14. Jahrhundert, ein kleines Königreich wird besiegt und die Frauen des Reiches, frisch verwitwet, machen sich auf den Weg an ein Ufer, schichten einen großen Scheiterhaufen auf und schreiten in die Flammen. Allein die junge Pampa Kampana überlebt – und zieht aus, mit göttlicher Kraft und schier unendlicher Lebenszeit gesegnet, eine Stadt zu gründen.
Die Geburt der Stadt ist erst der Anfang einer großen leuchtenden Erzählung, die sich aus so vielen Strängen, Farben und Details zusammenwebt, dass dieser Roman wie ein Literaturkonzentrat wirkt. Die Utopie des friedlichen und nicht-hierarchischen Zusammenlebens muss scheitern, das ist schnell klar, aber der 250 Jahre dauernde Weg in den Untergang der Stadt wiederum ist weit und ausschweifend …
Am 22. Oktober 2023 wird Salman Rushdie schwer bewacht in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennehmen. Mit Denis Scheck spricht er über die seit 1989 über ihm schwebende Fatwa, den Umgang mit der Todesangst, über die Macht der Literatur und seinen aktuellen Roman „Victory City“.
Terézia Mora: Muna oder Die Hälfte des Lebens: Im fatalen Strudel: Der neue Roman der Georg-Büchner-Preisträgerin lässt eine junge DDR-Bürgerin nach dem Mauerfall das Glück in ganz Europa suchen. Ein großer Entwurf über Ambivalenz und Umbrüche, die Abgründe von Liebesbeziehungen und kathartisches Schreiben.
Terézia Mora wurde 1971 im ungarischen Sopron geboren, lebt seit dem Mauerfall in Berlin und veröffentlicht seit 1999. 2013 wurde sie für „Das Ungeheuer“ mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, zehn Jahre später steht sie wieder auf der Shortlist. Terézia Mora lässt in ihrem neuen Roman zum ersten Mal eine weibliche Ich-Erzählerin auftreten und begleitet sie von ihrem knapp 18. bis zu ihrem 40. Lebensjahr. Muna ist begabt und euphorisch, neugierig und blauäugig. Und sie steht auf einer wackeligen Basis, mit einem verstorbenen Vater und einer trinkenden Mutter. Im Jahr des Mauerfalls lernt sie ihre große Liebe kennen und verliert sie sofort wieder. Sieben Jahre nach der einzigen Nacht mit Magnus trifft sie ihn in Berlin wieder – der Beginn einer jahrelangen gewalttätigen Beziehung. Erst als Muna das eigene Schreiben entdeckt, hat sie eine Chance, sich aus der giftigen Liebe zu lösen. Tröstlich ist nichts in Terézia Moras neuem Roman, und doch liest man ihn wie in einem Rausch.
Im Gespräch mit Denis Scheck erinnert sich die Autorin an ihre eigene Zeit in Berlin nach 1990, spricht über toxische Beziehungen und ihre ambivalente Heldin Muna.
Die Empfehlung von Denis Scheck: Alan Garner: Treacle Walker. Übersetzt von Bernhard Robben: Alan Garner ist ein ausgemachter Heimatdichter, fast alle seine Werke spielen im Nordwesten Englands in der Grafschaft Cheshire, wo er geboren wurde und aufwuchs. In „Treacle Walker“ erzählt Alan Garner die Geschichte einer Freundschaft zwischen dem Lumpensammler Treacle Walker und einem kleinen Jungen namens Joseph Coppock, der allein in einem großen Haus lebt und eine Augenklappe trägt wie ein Pirat. Er sei „schwachsichtig“, sagt Joseph Coppock über sich selbst, aber der Lumpensammler Treacle Walker belehrt ihn eines Besseren: Er besitze die Gabe der „Glamourie“, könne in zwei Welten gleichzeitig sehen.
Joseph Coppocks merkwürdig zeitentrückter Alltag wird von drei Zügen bestimmt, die morgens, mittags und abends an seinem Haus vorbeifahren. Zeitentrückt ist ein gutes Stichwort für dieses herrlich spleenige Juwel von einem Roman, denn das Lebensthema des inzwischen fast 90jährigen Alan Garner ist in der Tat die Zeit. „Il tempo è ignoranza“, Zeit ist Unwissenheit lautet denn auch das dem Buch vorangestellte Motto des italienischen Physikers Carlo Rovelli. In der großen Bewährungsprobe, die Joseph Coppock bestehen muss, prallen Mythos und Logos, uralte Legenden, und Quantenphysik, Fantasy und Hightech aufeinander.
Entstanden ist so eine ebenso altersweise Erzählung über Fantasie und Wirklichkeit: profund und doch federleicht. „Treacle Walker“ ist ein Sprachfeuerwerk, ach was, eine Sprachorgie – und einer der zauberhaftesten Texte seit Lewis Carolls „Alice im Wunderland“. Wenn Sie wissen wollen, was Britishness in der Literatur ausmacht: Alan Garners „Treacle Walker“ ist ein Schnellkurs in Literarizität und enthält von Jane Austen über Tolkien bis zu Salman Rushdie alles, was die literarische Größe Großbritanniens definiert. So britisch wie Marmite – genial!
Außerdem in der Sendung: ein Geburtstagsstelldichein mit dem US-amerikanischen Starautor Louis Begley, der am 6. Oktober 90 wurde.
Und wie immer: Denis Schecks pointierte Revue der Spiegel-Bestsellerliste, diesmal Sachbuch, musikalisch eingeläutet mit einem Stargast, nämlich Helge Schneider. (Text: ARD)Deutsche TV-Premiere So. 08.10.2023 Das Erste Folge 197
30 Min.Daniel Kehlmann: „Lichtspiel“:
Ein grandioses Buch, wie es so eines nur alle heiligen Zeiten gibt. In „Lichtspiel“ erzählt Daniel Kehlmann die Geschichte des großen G. W. Pabst, eines der bedeutendsten Filmregisseure überhaupt und Zeitgenossen von F. W. Murnau und Fritz Lang.
Daniel Kehlmann versteht es auf wirklich ganz ausgezeichnete Weise Menschen, Gesichter, auch Filme ganz plastisch zum Leben zu erwecken. Er kriecht in die Menschen hinein und erzählt aus ihnen heraus. So wird „Lichtspiel“ zu einem funkelnden Kaleidoskop der Stimmen und Sichtweisen, aber ganz natürlich bleibt das Buch spannend und unterhaltsam bei höchstem literarischen Können. Bis hinein in die Nebenfiguren.
„Lichtspiel“ zeigt, wie der Filmregisseur G.W. Pabst als Star nach Hollywood kommt und scheitert. Wie er zurückkommt nach Deutschland und wie ihm das Dritte Reich Film um Film ermöglicht. Auch, wie er geführt und überwacht wird von Propagandaminister Goebbels und seinen Handlangern. Wie er selber zum unfreiwilligen Handlanger wird – wie der Regisseur sich schließlich schuldig macht und was diese Schuld mit ihm macht.
„Lichtspiel“ ist absolute Weltliteratur – so ein Buch kommt wirklich nicht dauernd vor in der deutschsprachigen Literatur – und auch nicht draußen in der Welt.
Cornelia Funke: „Die Farbe der Rache“:
Millionen Fans haben dieses Buch voller Sehnsucht erwartet: Band 4 der Tintenwelt. Seit „Tintentod“ sind sechs Jahre vergangen und wieder beschwört Cornelia Funke die Macht und den Zauber der Worte.
Ein spannendes Jugendbuch: Wir begegnen all den Motiven, die Funkes Tintenwelt-Reihe zum internationalen Bestseller gemacht haben: Wofür brauchen wir Geschichten? Welche Bedeutung haben Freundschaften? Was kann uns trösten? Und, klar, gibt es ein Wiedersehen mit bekannten Figuren aus dem Tintenreich: Eisenglanz, Mo, Meggie und natürlich Staubfinger. Besonders an diesem will Orpheus sich rächen. Mittels abgrundböser Zauberei: der Macht der Bilder. Sind die Bilder stärker als die Worte? Staubfinger will und wird es herausfinden. Zusammen mit seinem besten Freund, dem Schwarzen Prinzen. In der Welt aus Fabelwesen und Geschöpfen der Fantasie kommen im vierten Teil nun auch neue Figuren ins Spiel, etwa Lilia, die eine andere Art von Mut und Heldentum verkörpert. „Die Farbe der Rache“, Teil 4 der Tintenwelt-Reihe – ein Genuss für die Funke-Fans.
Die Empfehlung von Denis Scheck: Edward Brooke-Hitching: „Die Bibliothek des Wahnsinns“, übersetzt von Lutz-W. Wolff:
Ein Koran, geschrieben mit dem Blut eines Präsidenten? Eine solche Geschmacklosigkeit gab es tatsächlich – Iraks Diktator Saddam Hussein, selbst ein Blutsäufer, ließ sich Ende des Jahrtausends über Jahre hinweg 27 Liter Blut abzapfen, um die Tinte zu einem kalligraphisch gestalteten Koran herstellen zu lassen. Die Geschichte dieses absonderlichen Werks erzählt der spleenige Engländer Edward Brooke-Hitching in seinem Buch „Die Bibliothek des Wahnsinns“. Und natürlich umfasst dieses Buch der Bücher noch viele andere Skurrilitäten. Jeder, der einen Funken Bibliophilie in sich trägt, wird dieses Buch lieben.
Und wie immer: Denis Schecks pointierte Revue der Spiegel-Bestsellerliste, diesmal Belletristik
Musikalischer Gast: HAEVN (Text: ARD)Deutsche TV-Premiere So. 29.10.2023 Das Erste Folge 198
30 Min.„Alle meine Geister“ von Uwe Timm:
Es wirkt wie eine Welt weit vor unserer Zeit. Dabei ist es nur die Welt des heranwachsenden Uwe Timm in den 1950-er Jahren. Damals macht er eine Lehre zum Kürschner. Sortiert Persianer-Felle – und liest zwischendrin heimlich Bücher. Es ist die Zeit, als feine, aber auch nicht so feine Damen noch Pelze tragen. Als sich kaum jemand Gedanken um Tierschutz macht oder das Tragen eines Hermelinmantels lange nicht als anstößig empfunden wird. Allein in Hamburg gibt es mehrere große Salons mit angeschlossenen Werkstätten. Und auch der junge Uwe Timm ist dazu bestimmt, das Geschäft „Pelze Timm“ von den Eltern zu übernehmen. Aus dieser Zeit erzählt der Schriftsteller in seinem neuen Buch.
Kein Roman, keine echte Autobiographie ist das. Sondern eher ein Erinnerungsversuch. Mal tastet er, wie es gewesen sein könnte. Mal sind es Erinnerungsfetzen, dann wieder romanhafte Erzählpassagen. Denn „Erinnern ist ein merkwürdiges Vergessen“, schreibt Timm in seinem geistreichen Buch, das die Wirtschaftswunderjahre mitsamt seiner kuriosen Gestalten auferstehen lässt. Das aber auch Einblick gibt in das Seelenleben eines Heranwachsenden, der über Umwege zur Literatur findet. Im Sortierzimmer für Pelze geht es schließlich ruhig zu. Und Timm liest unter dem Arbeitstisch Romane von Salinger oder Camus, Werke, die den späteren Bestseller-Autor fürs Leben prägen.
„Mutter (Ein Gemurmel)“ von Kate Zambreno:
13 Jahre lang hat Kate Zambreno an einem Buch über ihre verstorbene Mutter geschrieben. Daraus ist ein „Gemurmel“ entstanden, das die Erinnerung auslotet und immer wieder neu ansetzt. Gemurmel heißt „Mutter“ im Englischen. Wie passend! Richtig bekannt ist die US-amerikanische Essayistin und Autorin Kate Zambreno in der deutschen Literaturwelt noch nicht. Aber keine geringere als die große Siri Hustvedt preist Zambrenos „Gemurmel“ über die Mutter auf dem Buchdeckel als „ein intensives, originelles und überaus intelligentes Werk“. Tatsächlich ist es ein bereits in seiner Form ungewöhnliches, alle gängigen Konventionen sprengendes Erinnerungsbuch, mit dem sich Zambreno ihrer vor 20 Jahren verstorbenen Mutter zu nähern versucht.
Verstörend, so wie der Tod eines nahen Menschen ohnehin ja immer alle Konventionen und Gewissheiten ver- und zerstört. „Mutter (Ein Gemurmel)“ ist mehr Materialsammlung als zusammenhängende Erzählung. Kate Zambreno verschneidet biographische Bruchstücke mit persönlichen Gefühlsassoziationen. Sie kombiniert essayistische Fragmente mit literarischen Verweisen. Und manchmal bleibt auch nur Leere – in Form einer leeren Seite. Es ist der Versuch, den ungeheuerlichen Verlust eines Menschen in Worte zu fassen. Und es ist zugleich der faszinierende Beweis, wie unmöglich das manchmal ist.
Empfehlung von Denis Scheck: „Immer nach Hause“ von Ursula K. Le Guin:
„Die Leute in diesem Buch könnten einst lang, lang nach unserer Zeit in Nordkalifornien gelebt haben werden.“ Mit diesem Hammersatz beginnt der Roman „Immer nach Hause“ von Ursula K. Le Guin. Denis Scheck findet: „Schon die eigentümliche Verschränkung von Futur II und Perfekt macht klar: Hier wird eine Geschichte erzählt, die einesteils unserer Zeit weit entrückt ist und gleichzeitig von menschlichen Universalien handelt.“ „Immer nach Hause“ erzählt vom Volk der Kesh, die in Nordkalifornien in der Gegend des früheren Napa-Valley leben – lange nachdem unsere Zivilisation untergegangen ist. Eine Anthropologin namens Pandora studiert diese Menschen, ihre Lebensweise, ihre Geschichten, ihre Mythen, Musik und Poesie. „Immer nach Hause“ ist ein reiches und wildes Buch: Die unterschiedlichsten Textsorten ergeben einen ganzen literarischen Kosmos. Gedichte sind darin enthalten, Erzählungen, Lieder, ein Kurzroman, Dramen und Märchen.
Es ist das Hauptwerk der großen, immer wieder für den Literaturnobelpreis gehandelten Ursula K. Le Guin. Le Guin, selbst Tochter eines berühmten Anthropologen, starb 2018. Die Kesh aus „Immer nach Hause“ machen vieles anders und besser als wir. So lehnen sie als Sammler-und-Jäger-Anarchisten unsere Vorstellung von Städten, Verwaltung und Regierung strikt ab. Ihr Glück hängt an ihrer geringen Besiedlungsdichte, die sie dank einiger ihre Fortpflanzung einschränkender Gendefekte und einem Tabu auf Familien mit mehr als zwei Kindern erreichen. Im Original erschien dieser Roman 1985, doch er könnte nicht aktueller sein. „Immer nach Hause“ hat das Potenial, zu einem „Herrn der Ringe“ einer ökologisch alarmierten Generation zu werden.“
Außerdem in Druckfrisch: Musik von der „Hochzeitskapelle“ und Denis Schecks erfrischend pointierte Revue der Spiegel-Bestsellerliste, diesmal Sachbuch. (Text: ARD)Deutsche TV-Premiere So. 19.11.2023 Das Erste Deutsche TV-Premiere ursprünglich angekündigt für den 12.11.2023Folge 199
30 Min.Inger-Maria Mahlke über Lübeck im Schatten der Buddenbrooks: Es wurde höchste Zeit für die Geschichte einer Lübecker Familie, die einmal nicht Buddenbrook heißt. Inger-Maria Mahlke, Buchpreisträgerin und in Lübeck aufgewachsen, nähert sich der Gründerzeit hinterm Holstentor nun mit einem anderen Blick. Im Zentrum ihres neuen Romans „Unsereins“ steht die Familie Lindhorst. In ihr erkennt man die Gegenspieler der Buddenbrooks, dort hießen sie Hagenström. Mahlke erzählt von einem Lübeck, das bei Thomas Mann nur am Rande vorkommt: von den Bediensteten und den Frauen, von offenem Antisemitismus, von der Überheblichkeit der Patriarchen im damals „kleinsten deutschen Staat“. Selbst Lübeck war mehr, als in einen Jahrhundertroman passt. Natürlich stolziert auch ein hochnäsiger Bürgersohn und Jungschriftsteller durch Mahlkes Buch: Thomas „Tomy“ Mann. Spitzname: „Der Pfau“.
Eliot Weinberger über himmlische Heerscharen und irdische Heilige: Haben Engel einen Körper? Wenn nein, wie können sie singen? Haben sie einen eigenen Willen, oder sind sie Gottes unsichtbare Marionetten? Und sind Heilige, wenn sie erscheinen, womöglich nur verkleidete Engel?
Der amerikanische Essayist Eliot Weinberger, berühmt für sein enzyklopädisches Interesse auch noch an den entlegensten Themen, entfaltet in „Engel und Heilige“ ein faszinierendes Wimmelbild der christlichen Frömmigkeit: Jahrhundertelang haben Theologen den Himmel vermessen, Cherubim, Seraphim, Erzengel und Schutzengel beschrieben – und die Deutungen ihrer Vorgänger wieder umgedeutet. Und ebenso spiegelt sich in den abenteuerlichen Geschichten der Heiligen das menschliche Urbedürfnis, Erklärungen für das Unerklärliche zu finden. Weinberger verzichtet auf jede Bewertung, er schildert nur, was zu welcher Zeit über Engel und Heilige gedacht und erzählt wurde. Und man kommt beim Lesen aus dem – gläubigen oder ungläubigen – Staunen nicht mehr heraus.
Denis Scheck empfiehlt die neue Katherine-Mansfield-Biographie von Michaela Karl: „Ich brauche einen Liebhaber, der mich am Denken hindert“
Und wie immer die kritische Revue der meistverkauften Bücher in Deutschland, diesmal die SPIEGEL-Bestsellerliste Belletristik. (Text: ARD)Deutsche TV-Premiere So. 03.12.2023 Das Erste Folge 200
30 Min.Nicolas Mahler über Kafka als verzweifeltes Strichmännchen: Einhundert Jahre ist Franz Kafka schon tot und man sollte meinen, über ihn sei alles gesagt. Aber vielleicht noch nicht so: Der Comic-Künstler Nicolas Mahler zeigt uns Kafka als einen Strich in der Landschaft, der sich zwischen dem übermächtigen Vater, alptraumhaften Fantasien, unerfüllten Beziehungen und ewiger Selbstverachtung durchs Leben zwängt. „Komplett Kafka“ nennt Mahler seinen schrägen Blick auf den wohl einflussreichsten Autor des 20. Jahrhunderts – und man denkt mitunter „komplett gaga“. Widersprüche, Ängste und Sackgassen sind das, was Mahler an Kafka interessiert, aber auch dessen finsterer Humor. Ein gelungener Auftakt für das gerade beginnende Kafka-Jahr.
Iris Wolff über eine Freundschaft vor und nach dem Ende des Sozialismus: Kato und Lev sind befreundet, seit sie ihm in der Schulzeit geholfen hat. Sie wachsen auf im Rumänien vor 1989, und müssen dann erleben, wie die Wende sie auseinanderreißt. Kato geht in den Westen, Lev bleibt – glücklich sind beide nicht. „Nichts hatten sie sich sehnlicher gewünscht als die Öffnung der Grenzen, und als sie offen waren, wussten sie nicht, was mit dieser Offenheit zu tun war.“ Iris Wolff, die aus Hermannstadt in Siebenbürgen stammt, erzählt auch in ihrem neuen Roman „Lichtungen“ von Menschen in Zeiten des Umbruchs. Von Aufbruch und Zögern, von Hoffnung und Erinnerung. Iris Wolff schlägt leise Töne an, aber das macht ihr Buch nur umso eindringlicher. Und sie wählt eine außergewöhnliche Perspektive: Die Geschichte fängt an mit dem Ende, und erst am Schluss wissen wir, wie die Freundschaft von Kato und Lev begann.
Denis Scheck empfiehlt „Der eiserne Marquis“ von Thomas Willmann, einen brillant erzählten Roman über Automatenerfinder im 18. Jahrhundert, der, man ahnt es, aktueller nicht sein könnte.
Und wie immer die kritische Revue der meistverkauften Bücher in Deutschland, diesmal die SPIEGEL-Bestsellerliste Sachbuch. (Text: ARD)Deutsche TV-Premiere So. 21.01.2024 Das Erste Folge 201
30 Min.Roberto Saviano: Falcone: Er lebt im Versteck. Er schreibt im Versteck. Seit seinem Buch über die italienische Camorra 2006 kann er nicht mehr als normaler Mensch durchs Leben gehen. In „Gomorrha“ schrieb er über das organisierte Verbrechen, wie er es selbst als verdeckter Dokumentarist erlebt hat. Seither steht er unter Polizeischutz. In seinem neuen Buch „Falcone“ widmet sich Roberto Saviano dem Richter Giovanni Falcone, der 1992 ermordet wurde. Ein weiteres seiner Kapitel im Kampf gegen die Mafia.
Follow the money, folge dem Geld. Dies war Giovanni Falcones Erkenntnis und Methode, an die Köpfe der Mafia zu kommen. Ein Prinzip, das er erkannte, und das ihn schließlich das Leben kostete. Er wird zusammen mit seiner Frau durch eine Autobombe sterben – der tragische Schluss dieses Buches, von dem man von Anfang an weiß, es wird nicht gut ausgehen. Durch den Blick des Richters erleben wir die kleinen Triumphe durch die Mafiaprozesse der 80er Jahre, den Erfolg, Kronzeugen zu akquirieren, aber auch die Hilflosigkeiten angesichts der organisierten Verbrechen. Und wir erleben, wie die Seiten immer brutaler aufeinanderprallen.
Wenn Roberto Saviano schreibt, dann zwar dokumentarisch, aber mit großer Empathie für seine Figuren. Atemlos folgt man den guten, mit Wut den bösen Menschen dieses Romans.
Im Gespräch mit Denis Scheck berichtet Roberto Saviano von seinen Recherchen, seinem versteckten Leben, das er sich ausgesucht hat und dem Schreiben am Limit, dem er treu bleibt.
Roberto Saviano: „Falcone“, übersetzt von Annette Kopetzki.
Nora Krug: Im Krieg: Zwei Seiten, die sich auf berührende Weise sehr nahekommen. Die Autorin und Illustratorin Nora Krug lässt den Krieg in der Ukraine aus den persönlichen Perspektiven einer ukrainischen Journalistin und eines St. Petersburger Künstlers erfahren.
Sie kennt die Menschen nicht, die sie mit ihrer Bitte anschreibt, aber innerhalb eines Jahres taucht sie in ihre Lebenswirklichkeiten ein. Nora Krug, die 1977 in Karlsruhe geboren ist und seit 20 Jahren in New York lebt, hat den Plan, sich den Krieg von zwei Seiten erzählen zu lassen und die Aufzeichnungen zusammenzuführen. Ein Projekt des Friedens innerhalb des Wahnsinns.
Die ukrainische Journalistin, die für sie Tagebuch führt, muss mit ansehen wie ihre Heimat Kiew zerstört wird. Sie bringt ihre Kinder nach Dänemark in Sicherheit und reist selbst immer wieder zurück, um von der Front zu berichten. Der St. Petersburger Künstler auf der anderen Seite verurteilt die russische Politik und Putins Überfall auf das bitterste, hadert aber selbst mit der Ausreise aus dem Land, in dem in seinen Augen alles schiefläuft.
Es ist eine Meisterleistung der Autorin, dass sie es durch ihr diplomatisches Geschick geschafft hat, in diesem Buch sowohl eine ukrainische als auch eine russische Perspektive abzubilden. „Im Krieg“ liefert genau das, was Nachrichten und Reportage nicht liefern können: eine emotionale Ebene. Das Buch erzählt mit Hilfe farbiger Illustrationen, wie es sich wirklich anfühlt, heute in der Ukraine oder auch in Russland zu leben.
Der Überfall Russlands auf die Ukraine jährt sich gerade zum zweiten Mal. Im Gespräch mit Denis Scheck spricht Nora Krug über die Idee dieses Buches, über die Schrecken, von denen sie lesen musste und darüber, dass auch Alltag dazugehört. Und davon, wie wertvoll es ist, die Perspektive zu wechseln.
Nora Krug: „Im Krieg“, übersetzt von Nora Krug und Alexander Weber.
Die Empfehlung von Denis Scheck: Demon Copperhead von Barbara Kingsolver, übersetzt von Dirk van Gunsteren: Dieser Roman entführt in die USA – und zwar nach Amerika, nach ganz, ganz unten. Dort, wo himmelschreiende Armut herrscht. Gewalt an der Tagesordnung ist. Und dieses Schreckenspaar, Armut und Gewalt, ein Kind namens Dummheit in die Welt setzen. Barbara Kingsolver erzählt in ihrem sprachgewaltigen Roman von einer Kindheit in der Hölle: der Hölle irgendwo in der Pampa von Virginia, da, wo bis heute das Landprekariat zu Hause ist, die sogenannten Hillbillies.
Unser Ich-Erzähler beginnt mit seiner Geburt: Seine Mutter ist 18, sein Vater schon tot, als er zur Welt kommt. Seine Mutter räumt bei der Supermarktkette „Walmart“ die Regale ein. Plötzlich taucht ein Stiefvater auf, ein Bierkutscher mit einer Harley, der unter Erziehung eher Faustrecht versteht. Demons Mutter wird keine 30. Sie ist ein frühes Opfer jener skrupellosen Verschreibung von Schmerzmitteln, die als sogenannte „Opioidkrise“ allein zwischen 2021 und 2022 über einhunderttausend Amerikaner ihr Leben kostet.
Was diesen Roman herausragen lässt und zum großen Literaturvergnügen macht: Barbara Kingsolver erzählt ihre Geschichte ebenso klug wie wortmächtig auf der Folie eines berühmten Vorgängers, nämlich Charles Dickens „David Copperfield“. Genau wie Dickens prangert sie Kinderarbeit und Ausbeutung an. Nur läuft einem ein Schauder über den Rücken, weil sie von den USA von heute spricht und nicht von London im 19. Jahrhundert. Diese Vergangenheit ist nicht vergangen. Nach dem Tod seiner Mutter erlebt Demon Copperhead einen Alptraum, der sich wenig von David Copperfields Kindheit unterscheidet: er wird ausgebeutet von diversen Gasteltern, missbraucht, versklavt, ist kurz vor dem Verhungern.
Er bringt es Jahre später dennoch zum Footballstar an seiner High School, erwirbt Bildung und denkt nach über sein Herkunftsmilieu der Hillbillies: „Der uralte Kummer dieser Gegend: Die Erfolgreichen gehen, die Versager bleiben.“ Barbara Kingsolver ist ein erschütternder Roman über die Opioidkrise und ihre Opfer gelungen – ein Buch, das einen die USA mit neuen Augen sehen lässt.
- Und wie immer: Denis Schecks pointierte Revue der Spiegel-Bestsellerliste,
diesmal Belletristik, musikalisch eingeläutet mit ganz speziellen, ebenso mysteriös-indischen wie clubtauglichen Klängen des Duos Andi Otto und MD Pallavi. Eine Entdeckung! (Text: ARD)Deutsche TV-Premiere So. 25.02.2024 Das Erste Folge 202
30 Min.Ein Strich, ein Punkt, ein ganzes Buch! Florence Hazrat: Das Ausrufezeichen: Es ist laut, sorgt für Aufregung und geht vielen als Signal der Übertreibung auf die Nerven: das Ausrufezeichen. Keine Boulevardzeitung kann darauf verzichten, Theaterkönige rufen nach einem „Königreich für ein Pferd!“, Popbands nennen sich „Wham!“ – und im kanadischen Bundesstaat Quebec gibt es sogar ein Städtchen namens „Saint-Louis-du-Ha! Ha!“. In ihrem von Beispielen nur so strotzenden Buch „Das Ausrufezeichen – Eine rebellische Geschichte“ rekonstruiert die Literaturwissenschaftlerin Florence Hazrat die Karriere dieses Satzzeichens seit seiner Erfindung im 14. Jahrhundert – in Literatur und Kunst, von der mittelalterlichen Handschrift bis zum Comic.
Expressionisten streuten Ausrufezeichen en masse über ihre Texte, Adorno ekelte sich vor den pompösen, aber hohlen „lautlosen Beckenschlägen“, Donald Trump postet fast nichts ohne !!!. Florence Hazrats Geschichte eines rebellischen Interpunktionszeichens zeigt, was alles hinter einem Punkt und einem Strich stecken kann. Manchmal lohnt es sich, das Selbstverständlichste nicht einfach selbstverständlich zu nehmen.
Die Hölle der Bürogesellschaft. Fien Veldman: Xerox:
Drucken – Fehlercode – Papierstau: Das Leben der jungen Bürokraft ist eintönig und stumpfsinnig. In einer Welt voller pseudo-wichtiger Bullshit-Jobs und einer Hackordnung, die nur oberflächlich von modischem Managementgesäusel kaschiert wird. Selten hat eine Autorin die sinnentleerte urbane Bürowelt so eindringlich beschrieben wie die Niederländerin Fien Veldman in ihrem hochgelobten Debütroman „Xerox“. Wie fühlt es sich an, wenn man aus einfachen Verhältnissen kommt, einen Bürojob annimmt und bald schon spürt, dass hier alle ihren Platz haben, alle ihre Codes verstehen, nur man selber ahnt, dass man nie dazugehören wird? Wenn am Arbeitsplatz nur der Drucker einem zuhört? Früher dachte die Ich-Erzählerin, im prekären Milieu ihrer Kindheit habe sie am Rand gelebt. „Jetzt, nach meiner Integration in die Bürogesellschaft, werde ich von der Zentrifugalkraft der Existenz erst so richtig an den äußersten Rand der Gesellschaft gedrängt.“
Zur Leipziger Buchmesse mit dem Schwerpunkt Niederlande und Flandern empfiehlt Denis Scheck den Roman „Trophäe“ der belgischen Autorin Gaea Schoeters, in dem ein Börsenspekulant auf der Suche nach dem letzten Kick vom Großwildjäger zum Menschenjäger wird.
Und wie immer die kritische Revue der meistverkauften Bücher in Deutschland, diesmal die SPIEGEL-Bestsellerliste Sachbuch. (Text: ARD)Deutsche TV-Premiere So. 17.03.2024 Das Erste Folge 203
30 Min.„Maifliegenzeit“ von Matthias Jügler: Bis heute ist umstritten, ob es in der DDR ein System von Kinderraub gab. Belegt sind einzelne Fälle. Die Zahl unbewiesener Verdachtsfälle reicht in die Tausende. Matthias Jügler lotet dieses dunkle Kapitel der Geschichte in seinem bewegenden Roman aus.
Es ist der Albtraum aller Eltern: Nach der Geburt teilen die Ärzte mit, dass das soeben entbundene Kind gestorben sei. Katrin und Hans erleben diese Tragödie in den 70-er Jahren unweit von Leipzig. Katrin hegt fortan Zweifel, hatte der Säugling doch gerade noch kräftig geschrien. Hans dagegen ergibt sich in die unabwendbaren Umstände, schaufelt selbst das Grab aus, erledigt die Formulare. Lange nach der Wende, Katrin ist längst gestorben, erhält Hans einen Anruf, der ein ungeheuerliches Verbrechen zu Tage befördert.
Matthias Jügler kontrastiert die lange Suche nach dem verlorenen Sohn mit den Angel-Erlebnissen von Vater Hans. Es ist die zweite Ebene im Roman. Einerseits fesselnde Naturbeschreibung, andererseits Gleichnis, das viel über die Kunst der Geduld, die Mühen der Ausdauer und die Wahrheit im Verborgenen erzählt. Wie viel Unrecht liegt in der Geschichte der DDR heute noch verborgen? Und kann man die Lügen, die einem erzählt wurden, jemals überwinden? Diese Fragen stellt Jügler in seinem zugleich spannend wie leise und einfühlsam erzählten Roman.
„Die Neandertaler und wir“ von Svante Pääbo: Ihm gelang es als erster, die DNA einer Mumie zu klonen. Er entschlüsselte das Genom des Neandertalers und gewann den Nobelpreis für Medizin. Seine Forscher-Karriere hat der schwedische Wissenschaftler Svante Pääbo in einem Buch verarbeitet.
„Es ist kein Mensch“, mit diesen Worten weckte sein Doktorand den Forscher Svante Pääbo an einem späten Abend im Jahr 1996 aus dem Schlaf. Eine Sensation. Denn Pääbo und seinem Team am Zoologischen Institut der Uni München war damit erstmals die Entschlüsselung von DNA-Material eines Neandertalers gelungen – gewonnen aus dem jahrtausendealten Armknochen eines Urzeit-Menschen. Und noch aufregender: Dieses Neandertaler-Erbgut hatte erstaunlich wenig mit dem eines heutigen Menschen gemein.
Diese und viele andere bahnbrechende Geschichten erzählt der schwedische Biologe und Mediziner, der als Begründer der Paläogenetik gilt – also der Genforschung an fossilen und prähistorischen Überresten, in seinem Buch „Die Neandertaler und wir“. Das Buch ist in erster Auflage bereits 2014 erschienen. Nun kommt es mit neuem Vorwort und aktualisiert auf den Buchmarkt. Zwischen den beiden Auflagen liegt auch der Nobelpreis, der Svante Pääbo 2022 verliehen wurde.
Empfehlung von Denis Scheck: „James“ von Percival Everett: Kontrafaktur nennt man in der Kunst einen Gegenentwurf. Genau so einen Gegenentwurf hat Percival Everett geschaffen. Sein Roman „James“ reagiert auf eines der berühmtesten Werke der Literatur überhaupt: auf „Huckleberry Finn“ von Mark Twain.
Everett erzählt die Geschichte von Huck und Tom Sawyer aus der Perspektive des Sklaven. Dieser heißt nun James und nicht Jim, und auch sonst ist einiges anders in Everetts Erzählung: In einer wunderbaren Fantasie ist das Sklaven-Pidgin, in dem Twain im Original den Schwarzen Jim reden lässt, bloß eine Tarnung für die dummen Weißen. Tatsächlich sind die Schwarzen in Everetts Roman passionierte Leser und räsonieren in Abwesenheit der Weißen lieber über die feinen Unterschiede zwischen proleptischer und dramatischer Ironie oder träumen von Streitgesprächen mit Voltaire oder John Locke. Was nicht heißt, dass die Action in „James“ auf der Strecke bleibt: Die Geschichte von der Flucht des Sklaven James über den Mississippi und die Befreiung seiner Familie hat durchaus Züge von Quentin Tarantinos „Django Unchained“.
Vor allem und hauptsächlich ist Everetts Roman aber ein geniales Sprachfest, das zu genießen gerade die einfallsreiche und sublime deutsche Übersetzung von Nikolaus Stingl einlädt. So gelingt Everett das nicht geringe Kunststück, einen ins Herz der gegenwärtigen Debatten über Rassismus und Identitätspolitik zielenden Roman zu schreiben, der sich gleichzeitig vor der Größe Mark Twains verneigt.
Außerdem in „Druckfrisch“: Musik der Wiener Songwriterin Edna Million und Denis Schecks erfrischend pointierte Revue der Spiegel-Bestsellerliste, diesmal Belletristik. (Text: ARD)Deutsche TV-Premiere So. 21.04.2024 Das Erste Folge 204
30 Min.Sasa Stanisic: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne.:
Für alle Freunde des etwas anderen Humors. Ein Buch voller Geist und Witz. Kostprobe gefällig? Bitteschön: „Der Siggi lebte im zweiten Stock und war Schornsteinfeger und Reichsbürger. Sein Haar war vorne kurz und hinten lang. Das sah irgendwie aus, als hätte das Haar etwas zu Hause vergessen und käme beim besten Willen nicht drauf, was es war.“ Sasa Stanisic, der Autor von „Vor dem Fest“ und „Herkunft“ erprobt in seinem neuen Erzählband ziemlich genau das, was bei Robert Musil im „Mann ohne Eigenschaften“ der „Möglichkeitssinn“ heißt. Es könnte also alles auch anders sein. Wenn ich mich anders entschieden hätte. Wenn ES mich anders gesteuert hätte. Wenn ich nicht in diesem Sekundenbruchteil in meine Jackentasche gegriffen hätte und nicht exakt in diesem Tempo aus dem Lift getreten wäre, ja dann wäre der Schlüssel nicht genau in den Schlitz zwischen Aufzugstür und Draussen gefallen und nicht alle Schlösser im Haus müßten getauscht werden.
In Sasa Stanisic neuem Buch geht es also um die Kreuzungen, an denen sich vieles oder vielleicht sogar alles entscheidet. An den Kreuzungen geht es um Wahrheit oder Lüge, um Leben und Tod. Ödipus kam auch grade just in time, um den Vater zu erschlagen. Bei Stanisic gibt es einen Vater, der seinen achtjährigen Sohn betrügt, um diesen beim Memory zu schlagen. Kleine oder größere Dramen lösen sich so aus dem Gebälk des Lebens. Ein ganz herrlicher Erzählband ist Sasa Stanisic da gelungen – ein wahre Freude! Er erscheint am 30. Mai 2024.
Caroline Wahl: Windstärke 17:
Die Fortsetzung von „22 Bahnen“, Caroline Wahls erfolgreichem Debut-Roman über die Schwestern Tilda und Ida. Es ist so eine Sache mit den beiden Büchern von Caroline Wahl. Sie lesen sich so weg, sie sind recht klug, sie sind ganz schön. Trotz Alkoholsucht und Überdosis der Mutter. Daraus resultieren Selbstvorwürfe der Protagonistin Ida, die ein wenig ins Schlingern gerät. Aber der Härte wird bei Caroline Wahl stets ein Weichspülelement beigefügt. Surfer Leif am Ostseestrand, die kleine Liebesgeschichte mit ihm, schon fühlt sich das Leben irgendwie wieder gut an. Nicht immer das Lesen, wenn etwa der Surfer-Junge beschrieben wird mit einem „entwaffnenden“ Lächeln. Je nun.
Caroline Wahl ist Jahrgang 1995 – also ziemlich genau das, was man Generation Airbag nennen könnte. Das Leben und der ganze Rest muß bei dieser Generation immer gut gepolstert und gefedert sein. Nicht zu unschön, nicht zu viele Kanten, nicht zu große Härten. Schön weich und manchmal eben weichgespült. Auch wenn zunächst ein wenig Finsternis ins Leben tritt und der Wind mit Stärke 17 ins Gesicht bläst. Wenn man möchte, kann man die beiden Romane von Caroline Wahl durchaus als entradikalisierten Neo-Espressionismus lesen, bei dem letztendlich immer alles gut wird. In Zeiten allumfassender Weltenzerbröselung ist dies der Stil, mit dem viele Leser gewonnen werden, zumindest diese Gewissheit gibt es noch.
Die Empfehlung von Denis Scheck: David Grann:
Der Untergang der „Wager“ : Das Buch, das Denis Scheck diesmal vorstellt, hat alles, was eine gute Geschichte ausmacht, die auf dem Meer spielt: Heldenmut, Feigheit, Meuterei, Kannibalismus – nicht zu vergessen Hunger, Durst und menschliche Torheit sowie extreme Wetterbedingungen! Von all dem erzählt David Grann in seinem historischen Sachbuch „Der Untergang der Wager“. 1740 sticht die HMS Wager von England aus in See als Teil eines Geschwaders, das im Pazifik Jagd auf die wertvollste Prise der Welt machen soll: eine spanische Galeone, randvoll beladen mit Gold, Silber und Edelsteinen – der Blutzoll, den Spanien seinen Kolonien in Amerika abpreßt.
Diese Galeone weckt den Appetit der nicht minder raffgierigen Kolonialmacht Großbritannien, die sie auch tatsächlich erbeutet. Die HMS Wager aber scheitert schon an der Umrundung von Kap Hoorn und läuft vor Chiles Küste auf Grund. Teile der Besatzung können sich auf eine öde Insel retten. Dort aber entspinnt sich zwischen dem Kapitän, seinen überlebenden Offizieren und der Mannschaft ein existentialistisches Endspiel. (Text: ARD)Deutsche TV-Premiere So. 26.05.2024 Das Erste
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