„Heels“: Stephen Amell („Arrow“) in Serie über zweifelnde Männer in Spandex-Strumpfhosen – Review

Sehenswerte Starzplay-Serie um Provinz-Wrestler mit Existenzängsten

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 15.08.2021, 18:55 Uhr

Eingeölt und leichtgeschürzt: Stephen Amell als Jack und Alexander Ludwig als Ace Spade, kurz vor dem Match – Bild: Starz
Eingeölt und leichtgeschürzt: Stephen Amell als Jack und Alexander Ludwig als Ace Spade, kurz vor dem Match

Michael Waldron hat einen Lauf: Kürzlich öffnete der Autor mit „Loki“ für das Marvel Cinematic Universe das Multiversum, derzeit schreibt er, darauf aufbauend, am neuen „Doctor Strange“-Abenteuer, und zwischendurch hat er sich noch eine weitere Serie einfallen lassen – die uns allerdings in völlig andere Gegenden führt: „Heels“ beleuchtet das Wrestling-Milieu im ländlichen Georgia. Und wie erzählt man von einem Spektakel, in dem sich Sport- und Show-Aspekte mindestens die Waage halten? Indem man die „gespielte“ Gegnerschaft der Spandex-Sportler mit ihren eindeutig weniger inszenierten Zwistigkeiten abseits des Rings kontrastiert – hier am Beispiel zweier sehr unterschiedlicher Brüder. Und zum Glück muss man nicht viel übers Wrestling wissen, um von „Heels“ gefesselt sein zu können.

Die Brüder im Zentrum dieser zunächst auf acht Episoden angelegten Serie, die Waldron für den Pay-TV-Sender Starz schrieb (bei uns via Starzplay), heißen Jack und Ace Spade. Ihre Eltern hatten sich vor ihrer Geburt offenbar ein drolliges Wortspiel mit den Kartenspielbegriffen jack of spades (Pikbube) und ace of spades (Pikass) überlegt, Jack trägt nun entsprechend ein schwarzes Pik-Symbol auf seinem roten Kampfhöschen. Beide Spades sind in der lokalen Wrestling-Szene groß geworden, einer Szene freilich, die mit den großen US-Superstar-Events von WWE, WCW, ECW und dergleichen wenig gemein hat: Das professional wrestling (wie es heißt, damit es im Englischen vom Ringen, genannt wrestling, unterschieden werden kann) wird von riesengroßen oder eben klitzekleinen Promotion-Ställen organisiert, und um einen ziemlich kleinen dieser Art geht es in „Heels“. Aufgebaut wurde diese Duffy Wrestling League (DWL) vom unlängst verstorbenen Vater der beiden Brüder. Jack sieht es nun als seine Lebensaufgabe an, den Betrieb weiterzuführen und womöglich auch größer und bedeutender zu machen. Immerhin: Die Showkämpfe in Duffy werden von einer begeisterten Zuschauermenge bejubelt. In der ländlichen Region des südöstlichen US-Staats ist die DWL eine durchaus beliebte Angelegenheit.

Scheinwerfer an: Willie (Mary McCormack) leitet die Show, Rooster Robbins (Allen Maldonado, 2. v. l.) und Apocalypse (James Harrison, r.) gehören zum Team der Duffy Wrestling League. Starz

In der ersten Folge geht viel Dialogzeit dafür drauf, ein weniger eingeweihtes Publikum an diese Welt erst einmal heranzuführen – an die Gut-Böse-Dichotomie aller Wrestlingkämpfe zum Beispiel, in der es immer einen heel (Bösewicht) geben muss, der sich böse ausbuhen lassen muss, damit dann das face (Held) herbeieilen kann, um es mit dem Schurken aufzunehmen. Es versteht sich von selbst, dass das face nie final gewinnen darf, die Story wäre sonst am Ende. Die Show muss weitergehen, nicht zuletzt, damit der Betrieb läuft. Von derart gescriptetem Figurenzwist, der auch vor und nach dem Kampf in der Öffentlichkeit genüsslich weiterzelebriert wird, lebt das Wrestling, und „Heels“ beleuchtet nicht zuletzt dessen Entstehen: Die Serie zeigt Jack immer wieder beim Verfassen neuer Storylines für sich selbst und seinen Bruder, womit sie natürlich auch auf sich selbst verweist. Eine Serie übers Konstruieren einer Serie ist „Heels“ jedenfalls auch.

All jenen, die höchstens mal aus Versehen in ein Wrestling-Match gezappt haben und sonst keine Ahnung davon haben, wird zudem ausführlich klargemacht, was mit dem Prinzip des kayfabe gemeint ist – so lautet auch der Titel der Pilotfolge. Der Begriff bezeichnet den Konsens der Beteiligten, die Auseinandersetzungen zwischen den Wrestlern als „echt“ darzustellen und vor allem durchzuhalten. Selbst heute, da im Grunde jeder weiß, dass Wrestling vor allem Show ist, fallen die Kämpfer so gut wie nie aus der Rolle – und es wird dann auch der erste dramatische Kulminationspunkt der Serie sein, dass genau dies passiert und einer der Kämpfer seine ihm zugedachte Rolle überschreitet. Das Publikum reagiert entsetzt: Wrestling ist gescriptet, ja, das weiß man, aber es darf kein Fake sein bzw. sich als solcher entpuppen.

Waldron ist zum Glück ein so guter Autor, dass er all diese Erklärungen für Uneingeweihte relativ organisch in den Fluss der Handlung und Branchensprech-Dialoge einfließen lässt – und sie immer auch dazu nutzt, mehr von den durchaus nicht wenigen Figuren zu erzählen. So dürften sich auch jene Zuschauer, die mit Regeln und Gepflogenheiten des Wrestling vollumfänglich vertraut sind, in den frühen Szenen nicht über Gebühr langweilen. Sehr viel an diesem „Sport in der Kleinstadt“-Setting erinnert zwangsläufig an „Friday Night Lights“, und es gelingt „Heels“ in den frühen Folgen so gut wie diesem Highschool-Football-Klassiker, auch jene Leute an den Haken zu bekommen, die sich für den betreffenden Sport sonst nicht die Bohne interessieren.

Ace ist Held im Ring – die Begeisterung seiner valet Crystal (Kelli Berglund) ist nicht nur gespielt. Starz

Dafür braucht es gute Figuren. Jack und Ace Spade könnten welche werden. Jack, der sture Ältere, Ende dreißig, wird von Stephen Amell gespielt, der hier noch grimmiger vor sich hingrollen darf als in seiner berühmten Rolle als „Arrow“. Der kernige Kanadier ist zweifellos eine gute Wahl für diesen Part – als beinharter Wrestling-Fan hat er schließlich selbst schon im WWE-Ring mitgemischt. Ihm gegenüber steht Ace, der Jüngere, Ende zwanzig, ein blondmähniger Heißsporn, dessen Darsteller Alexander Ludwig sein männlich vorspringendes Kinn von den „Vikings“ mitgebracht hat. Zu Beginn spielen die beiden ihre Rollen noch wie geplant: Jack gibt den Finsterling, Ace den Helden als animalischen Mix aus He-Man und Thor, es gibt Jubel und schon am Ende jedes Matches die Vorfreude auf das nächste. Schon bald aber gehen nicht nur die Meinungen darüber auseinander, was mit der vom Vater geerbten DWL anzufangen wäre, sondern auch über die narrative Richtung der geschriebenen Storylines. „Wenn Du im Ring stehst, hältst Du Dich an mein Skript“, herrscht Jack den renitenten Bruder an. Klar, das fortan Fliehkräfte an diesem Duo nagen.

Da ist zum Beispiel Wild Bill Hancock, ein früherer Spezi des Vaters, der es zum windigen (und opioidsüchtigen) Talentescout gebracht hat, vom immer sehenswerten Chris Bauer („True Blood“, „The Deuce“) in einem herrlich beknacktem Westentaschen-Cowboy-Outfit gespielt. Er will Ace der DWL abspenstig machen, indem er ihm Ruhm und Geld verspricht, was Jack natürlich gar nicht gefällt. Auch ein Konkurrenzveranstalter aus Florida („Der Süden gehört uns!“) macht der DWL das Leben schwer. Und da sind die privaten Nöte. Jack arbeitet im Brotberuf nämlich unglamourös als Angestellter in einem Geschäft für Rasenmäher. Das wird erst nach einer ganzen Weile enthüllt und macht recht erschütternd klar, dass die Wrestling-Promotion, auf dem Niveau, auf dem wir sie hier erleben, allenfalls ein Feierabend- und Wochenend-Hobby sein kann. Zwischen Job und DWL muss Jack noch Zeit aufwenden für Gattin Staci (Musical-Sängerin Alison Luff in ihrer ersten TV-Hauptrolle) und Söhnchen Thomas (Roxton Garcia). Staci, obgleich ebenso involviert und begeistert dabei in Sachen DWL, drängt Jack, sich weniger den Scharmützeln mit dem emotional instabilen Bruder und mehr der Familie zu widmen – vielleicht mal die Eichhörnchenplage im Haus zu bekämpfen oder wenigstens mal den Rasen zu mähen. In einer sinnbildlichen Szene besteigt Staci dann anstelle ihres immerhin als Rasenmäherverkäufer tätigen Ehemannes einen Rasenmähertraktor, um die Wiese zu entstruppen.

Das Publikum johlt schon: Ace und Jack in heißen Höschen. Starz

Generell könnten die Frauenfiguren etwas mehr Nuancen vertragen – allerdings gibt es durchaus Ansatzpunkte, die die Hoffnung nähren, dass sich da in den restlichen Folgen etwas tun könnte. Kelli Berglund („Now Apocalypse“) etwa spielt Crystal, die valet von Ace. Valets sind die weiblichen Ringassistentinnen der Wrestler, die in den Storylines oft auch als romantische Gespielinnen vorgesehen sind und ansonsten als eye candy dienen sollen. Crystal gibt sich Ace zwar auch privat hin, hat aber höhere Ambitionen. Sie möchte im Wrestling eine gewichtigere Rolle spielen. Oder Mary McCormack. Die Charaktermimin aus „In Plain Sight“ und „K-Pax“ verkörpert Willie, Jacks taffe und illusionslose Geschäftspartnerin, die als Mischung aus Managerin, Mädchen für alles und Showrunnerin für den reibungslosen Ablauf der Veranstaltungen sorgt: Ihr wäre etwas mehr Backstory ebenso zu wünschen wie Staci, die bislang vor allem die (allerdings zunehmend weniger) duldsame und zugewandte Ehefrau spielen muss. Auch die anderen DWL-Wrestler kommen bislang nur relativ am Rande vor. Da aber Ex-Football-Star James Harrison (als Wrestlingveteran Apocalypse) und Allen Maldonado („Sneakerheads“, „The Last O.G.“) als ehrgeiziger Rooster Robbins zur Hauptbesetzung der Serie zählen, ist von ihnen definitiv noch mehr zu erwarten. Der eine oder andere Rollentausch vom heel zum face (oder umgekehrt) liegt ohnehin in der Luft bzw. im Plural des Serientitels.

Insgesamt zeichnen die beiden Einstiegsfolgen vor allem ein glaubwürdiges Kleinstadtporträt, in dem die Sehnsüchte und Aufstiegsträume der Jungen mit den Absicherungsplänen der Arrivierteren kollidieren und, zwischen Kirchgang, Kneipenschlägerei und Männergesprächen auf dem pittoresken Wasserturm, Fluchtgedanken gegen Heimatliebe abgewogen werden müssen. Tragik und Drama lugen dabei immer um die Ecke: Nahm sich der Vater der Brüder etwa das Leben? Regie-Routinier Peter Segal („Get Smart“, „Die nackte Kanone 33 1/​3“) inszeniert die Folgen im Stil US-amerikanischer Independent-Filme, auf dem Soundtrack sind dazu Singer-Songwriter wie Nathaniel Rateliff oder Lola Kirke zu hören, zwischen den Szenen sorgen atmosphärische Luftaufnahmen für selige Ruhe und diese besondere Form von Provinzmelancholie, die aus „Friday Night Lights“ gut bekannt ist. Ob sich „Heels“ am Ende zur einer vergleichbar heißgeliebten Kultserie aufschwingen kann, bleibt abzuwarten – die ersten zwei Stunden allerdings ziehen sofort in ihren Bann.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten beiden Episoden der Serie „Heels“.

Meine Wertung: 4/​5

Die Serie „Heels“ hatte am 15. August ihre Weltpremiere und wird parallel zur Ausstrahlung beim Streaming-Dienst Starzplay veröffentlicht. Der ist in Deutschland via eigener App oder als Kanal unter Amazon Prime Channels, MagentaTV oder Apple TV zubuchbar.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • am

    ist eine gute Serie
    • am via tvforen.de

      TV Wunschliste schrieb:
      -------------------------------------------------------
      > ... , derzeit schreibt er,
      > darauf aufbauend, am neuen "Doctor
      > Strange"-Abenteuer, ...

      Derzeit? Der Film ist seit Monaten abgedreht und das Drehbuch war ewig vorher fertig.
      • (geb. 1970) am

        Oh mein..., oh je...! User 853408 schüttelt entsetzt den Kopf und legt das Gesicht ungläubig in die Hände!! Was soll das denn werden? Lieber nicht fragen, am besten einfach ignorieren!

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