„Wilderness“: Ist Rache süß oder mörderisch? – Review

Klischeeüberladenes Rachedrama mit Jenna Coleman

Rezension von R.L. Bonin – 14.09.2023, 17:21 Uhr

Jenna Coleman und Oliver Jackson-Cohen in „Wilderness“ – Bild: Prime Video
Jenna Coleman und Oliver Jackson-Cohen in „Wilderness“

Betrug, Rache, Mord – Amazon Primes neuste Thriller-Serie „Wilderness“ inszeniert die Trope der betrogenen Ehefrau vor Amerikas berühmtesten Naturspektakeln. Am 15. September 2023 erscheint die Verfilmung des gleichnamigen Romans der britischen Autorin B. E. Jones. Kann die Mini-Serie mit Originalität punkten – oder versinkt sie in altbekannte Klischees?

Es geht doch immer um Macht, Sex oder Gewalt – die berühmtesten Geschichten leben von einem Mix aus allen drei. Tatsächlich gibt es eine vierte, geheime (Erfolgs)-Zutat: Rache. Jeder, wirklich jeder, kennt das Gefühl, sich nur einmal rächen zu wollen, nur einmal dem Gegenüber denselben Schmerz spüren zu lassen. Es gibt kaum etwas Kathartisches, als fiktive Figuren dabei zuzusehen, wie sie diesen verbotenen Wunsch ausleben. Womöglich ist das auch einer der Gründe, wieso Taylor Swifts Rachesong „Look What You Made Me Do“ wochenlang Top-Plätze in den Charts belegte. Und wieso genau dieser Song als Trailer- und Vorspannlied für das Thriller-Drama „Wilderness“ ausgewählt wurde.

Klingt vielversprechend? So auch die Handlungsbeschreibung: Nachdem Liv (Jenna Coleman) von der Affäre ihres Ehemanns Will (Oliver Jackson-Cohen) erfährt, lädt er sie auf einen Roadtrip durch Amerikas beeindruckendste Nationalparks ein. Allerdings wird aus der „Reise ihres Lebens“ schnell ein wahrgewordener Albtraum. Passenderweise trägt der Roman, auf dem die Serie beruht, in der deutschen Übersetzung den Untertitel Nicht die Wildnis wird dich töten.

Nur ein kleiner Unfall liegt zwischen Viv (Jenna Coleman, r.) und der Erfüllung ihrer Rachefantasie … Prime UK/​Stefania Rosini

Sondern ein Auto. Ein Raftingunfall. Ein Bär. Ein Steinschlag. Oder gar ein einfacher Schubser in den Grand Canyon. Alles Möglichkeiten, die die Protagonistin Liv in Betracht zieht, wenn sie über den Tod ihres Mannes fantasiert. Gespielt von Jenna Coleman präsentiert sich Liv als eine rätselhafte Figur, hinter deren Fassade man selbst als Zuschauer nie gänzlich blicken kann. Diese Unberechenbarkeit macht ihre Sehnsucht nach Rache umso spannender – zumindest in der Theorie. Denn in der Umsetzung bleibt das Versprechen, das die Serie in Trailer und Handlungsausblick macht, vorerst auf der Strecke.

Liv erfüllt jedes Klischee der betrogenen Ehefrau: Für die Karriere ihres Mannes hat sie ihren Job als Journalistin in einer Kleinstadt aufgegeben und ist mit ihm nach New York gezogen. Immer wieder äußern sich andere Figuren mehr oder weniger abfällig über ihre „Aufopferung“ und ihre Wandlung zur Hausfrau. Dies scheint sie zunächst allerdings gar nicht zu sein, da sie sie an ihrem Roman schreibt. Doch spätestens als sie aufspringt, um das Weihnachtsessen vorzubereiten, weil Will früher von seiner Geschäftsreise zurückkehrt, müsste allen klar sein, dass sie sich selbst nur etwas vormacht.

Die Klischeeparade geht weiter, als Liv durch eine SMS von der Affäre ihres Mannes erfährt. Überboten wird dies von Wills erbärmlicher Ausrede, es sei nur eine Nacht gewesen – was Liv natürlich glaubt. Auch die Figur Will entspricht dem absoluten Stereotyp des egozentrischen, ewigen Lügners und hält – im Gegensatz zu Liv – keinerlei Überraschungen bereit: Jeder Satz, jede Handlung von Will ist absolut vorhersehbar, während Liv mit ihrer Unentschlossenheit, hin- und hergerissen zwischen ihrem Schmerz und ihrer Liebe, eindeutig mehr Spekulation bereithält. In vielen Momenten überzeugt Livs Figur durch ihre Cleverness – zum Beispiel, wenn ihr bewusst wird, wie perfekt ein Roadtrip sich dafür eignet, einen Mord als Unfalltod zu inszenieren. Gleichzeitig enttäuscht sie jedoch durch ihre Naivität, als ob sie keine andere Wahl hätte, als verheiratet zu bleiben, um glücklich zu sein.

Vor allem Jenna Coleman überzeugt in „Wilderness“ Prime UK/​Stefania Rosini

In Anbetracht ihrer Familiengeschichte ist das wohl verständlich: Livs Mutter ist nie über die Trennung von ihrem ebenso fremdgehenden Vater hinweggekommen. So eröffnet sich im Laufe der Auftaktepisode die Frage, ob es sich bei „Wilderness“ tatsächlich um eine Geschichte über Rache handelt – und nicht eher über Befreiung. Denn statt Will für seinen Betrug „bestrafen“ zu wollen, nennt Liv im Over-Voice einen anderen Grund für ihr Vorhaben: reiner Selbstzweck. Wenn er nicht mehr am Leben ist, muss sie auch keine Angst haben, genau wie ihre Mutter zu werden und die Trennung nie zu verkraften – zwei Fliegen mit einer Klappe also.

Eine interessante Interpretation des Rachemotivs, aber damit leider auch das einzig Originelle, was „Wilderness“ zu bieten hat – zumindest in den ersten beiden Folgen. Dabei präsentiert sich die zweite Episode deutlich stärker als die erste, in der der Zuschauer hauptsächlich mit Hintergrundinformationen gefüttert wird. Schade, denn gerade der Pilot entscheidet doch maßgeblich darüber, ob man der Serie eine Chance gibt oder nicht.

Die zweite Folge tritt von der Grundspannung etwas prickelnder auf, da das Ehepaar auf ein anderes Pärchen, und dabei ausgerechnet auf Wills Affäre, trifft. Die Atmosphäre ist so unangenehm, so heikel, als ob man selbst neben den Figuren stehen würde – ein gelungener Effekt, jedoch fragwürdig, ob das auf Dauer unterhaltsam ist. Zumindest erfüllt die zweite Folge die durch den Titel gesetzte Prämisse der „Wildnis“ und präsentiert deutlich mehr Naturlandschaften als zuvor.

Zwei Paare treffen aufeinander: Liv (l.) mit Will (r. u.) und Cara (Ashley Benson, r. o.) mit Garth (Eric Balfour, M.) Prime UK/​Kailey Schwerman

Leider häufen sich jedoch die Klischees weiter an – von Livs Versuch, sich mit Wills Affäre messen zu wollen, bis hin zur stereotypischen Other Woman: die langbeinige, „heiße“ Blondine, gespielt von Ashley Benson („Pretty Little Liars“). Diese hat schauspielerisch eigentlich mehr zu bieten, als nur in die Rolle eines „Sexobjekts“ zu schlüpfen. Davon bekommt man aber lediglich einen Hauch zu sehen – in einer sehr gelungenen Szene mit Liv zu sehen, die nicht vom Dialog, sondern nur vom Spiel der beiden Darstellerinnen lebt. Gleichzeitig scheint dies ein Einzelfall zu bleiben, sodass Bensons Potenzial bis dato verschenkt wird. Genau wie die Spannung, von der „Wilderness“ als Thriller-Serie eindeutig nicht genug zu bieten hat. Dass der erste, richtige Wendepunkt nach fast zwei Stunden Laufzeit eintritt, ist entschieden zu spät – insbesondere, wenn die Serie insgesamt nur sechs Folgen umfasst.

Somit hält „Wilderness“ zumindest in den ersten zwei Folgen wenig Überraschungen bereit. Wer auf schöne Panoramen und Naturaufnahmen hofft, wird trotz des Titels leider auch nicht wirklich bedient. Schauspielerisch sticht Jenna Coleman eindeutig hervor und ist damit das Einzige, was die ersten zwei Episoden sehenswert macht. Thrillerfans, die anhaltende Spannung mögen, werden von dem Versprechen der Handlung wohl eher enttäuscht sein. Wer es dafür langsam, still und äußerst dramatisch mag, könnte womöglich Gefallen an der Miniserie finden. Dennoch ist „Wilderness“ aufgrund ihrer mangelnden Originalität keine Serie, die unbedingt in Erinnerung bleibt – oder das häufig übersehene, aber höchst emotionale Rachegenre neu erfinden wird.

Dieser Text basiert auf den ersten beiden Episoden der Miniserie „Wilderness“.

Meine Wertung: 2,5/​5

Am 15. September feiert „Wilderness“ auf der Streamingplattform Amazon Prime Video weltweit Premiere. Die Staffel umfasst sechs Folgen. Regie führte die koreanische Indie-Regisseurin So Yong Kim (Filme: „In Between Days“, „Lovesong“; Serien: „New Amsterdam“, „Roar“). Marnie Dickens setzte die serielle Verfilmung des gleichnamigen Romans von B. E. Jones um.

Über die Autorin

Originalität – das macht für R.L. Bonin eine Serie zu einem unvergesslichen Erlebnis. Schon als Kind entdeckte die Autorin ihre Leidenschaft für das Fernsehen. Über die Jahre eroberten unzählige Serien unterschiedlichster Genres Folge für Folge, Staffel für Staffel ihr Herz. Sie würde keine Sekunde zögern, mit Dr. Dr. Sheldon Cooper über den besten Superhelden im MCU zu diskutieren, an der Seite von Barry Allen um die Welt zu rennen oder in Hawkins Monster zu bekämpfen. Das inspirierte sie wohl auch, beruflich den Weg in Richtung Drehbuch und Text einzuschlagen. Seit 2023 unterstützt sie die Redaktion mit der Erstellung von Serienkritiken. Besonders Wert legt sie auf ausgeklügelte Dialoge, zeitgemäße Diversity und unvorhersehbare Charaktere.

Lieblingsserien: Lost in Space, Supergirl, Moon Knight

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