Gomorrha – Review

TV-Kritik zur italienischen Bestseller-Adaption – von Marcus Kirzynowski

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 06.10.2014, 12:00 Uhr

Es kann nur einen (neuen Paten) geben: Genny (Salvatore Esposito) und Ciro (Marco D’Amore)

Die Mafia ist von jeher eines der Themen, die die größte Faszination auf Film- und TV-Macher wie -Zuschauer auszuüben scheint. Nicht von ungefähr gilt Francis Ford Coppolas „Der Pate“-Trilogie als eines der Highlights der Kinogeschichte – von Sergio Leone, Martin Scorsese und den „Sopranos“ ganz zu schweigen. Und auch die wenigen Serien aus dem Mutterland der Mafia, die überhaut ihren Weg auf deutsche Fernsehschirme geschafft haben, drehen sich meist um das organisierte Verbrechen. Neuester Vertreter in dieser Tradition ist „Gomorrha“, quasi die Serie zum Film zum Buch, nämlich dem Reportage-Bestseller von Roberto Saviano, der dem Autor nicht nur einen riesigen Erfolg einbrachte, sondern leider auch diverse Todesdrohungen. 2008 wurde der Stoff schon einmal in fiktionalisierter Form fürs Kino aufbereitet, im Mai startete nun die zunächst zwölfteilige TV-Serie als Eigenproduktion bei Sky Italia (with a little help der deutschen Beta Film). Wobei die Serie von den Figuren nichts und von der Machart her wenig mit dem Film gemein hat und insgesamt wesentlich packender und eindringlicher daherkommt. Die Kritiker feierten sie als modernes Meisterwerk, den „Sopranos“ ebenbürtig.

Ganz unrecht haben sie damit nicht: Tatsächlich wirkt die italienische Serie stilistisch frischer als so manche hochgelobte Qualitätsserie aus Übersee – und inhaltlich schonungsloser, gesellschaftlich relevanter. In der Staffel erzählen die Drehbuchautoren um Stefano Bises eine vom Buch unabhängige Geschichte mit fiktionalisierten Figuren, die jedoch laut Saviano alle auf realen Vorbildern von Camorra-Mitgliedern basieren. Dabei sind die Charaktere jeweils aus mehreren echten Clan-Angehörigen zusammengesetzt. Auch sonst soll in der Serie nichts zu sehen sein, was sich nicht so (oder zumindest so ähnlich) wirklich ereignet hat.

Keine Mafiaserie ohne Paten und so thront in den ersten Folgen über allem erst einmal Pietro Savastano (Fortunato Cerlino), der in Neapel über seinen Clan regiert. Er ist kein „Mr. Jedermann“ wie Tony Soprano mit seinen Neurosen und Eheproblemen und auch kein Vito Corleone, der gottgleich im Hinterzimmer Audienz hält. Eher der Typ Spitzenmanager eines Familienunternehmens mit geschmacklos-protzig eingerichtetem Arbeitszimmer mit goldenen Raubtierstatuen und Ölporträt hinter dem Schreibtisch (der Kauf einer neuen übertriebenen Couch ist einer der Handlungsstränge, der sich durch die ganze erste Folge zieht). Einer, der darüber verzweifelt, dass sein einziger Sohn Genny (Salvatore Esposito) so gar kein Talent fürs Familiengeschäft zeigt und auch sonst ein ziemliches Weichei ist. Aber natürlich auch ein Mensch, der unerwartet heftige Gewaltausbrüche haben kann, wenn es darum geht, seine Autorität zu bewahren.

An der Darstellung dieser Gewaltexzesse spart die Serie zwar nicht, erspart es den Zuschauern aber dennoch, die Kamera immer voll drauf zu halten, wenn Schädel zertrümmert oder Wohnungen samt Mietern in Brand gesteckt werden. Regisseur Stefano Sollima, der sieben der zwölf Folgen inszeniert hat, liegt erkennbar nichts an comichaft überhöhter Gewalt ? la Tarantino oder Rodriguez, sondern vielmehr – wie Saviano und dem Autorenteam – an einer weitgehend realistischen Abbildung der unfassbaren und alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringenden Gewalt, die von der Camorra ausgeht.


Will ihre Pfründe sichern: Donna Imma (Maria Pia Calzone), die Gattin des Paten
Dieser Realismus ist die größte Stärke der Serie, auch das wirklich Neue an ihr: Kein Vergleich mit anderen italienischen Serien des Genres. Die aus heutiger Sicht doch reichlich behäbig wirkenden Ermittlungen des Commissario Cattani (Michele Placido) in seinem Kampf „Allein gegen die Mafia“ sind hier ebenso fern wie die bonbonbunt-oberflächliche Welt der „Romanzo Criminale“ (einer übrigens ebenfalls von Sollima inszenierten Mafiaserie, die 2012 auch beim deutschen AXN zu sehen war). Noch viel entfernter scheint die spießig-vorstädtische Welt der Sopranos in New Jersey. Die Straßen von Neapel sind rau und der Alltag der Gangster eher mit dem von Brokern vergleichbar, die sich keinen schweren Fehler erlauben können. Völlig zu Recht zog Saviano in Interviews den Vergleich der dargestellten Welt zum Leben im Kapitalismus allgemein. Pietro Savastano ist mehr Gordon Gecko als Tony Soprano: ein Hedonist, der auch schon mal im VIP-Bereich einer Edeldisco mit Blick auf die durchsichtige Glasscheibe zur Tanzfläche uriniert – einfach, weil er es kann.

Sorgen bereitet ihm eigentlich nur Genny, der sich ein ums andere Mal als zu weich fürs Geschäft erweist. Das frustriert wiederum Pietros rechte Hand Ciro (Marco D’Amore), der viel eher ein Mann fürs Grobe ist. Dass es irgendwann zur Konfrontation zwischen Genny und ihm kommen wird, scheint unausweichlich, denn ein Pate kann selbstredend nur einen Erben haben. Spätestens als Pietro wegen einer Lappalie ins Gefängnis wandert, beginnt aber auch noch Ehefrau Imma (Maria Pia Calzone, Typ frustrierte Hausfrau) fleißig mit dem Strippen ziehen …

Erzählt wird diese zugegebenermaßen nicht allzu originelle Geschichte modern und packend. Die Bildgestaltung wirkt extrem filmisch, italienische Rapstücke kommentieren das Geschehen, die Montage ist schnell und hart. Wenn Pietro kurz nach seiner Inhaftierung seine Mitinsassen zur Revolte anstachelt und vom höchsten Punkt auf die in Flammen stehenden Gefängnisgänge hinunterschaut, erreichen die Bilder eine Intensität, wie man sie sonst fast nur aus dem Kino kennt. Was die Düsterkeit der Themen und Figuren angeht, auch die Darstellung von Gewalt, erinnert in der Tat vieles an Serien aus dem US-Pay-TV. Selbst für HBO-Fans ungewohnt dürfte hingegen der Grad von Ekelexzessen sein, den die Macher den Zuschauern zumuten. Diese Szenen dürften wohl Einigen sauer aufstoßen.

Anders als viele aktuelle, hochwertige Serien aus Hollywood lädt „Gommorha“ aber nicht zur Realitätsflucht ein. Vielmehr zeigt sie uns unbedarften ausländischen Zuschauern, was es wirklich heißt, in einer Gesellschaft zu leben, in der Gewalt und Verbrechen allgegenwärtig sind – und plakativ hoch gehaltene Werte wie Ehre und Familie nur hohle Phrasen. Um das zu vermitteln, bietet eine lange Form wie eine Fernsehserie sicher mehr Möglichkeiten als ein einzelner Kinofilm. Nach den ersten vier Folgen zu urteilen, verstehen Saviano, Sollima und ihre Mitstreiter diese auch sehr gut zu nutzen.


Dieser Text basiert auf Sichtung der ersten vier Folgen der Serie.

Meine Wertung: 4,5/​5

Marcus Kirzynowski
© Alle Bilder: Sky Italia/​Beta Film

Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

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