„Station Eleven“: Nach dem Virus erblüht eine neue Welt – Review

Atmosphärische HBO-Bestselleradaption mit Mackenzie Davis

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 29.01.2022, 17:30 Uhr

„Station Eleven“ – Bild: HBO Max
„Station Eleven“

Schon wieder eine Serie über eine verheerende Pandemie? Nein, der US-Streamingdienst HBO Max ist nicht auf den Corona-Zug aufgesprungen. Wie schon die 2020 mit der ersten Staffel angelaufene ZDF-Serie „Sløborn“ war auch „Station Eleven“ längst geplant, allerdings erst zu einem Fünftel abgedreht, als im März 2020 das reale Virus unsere Welt zum Stillstand brachte. Knapp zwei Jahre später ist die zehnteilige Adaption eines Bestsellers von Emily St. John Mandel (deutscher Titel: „Das Licht der letzten Tage“) nun zu sehen, ab Ende Januar auch im deutschsprachigen Raum bei Starzplay. Und da Corona uns noch lange nicht in Ruhe lässt, stellt sich die Frage, ob es wirklich die richtige Zeit ist für eine Serie, in der ein Grippevirus 98 Prozent der Menschheit auslöscht.

Irgendwann im Winter 2020. Chicago liegt mal wieder unter einer Schneedecke. In einem vollbesetzten Theater bricht während der „King Lear“-Premiere der Hauptdarsteller, der berühmte Schauspieler Arthur Alexander (Gael García Bernal), tot zusammen. Alle vermuten: Herzinfarkt. Jeevan (Himesh Patel) ist der Erste, der spontan auf die Bühne läuft, um zu helfen. Nach der abgebrochenen Vorstellung nimmt er sich der kleinen Kirsten (Matilda Lawler) an, die als Kinderdarstellerin in dem Stück mitmachte und im Chaos hinter der Bühne von ihrer Betreuerin vergessen wurde. Jeevan begleitet das Mädchen in der U-Bahn nach Hause, aber ihre Eltern sind nicht da und den Schlüssel hat die Betreuerin. Unterwegs bekommt Jeevan einen verstörenden Anruf von seiner Schwester, die in der Notaufnahme eines Krankenhauses arbeitet: Ein aus Asien stammendes Grippevirus sei mutiert, die Patienten stürben plötzlich und reihenweise. Jeevan solle sich mit Vorräten beim Bruder einschließen und in Sicherheit bringen.

Genau das macht er dann auch – zusammen mit Kirsten -, nach der vielleicht skurrilsten Supermarktszene der TV-Geschichte. Spätestens, als ein Flugzeug direkt neben dem Hochhaus abstürzt, in dem Bruder Frank (Nabhaan Rizwan) wohnt, ist klar, dass die Schwester nicht übertrieben hat. 80 Tage später verlassen Jeevan und Kirsten zum ersten Mal wieder die Wohnung – und nichts ist mehr, wie es gewesen ist. Eine dicke Schneeschicht hat sich über das gelegt, was von der Zivilisation übrig geblieben ist.

Kirsten (Mckenzie Davis) hat sich nach der Apokalypse einer fahrenden Künstlertruppe angeschlossen. HBO Max

Zwanzig Jahre später ist Kirsten (jetzt: Mackenzie Davis, „Halt and Catch Fire“) eine junge Frau, die sich ihren Kindheitstraum erfüllen konnte: Sie ist Schauspielein geworden. Allerdings ganz anders als erwartet: nicht in Theatern oder an Filmsets, sondern in einer fahrenden Truppe, die durch die leergefegten Landstriche rund um die Großen Seen zieht, um in den Gemeinden der Überlebenden aufzutreten. Ihre alten Geländewagen werden von Pferden gezogen, statt mit elektrischem Strom wird die Wanderbühne von Feuer beleuchtet.

Die von Patrick Somerville („Maniac“) adaptierte Erzählung spielt parallel auf verschiedenen Zeitebenen und spingt zudem noch zwischen unterschiedlichen Figuren und Schauplätzen hin und her, macht es einem also nicht eben einfach, die Orientierung zu behalten. Während sich die Auftaktfolge hauptsächlich um die Tage rund um den Ausbruch dreht, steht im Mittelpunkt der zweiten Episode die erwachsene Kirsten mit ihrer Künstlertruppe. Trotz neuer Konflikte wird hier ein sehr optimistisches Bild von der Zeit nach der Katastrophe vermittelt: Die wenigen verbliebenen Menschen haben sich in kleinen techniklosen Gemeinschaften neu organisiert, Kunst und Kultur sind nicht vergessen, die Überlebenden versuchen, das Erbe der Menschheit in der neuen Zeit zu bewahren.

Fast eine Idylle: Kirsten mit einem ihrer Kollegen im Zeltlager HBO Max

Folge 3 hat wieder eine neue Hauptfigur: Die Logistikerin Miranda (Danielle Deadwyler) ist gerade auf einer Geschäftsreise in Malaysia, als das Virus ausbricht. Sie ist außerdem die Freundin von Arthur Alexander, in langen Rückblenden wird ihre wechselhafte Beziehung aufgefächert. Miranda hat aber auch in jahrelanger Arbeit ein Comicheft gezeichnet – heute würde man es vielleicht eher eine Graphic Novel nennen -, in der ein Astronaut auf einer Raumstation eine Schlüsselrolle spielt – und dieser Astronaut steht ihr bald persönlich gegenüber.

„Station Eleven“ ist eine untypische (post-)apokalyptische Serie. Nicht die Katastrophe selbst steht im Mittelpunkt, auch nicht der Kampf ums Überleben in den Jahren danach. Es sind vielmehr die persönlichen Schicksale und der Aufbau neuer Gesellschaftsformen, die die AutorInnen zu interessieren scheinen. Wie man es vom Muttersender HBO gewohnt ist, ist das Erzähltempo extrem ruhig. Action gibt es praktisch nicht, selbst die ganz schlimmen Ereignisse (Flugzeugabsturz, kollabierende Notaufnahme) werden nur kurz und wie aus großer Distanz gezeigt. Insbesondere die Auftaktfolge erzeugt mit dem eisigen Chicago, in dem das Leben eh schon eingefroren scheint, eine fast märchenhafte Atmosphäre. Die Welt in der Zukunft erinnert dann stark an Szenarien, wie sie etwa die Comicserie „Jeremiah“ und deren TV-Adaption entwarfen: Nach dem großen Knall haben sich die Menschen wieder zu Stammesgesellschaften (zurück-)entwickelt, die Landwirtschaft hat die Industrie abgelöst. Aber natürlich gibt es auch immer noch Einzelne, die den neuen Frieden bedrohen.

Auf der Flucht vor dem sich ausbreitenden Virus: Miranda (Danielle Deadwyler) HBO Max

Ein deprimierendes Bild von der Zeit nach dem Virusausbruch wie in „Sløborn“ oder „The Walking Dead“ zeichnet „Station Eleven“ also nicht. Trotzdem muss man manchmal schlucken, wenn Nachrichten vom Virus erst nur im Hintergrund auf Fernsehschirmen präsent sind und kaum beachtet werden oder nach und nach immer mehr Menschen zu husten anfangen. Man sollte also vielleicht nicht gerade im Corona-Blues versunken sein, wenn man diese Serie sehen möchte (auch wenn der Pandemieverlauf hier doch sehr übertrieben ist – so schnell wie an diesem Virus starb man nicht mal an der Pest). Belohnt wird man allerdings mit einem hervorragenden Ensemble (wobei Gaststar Bernal charmant seine Rolle als exzentrischer, selbstverliebter Künstler aus „Mozart in the Jungle“ variiert), einer dichten, kinoreifen Inszenierung (Regie: Hiru Murai, „Atlanta“) und poetischen Grundstimmung. Irgendwie doch beruhigend, dass auch zwanzig Jahre nach der Apokalypse noch Shakespeare gespielt (und geguckt) wird.

Und irgendwann in den späteren Folgen fügen sich dann auch die verschiedenen Handlungsstränge und scheinbar unverbundenen Figuren zusammen. Spätestens am Ende erweist sich die Miniserie als zeitlose Erzählung über Verlust und Neuanfang, Verzweiflung und Hoffnung, die Kraft der Kunst und die Verbundenheit aller Dinge und Menschen – und als schon jetzt heißer Kandidat für die beste Serie des neuen Jahres.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der kompletten Miniserie „Station Eleven“.

Meine Wertung: 4,5/​5

Die zehnteilige Miniserie wird seit dem 16. Dezember wöchentlich auf dem US-Streamingdienst HBO Max veröffentlicht. Ihre Deutschlandpremiere hat sie am 30. Januar 2022 auf Starzplay.

Trailer zu „Station Eleven“ (engl. OV)
https:/​/​youtu.be/​LPm52rq8CZA

Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • am

    Die erste Folge war brilliant! Aber schon nach Episode zwei fragte ich mich, ob ich noch dieselbe Serie schaue, denn die war richtig mies und das ging leider so weiter. Bin inzwischen ausgestiegen, schade um die Lebenszeit.
    • am

      Das passt ja - bin eben dabei auf Starz die Serie zu beginnen. Danke mal für den ausführlichen Artikel.

      weitere Meldungen