„The Watcher“: Netflix-Thriller-Serie nach wahrem Fall ist überzeichnet, sorgt aber für Frösteln – Review

Familie wird nach Umzug in Traumhaus von unbekanntem Briefschreiber terrorisiert

Rezension von Christopher Diekhaus – 15.10.2022, 11:24 Uhr

Nora (Naomi Watts) und Dean Brannock (Bobby Cannavale) glauben, ihr Glück wiedergefunden zu haben. – Bild: Netflix
Nora (Naomi Watts) und Dean Brannock (Bobby Cannavale) glauben, ihr Glück wiedergefunden zu haben.

Dass großes Glück und echter Schrecken manchmal nah beieinanderliegen, erfuhr die fünfköpfige Familie Broaddus 2014 auf schmerzliche Weise. Nach dem Erwerb einer stattlichen Villa in der wohlhabenden Kleinstadt Westfield im US-Bundesstaat New Jersey tauchten, noch bevor die neuen Eigentümer wirklich einziehen konnten, Briefe auf, in denen eine mit „The Watcher“ unterschreibende Person kryptische Hinweise zur Vergangenheit des Hauses vorbrachte, merkwürdige Fragen aufwarf und unmissverständlich betonte, dass sie das Anwesen genau im Blick behalten würde. Ein Traum mutierte plötzlich zu einem Albtraum, dem vor allem ein ausführlicher Artikel des Journalisten Reeves Wiedeman zu größerer Bekanntheit verhalf. Eben dieser Bericht, um den sich diverse Hollywood-Studios rissen, dessen Rechte schlussendlich aber an Netflix gingen, bildet nun die Grundlage für die schaurige Thriller-Miniserie „The Watcher“. Darin benutzen die Schöpfer Ryan Murphy und Ian Brennan, die aktuell große Erfolge mit ihrer True-Crime-Serienkiller-Story „Dahmer – Monster: Die Geschichte von Jeffrey Dahmer“ feiern, die wahren Begebenheiten als Aufhänger, um ein saftiges, keineswegs klischeefreies Bild der Suburbia-Abgründe an die Wand zu malen. Den Menschen in Westfield, die, wie man hören kann, inzwischen schlecht auf den Broaddus-Rummel zu sprechen sind, dürfte die Aufbereitung als Unterhaltungsstoff eher nicht gefallen.

Ruhige Straßen, imposante Häuser und reichlich Grün – der Anblick, der sich Nora (Naomi Watts) und Dean Brannock (Bobby Cannavale) bietet, als sie mit ihren Kindern Ellie (Isabel Gravitt) und Carter (Luke David Blumm) zu ihrem potenziellen neuen Eigenheim fahren, ist allemal verlockend. In hellen, aufgeräumten Bildern beschwört die Serie das Gefühl, in einem Paradies angekommen zu sein. Der Haken an der Sache: Noch müssen die Brannocks ihre Mitbewerber ausstechen, von denen einer gleich – genrekonformer geht es nicht – als bedrohlicher Umriss in einem der oberen Fenster inszeniert wird. Zum Glück kennt Nora die Maklerin Karen Calhoun (Jennifer Coolidge) aus Studienzeiten, sodass ein Zuschlag nur noch Formsache ist. Als auch die finanziellen Angelegenheiten geklärt sind, treffen wir die Vier nach einem Zeitsprung von sechs Wochen in ihrem stattlichen Westfield-Nest wieder.

Alles könnte prima sein. Doch mit den Nachbarn werden die Brannocks nicht richtig warm. Kein Wunder, schlagen ihnen doch von Anfang an Misstrauen und Feindseligkeit entgegen. Das Ehepaar Mo (Margo Martindale) und Mitch (Richard Kind), das stets die gleichen Jogginganzüge trägt und sich in seinen Gartenstühlen fläzt, hat wenig übrig für Ellies Klavierspiel, wechselt rasch in den Beleidigungsmodus und betritt einfach das fremde Grundstück, um dort herüberwuchernde Pflanzen zu stutzen. Nicht viel besser steht es um die Beziehung mit der altjüngferlichen Pearl Winslow (Mia Farrow), die als Mitglied des Denkmalschutzvereins Sorge hat, dass die rasch Umbaumaßnahmen ins Auge fassenden Zugezogenen den historischen Speisenaufzug in ihrem Haus entsorgen könnten. Als völlig normal empfindet es die betagte Dame übrigens, dass ihr psychisch kranker Bruder Jasper (Terry Kinney) in die Brannock-Villa einsteigt und in besagten Fahrstuhl klettert. Alle vorherigen Besitzer hätten sich daran nicht gestört!

Die Nachbarn Mitch (Richard Kind) und Mo (Margo Martindale) haben die Brannocks gleich auf dem Kieker. Netflix

Das Nebenfigurenpersonal – so viel steht schon im Verlauf der ersten Folge fest – ist betont verschroben und zuweilen deutlich überzeichnet. Besonders Mia Farrows Pearl wirkt in ihrer strengen, verkniffenen Aufmachung dermaßen drüber, dass man sie – auch als Bedrohung – nicht wirklich ernst nehmen mag. Mit dicken Pinselstrichen ist ferner Marias alte Freundin Karen entworfen, die den schönen Schein der Vorstadtwelt und den Dreck dahinter repräsentiert. Schauspielerisch tut sich vor allem Margo Martindale hervor, die ihren krawalligen Part sichtbar auskostet.

Dass die Menschen um die Brannocks herum ohne große Nuancen als abweisend und sinister gezeichnet werden, dient natürlich einem konkreten Zweck: Jeder soll potenziell verdächtig sein, wenn der Briefterror einmal losgeht. Passenderweise lassen sich mehrere Charaktere zu Sätzen wie „Ich behalte sie im Auge“ hinreißen. Für ein Frösteln sorgen in den Auftaktfolgen die immer mal wieder eingestreuten Einstellungen, in denen irgendwo vor dem Haus ein Beobachter oder eine Beobachterin im Anschnitt zu sehen ist. Die für die Schreiben verantwortliche Person macht keine Scherze und treibt ihr Spiel aus dem Schatten heraus. Handelt es sich bei ihr wirklich um einen Mann, wie Ryan Murphy und Ian Brennan nahelegen, indem sie die Inhalte der Briefe mehrfach von einer männlichen Stimme vorlesen lassen?

Die Frage nach der Identität macht freilich einen Teil der Spannung aus. Ob es am Ende eine Antwort gibt, ist allerdings keinesfalls sicher. Möglich ist auch, dass die Macher den mysteriösen Schreiberling lediglich als Katalysator verwenden, um in erster Linie vom Auseinanderbrechen einer Familie zu erzählen. Häppchenweise erfahren wir von finanziellen Schwierigkeiten in der Vergangenheit, vom Knirschen in der Ehe. Beruflich wächst der Druck auf Dean, da er sich offenbar mit dem Kauf des sündhaft teuren Hauses übernommen hat. Sein Kontrollwahn gegenüber seiner Teenagertochter, die so lange wie möglich ein kleines, braves Mädchen bleiben soll, bringt Nora auf beunruhigende Gedanken. Und mit dem Sex will es nicht mehr klappen, als sie und ihre Kinder während der Umbaumaßnahmen vorübergehend ein Motel beziehen. Konflikte und Frustrationen, die vorher unter der Oberfläche vor sich hin brodelten, werden durch die Briefe und die damit einziehende Angst auf einmal freigesetzt.

Privatdetektivin Theodora Birch (Noma Dumezweni) informiert Dean (Bobby Cannavale) über ihre Recherchen. Netflix

Ihr Hauptaugenmerk legt die Serie unübersehbar auf die Figur des Vaters, der im Gegensatz zu seiner etwas blass bleibenden Ehefrau viel Raum bekommt: Wie geht Dean damit um, dass die Hoffnung auf neues Glück plötzlich ins Gegenteil umschlägt? Dass er, der sich in der klassischen Rolle des Beschützers und Problemlösers sieht, mehr und mehr den Zugriff verliert? Nicht umsonst bieten Murphy und Brennan weitere Männer mit schrecklichen Krisenerfahrungen auf. In Folge zwei trifft sich Dean mit einem der Vorbesitzer (Seth Gabel), der von schlimme Dingen berichtet, jedoch einen stark verwirrten und paranoiden Eindruck hinterlässt. Kann man seinen Schilderungen trauen? Zumal sie von den wahnwitzigen Ideen der QAnon-Verschwörungsideologie beeinflusst scheinen?

Wirklich gruselig wird es in der dritten Episode, in der „The Watcher“ nach einer heftigen Wendung im vorigen Kapitel weiter den Boden der realen Ereignisse verlässt und frei drauflosspinnt. Bereits Deans Begegnung mit einem falschen, merkwürdig übergriffigen, an einen religiösen Eiferer erinnernden Bauinspektor (Joe Mantello) sorgt für eine Gänsehautatmosphäre. Das mulmige Gefühl wird man auch dann nicht los, als die von Dean engagierte Detektivin Theodora Birch (Noma Dumezweni) von blutigen Vorfällen in seinem neuen Heim berichtet. Einmal mehr hantieren die Serienschöpfer mit grobem Werkzeug. Ihre beklemmende Wirkung verfehlt die ins Bild gesetzte Erzählung der privaten Ermittlerin jedoch nicht. Gerade nach diesem Paukenschlag könnte der Untergang der Brannocks merklich an Fahrt aufnehmen, wobei man Dereks Verhalten eigentlich hinterfragen müsste. Das, was er gerade erlebt und erfahren hat, sollte ihn eigentlich dazu veranlassen, seine Familie zu informieren und sofort die Koffer zu packen. In Filmen und Serien gelten aber – das kennen wir – andere Regeln, weil sonst der Schrecken viel zu schnell vorbei wäre.

Der Text basiert auf der Sichtung der ersten drei von insgesamt sieben Folgen der Miniserie „The Watcher“.

Meine Wertung: 3/​5

Alle Episoden der Miniserie „The Watcher“ sind seit dem 13. Oktober 2022 bei Netflix abrufbar.

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • (geb. 1980) am

    Also ich fand vor allem das Schauspiel ganz stark und auch das Ende hätte ich so nicht erwartet. Bei nur 7 Folgen kamen auch nie Längen auf. Ich kann die Serie empfehlen.

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