Folge 17

  • 17. Tschernobyl, 26. April 1986 – Der atomare Schrecken

    Folge 17
    26. April 1986, eine Stunde und 24 Minuten nach Mitternacht. In Block vier des Kernkraftwerkes Tschernobyl, gegenüber der 50 000 Einwohner zählenden Stadt Pripjet in der Ukraine, fand ein Experiment statt. Im Verlauf dieses Experimentes wurde der Alarmknopf gedrückt, um den Reaktor rasch abzuschalten. Zeitzeuge Boris Tscholjaschuk, damals Techniker im Kontrollraum: „Damit begann die Katastrophe. Nach wenigen Sekunden gab es einen krachenden Knall, wie wenn ein Behälter zerreißt. Betonteile und Stahlträger stürzten ein.“ Der Reaktor war explodiert, die 1 000 Tonnen schwere Abdeckplatte in die Luft geflogen.
    Ausgerechnet das Notsystem, das den Reaktor schnell und sicher abschalten sollte, brachte ihn zur Explosion. Das Bremspedal wurde zum Gaspedal. Konstruktionsfehler – so der russische Atomwissenschaftler Wladimir M. Tschemousenkow. Boris’ Kollege Alexander Tschernow, ein weiterer Zeitzeuge der ersten Stunden: „Was geschehen war, konnte unmöglich geschehen sein. Aber es hat tatsächlich stattgefunden.“ Stattgefunden hatte die größte Katastrophe menschengemachter Technik – der Super-GAU.
    Der größte anzunehmende Unfall, schlimmer noch: Der größte nicht mehr zu kontrollierende Unfall in einem Atomkraftwerk. Boris Tscholjaschuk: „Wir wollten den Reaktor kühlen, doch es gab keinen Reaktor mehr.“ Hilflosigkeit, Ohnmacht und Verzweiflung: Stunde um Stunde – bis Mitternacht, 27. April – stieg die Radioaktivität, liefen die Kettenreaktionen unkontrolliert weiter. Dann erst konnten mit Bor und Blei die Spaltprozesse eingedämmt werden.
    Später wurde bekannt, dass bei der Explosion des Reaktors Strahlung in der Größenordnung von 300 Atombomben freigesetzt wurde. 28 Feuerwehrleute starben sofort oder in den nächsten Tagen in der Strahlenklinik Nummer 6 in Moskau. Die radioaktive Wolke breitete sich über Europa aus. Doch die Bevölkerung in der Umgebung des Reaktors und in der Stadt Pripjet wird nicht gewarnt: Familien saßen auf den Balkonen, Kinder spielten im Sand – obwohl die Radioaktivität so hoch war, dass die Strahlung die Emulsion der Filme schwärzte.
    Erst zwei Tage später wurde Evakuierung angeordnet, wurden weite Landstriche der Ukraine und Weissrusslands entvölkert. Äcker versteppen für immer, Häuser verfallen für immer.Ebenfalls zwei Tage nach dem GAU gibt
    Moskau eine dürftige Nachricht heraus. Sie platzt in die zu diesem Zeitpunkt heftig geführte Debatte um die Zerstörung der Ressourcen, der Lebensgrundlagen der Menschen. Sie platzt in die Diskussion um die Grenzen des Wachstums, um die Vergiftung der Luft, Verschmutzung der Meere, um kranke Kinder und sterbende Wälder.
    Großunfälle wie in Seveso, Bhopal, Harrisburgh hatten die Grenzen des Machbaren bereits aufgezeigt. Die Partei der Grünen hatte sich aus örtlichen Bürgerinitiativen im Kampf gegen die Atomkraft gegründet, und damals schon formulierte der SPD-Altlinke Jochen Steffen: „Die herkömmlichen Parteien wissen keine Antworten mehr.“Die der Reaktorkatastrophe folgenden Tage und Wochen in der Bundesrepublik sind gekennzeichnet durch Nachrichtenchaos und Desinformation.
    Viele Experten und Politiker wiegeln ab: Keine Gefahr und keine Gefährdung, hieß es. Doch als schließlich die Radioaktivität in Luft und Boden anstieg, Kühe nicht mehr auf die Weide, Kinder nicht mehr im Sand spielen durften und „Bequerel“ zum Schlagwort der Stunde wurde, macht eine Personengruppe mobil. Es sind Mütter, die sich in Bürgeraktionen zusammenschließen. Karin Wurzbacher, Mitbegründerin der Initiative „Mütter gegen Atomkraft“: „Wir hatten Angst um unsere Kinder.
    Wir wurden politisch.“In der Ukraine sargten inzwischen 700 000 Soldaten, die aus der gesamten Sowjetunion zusammengezogen wurden, den strahlenden Reaktor ein. Diese Soldaten – Liquidatoren genannt – räumten oft mit bloßen Händen den Schutt und die Trümmer beiseite. Wie viele von ihnen an den Spätfolgen der Radioaktivität erkrankten und vorzeitig starben, ist unbekannt. Je nachdem, ob Befürworter oder Gegner der Atomkraft sich äußern, schwankt die Zahl zwischen einigen hundert und 70 000. Zweifelsfrei ist die Zunahme von Krebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen, insbesondere Leukämie und Schilddrüsenkrebs.
    Eine Zahl für viele: In den zehn Jahren vor dem GAU litten in Weissrussland nur acht Kinder an Schilddrüsenkrebs, von 1986 bis 1998 aber erkrankten 600. Besonders gefährdet ist die Altersgruppe der heute Dreizehnjährigen – jene Kinder, die den Atomunfall im Mutterleib erlebten. Der Strahlenbiologe Edmund Lengfelder: „Doch das ist der Anfang. In den kommenden Jahren wird jedes dritte Kleinkind in den betroffenen Zonen an Krebs erkranken. Tschernobyl ist eine Katastrophe, die nie endet.“ (Text: BR)
    Deutsche TV-PremiereMi 11.08.1999Das Erste

Sendetermine

Mo 18.04.2011
22:30–23:15
22:30–
Mi 11.08.1999
NEU
Füge 20 Tage im 20. Jahrhundert kostenlos zu deinem Feed hinzu, um keine Neuigkeit zur Serie zu verpassen.
Alle Neuigkeiten zu 20 Tage im 20. Jahrhundert und weiteren Serien deiner Liste findest du in deinem persönlichen Feed.

Reviews & Kommentare

    Erinnerungs-Service per E-Mail

    TV Wunschliste informiert dich kostenlos, wenn 20 Tage im 20. Jahrhundert online als Stream verfügbar ist oder im Fernsehen läuft.

    Folge zurückFolge weiter

    Auch interessant…