„Anatomie eines Skandals“: Soziopolitisches Meisterwerk mit Rupert Friend und Sienna Miller vor dem Gesetz – Review

Neue Netflix-Serie ist aktuell, frisch und mutig

Rezension von Fabian Kurtz – 15.04.2022, 10:00 Uhr

„Anatomie eines Skandals“ startet am 15. April auf Netflix – Bild: Netflix
„Anatomie eines Skandals“ startet am 15. April auf Netflix

Netflix hat es einfach drauf. Seit 10 Jahren jagt beim Streaming-Riesen eine Eigenproduktion die andere. Mal mehr erfolgreich, mal weniger. Mal Publikumsliebling, mal nach einer Staffel abgesetzt. Qualität muss sich eben abheben. Dies gelingt der sechsteiligen Miniserie „Anatomie eines Skandals“, die ab dem 15. April bei Netflix zu sehen ist.

Eine Serie, die es in sich hat. „Anatomie eines Skandals“ ist aktuell, frisch und mutig. Eine Serie, die sich vor allem traut, den cineastischen Baukasten völlig zu nutzen und in eine ganz eigene Welt von Wahrheit und Gerichtbarkeit eintauchen lässt.

Sie lebt eine Realität vor, die bei uns schon durch Nachrichtenbilder, Zeitungsartikel oder Twitter-Kommentaren an Haptik verloren hat. Hier geht es nicht um Trends und Likes, sondern um Wahrheit. Eine Serie, die den Zuschauer fordert.

„Anatomie eines Skandals“ beginnt mit einer wunderbaren Montage der Londoner Justiz. Unter den Talaren, der Mief von tausend Jahren? Nein, denn es hat sich einiges geändert. In den traditionellen Gewändern mit Perücke stecken nun aufgeweckte Frauen, die sich ganz der Gerechtigkeit verschrieben haben.

Michelle Dockery als aufstrebende Anwältin Kate Woodcroft Netflix

Fulminant schreitet eine unserer Hauptfiguren, die Anwältin Kate Woodcroft durch die regnerische Nacht. Dazu ein melancholischer Popsong, der an James Bond erinnert und den Niedergang der Elite besingt. Schnitt, Musik, Kamera und Schauspiel sind bereits bei dieser Montage so sinfonisch wie die Berliner Philharmoniker und geben ästhetisch den Ton an.

Woodcroft (gespielt von Michelle Dockery, „Downton Abbey“) ist eine toughe Juristin Anfang vierzig, die ganz für ihren Beruf lebt. Keine Kinder, einen verheirateten Liebhaber und eine gute Beziehung zu ihrer Schwester sollen dem verkopften Alltag Emotion und Flucht bieten.

Auf ihrem Schreibtisch liegt der neue Skandal Großbritanniens: Ein Minister der Regierung, James Whitehouse (Rupert Friend), wird beschuldigt, seine Assistentin vergewaltigt zu haben. Diese hatte mit ihm eine kurze Liaison, die der Minister jedoch aufgrund seiner Ehe beenden musste. Das Bild ist dem zeitgenössischen Zuschauer nicht neu, in Zeiten von #MeToo sogar medial präsent.

In guten wie in schlechten Zeiten: Sophie (Sienna Miller) und James Whitehouse (Rupert Friend) Netflix

Doch um die Presse geht es in „Anatomie eines Skandals“ nicht, sondern um die Opfer und ihre Perspektiven. Die wechselt von Woodcroft zu Whitehouse und seiner Frau Sophie (Sienna Miller), die ein scheinbar glückliches Leben in der britischen Oberschicht führen. Beide studierten in Oxford und lieben sich seither, haben zwei gemeinsame Kinder.

Die Nachricht von der Affäre stört ihr Vertrauen, lässt jedoch ihre Ehe nicht zusammenbrechen. Im Gegenteil: Als James der Prozess gemacht wird, steht sie an seiner Seite und versucht nach Außen die Fassade der schillernden Elite aufrecht zu erhalten, ist daheim jedoch von Alpträumen geplagt.

Im Prozess lernen wir Olivia Lytton (Naomi Scott) kennen, die im Zeugenstuhl von ihrer Beziehung und dem Tatverlauf erzählt. Dabei sehen wir nicht nur eine zerrüttete und verletzte Person, sondern auch den ruchlosen Ort des Gerichts. Hier sind wahrlich alle gleich, denn als Zuschauer ist man auf demselben Stand wie die Anwälte. Lyttons Aussagen hören sich widersprüchlich an, doch auch James Whitehouse umgibt eine Aura des Ungewissen.

Naomi Scott als Olivia Lytton Netflix

War er es oder war er es nicht? In diesem Gericht geht es vor allem darum, welche Wahrheit erzählt wird. Man erhält einen schonungslosen Einblick in die Arbeit der Verteidigung, jedes Wort wird auf die Wage gelegt. Das Gericht ist in „Anatomie eines Skandals“ der Raum in dem alle Adern zusammenfließen. Das Herz.

Was die Serie besonders macht, ist die klare Definition der Perspektiven als subjektive Wahrnehmungen. Die Kamera ist stets Mittler für die Gefühlswelt der erzählenden Person.

Ob verschwommene Bilder bei Olivia Lytton, harte Schnitte und klare Einstellungen bei der vermeintlich weißen Weste von James oder schwindelerregende Perspektiven bei der Gefühlswelt von Sophie. Regisseurin SJ Clarkson formt, gleich ihrer Anfangs-Montage, eine Symbiose filmischer Erzählweisen, die im Einklang ein, und dass ist selten, Meisterwerk ergeben.

Vor dem Gesetz: Minister James Whitehouse versucht sich, seine Familie und seine Karriere zu schützen. Netflix

Dem hinzu kommen schauspielerische Leistungen, die unglaublich ehrlich sind. In einer Welt, in der Wahrheit Ansichtssache ist, sind Gefühle wahrhaftig. Von einem nuancierten Lächeln bis zu demaskierenden Tränen verliert der Cast nie seine Fassung. Alle Darsteller verpflichteten sich ganz und gar der Idee dieses Gesamtkunstwerks. Kein exaltiertes Method-Acting, sondern fein herausgearbeitete Charaktere, die ihr inneres schützen wollen.

Großes Lob an die Drehbücher von David E. Kelley („Big Little Lies“) und Melissa James Gibson („House of Cards“), die jeder Figur zeit geben, sich zu entfalten und so manche wahren Worte über die Lippen gehen lassen.

Für mich ist „Anatomie eines Skandals“ mit das Beste, was dieses Serienjahr zu bieten hatte (und noch bieten wird) und bin begeistert ob des Muts, den Netflix hier beweist. Ein Werk, das in allen Bereichen integer ist, Gänsehaut-Momente schafft und den Zuschauer vereinnahmt. Superb!

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten vier Episoden von „Anatomie eines Skandals“.

Meine Wertung: 5/​5

„Anatomie eines Skandals“ startet am 15. April mit allen verfügbaren sechs Episoden auf Netflix. Das Format wurde als potentielle Anthologieserie angelegt – die erste Staffel erzählt dabei eine in sich abgeschlossene Geschichte.

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • (geb. 1967) am

    Ich habe die Srrie bis heute nicht gesehen, aber, der Trailer ist nicht schlecht...aber, die vollen 5 Punkte??
    • (geb. 1969) am

      Ich finde auch, dass die Rezension die Serie doch zu sehr in den Himmel lobt.
      Ja, die Serie ist gut, aber ist in den ersten vier Folgen bezüglich der Story nix Besonderes.
      Erst durch die Wendung am Ende von Folge 4 kommt wirklich Spannung in die Erzählung.
      • am

        Die volle Punktzahl finde ich übertrieben. Schlecht war es nicht ... aber mir zu melodramatisch.

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