„Severance“: Ben Stillers atmosphärische Thriller-Serie entwirft Gruselvision der ultimativen Work-Life-Balance – Review

Arbeit und Privatleben werden durch chirurgischen Eingriff getrennt

Rezension von Christopher Diekhaus – 17.02.2022, 18:57 Uhr

Adam Scott beschleichen in der Thriller-Serie „Severance“ am Arbeitsplatz Zweifel. – Bild: AppleTV+
Adam Scott beschleichen in der Thriller-Serie „Severance“ am Arbeitsplatz Zweifel.

Wie bringe ich meinen Berufsalltag und mein Leben außerhalb des Jobs in Einklang? Unter dem vielbeschworenen Stichwort Work-Life-Balance gibt es in der modernen Gesellschaft unzählige Angebote, die Erfolg auf der Suche nach dem perfekten Weg zum großen Glück versprechen. Ein gutes Gleichgewicht ist freilich eine schöne Sache, lässt sich in der Praxis – gerade in der heute auf ständige Erreichbarkeit getrimmten Welt – aber oft nicht ganz so einfach umsetzen. Dass man den guten Gedanken hinter der Ausgewogenheit auch ins Abgründige kippen lassen kann, zeigt die neue Apple-Eigenproduktion „Severance“, die aus der Feder des bislang noch unbeschriebenen Autors Dan Erickson stammt. Zusammen mit Hollywood-Star Ben Stiller, der als ausführender Produzent agierte und sechs der insgesamt neuen Folgen in Szene setzte, legt er eine dystopische Thrillerserie hin, die vom Start weg eine seltsam surreale, beklemmende Atmosphäre erzeugt.

Alles beginnt mit dem Erwachen einer jungen Frau (Britt Lower) auf einem Konferenztisch in einen anonymen Besprechungszimmer. Was sie dort macht und wie sie dort hingekommen ist, weiß sie nicht. Die Türen sind verschlossen, und niemand ist zu sehen. Über Lautsprecher meldet sich dann aber die Stimme eines Mannes, der einen kurzen Fragebogen mit ihr durchgehen möchte. Vier von fünf Malen hat sie keine Ahnung, was sie sagen soll. Selbst ihr Vorname fällt ihr nicht ein. Zu ihrer Überraschung betritt anschließend dennoch ihr Gesprächspartner Mark (Adam Scott) den Raum und gratuliert ihr zum guten Abschneiden. Ähnlich verwirrt wie Helly, so heißt die verunsicherte Frau, dürfte auch der Zuschauer sein. Vor allem, wenn man die Prämisse von „Severance“ nicht kennt. Mit Helly stehen wir vor einem großen Fragezeichen: Wofür das Ganze? Ist der in Schummerlicht getauchte Typ mit Anzug und Clipboard etwa ein Entführer?

Mitnichten, wie wir wenig später erfahren. Vielmehr soll er als frisch ernannter Leiter seiner Abteilung dafür Sorge tragen, dass sich Helly schnellstmöglich zurechtfindet. Genau wie er ist sie nämlich Angestellte von Lumon Industries, einer Firma, die eine bahnbrechende Methode entwickelt hat, um Arbeitswelt und Privates komplett voneinander abzuschirmen. Unter dem Begriff Severance versteht man einen chirurgischen Eingriff, der die Erinnerungen örtlich trennt. Alles, was im Büro passiert, vergisst man nach Verlassen des Fahrstuhls. Und nichts, was in der Freizeit geschieht, nimmt man mit in den Job. Während Mark bereits vor zwei Jahren durch diese Prozedur gegangen ist, muss sich nun Helly in der Orientierungsphase an ihr neues zweigeteiltes Ich gewöhnen, dem sie – ein Video scheint es zu beweisen – freiwillig zugestimmt hat. Trotzdem fällt es ihr nicht gerade leicht, sich an die neue Realität zu gewöhnen. Zu bizarr kommt ihr das Erlebte und Erklärte vor. Kein Wunder, dass sie an einer Stelle wissen will, ob sie in der Hölle gelandet oder tot sei.

Mark (Adam Scott) will Helly (Britt Lower) die Orientierung erleichtern. AppleTV+

Zentrale Figur der Handlung ist allerdings nicht Helly, sondern Mark, der sich in seiner plötzlichen Führungsrolle spürbar unwohl führt. Wird der Einstieg noch einmal aus seiner Perspektive gezeigt, sieht man, wie sehr er sich an das Protokoll klammert und wie oft er fragend zu seinem Kollegen Irving (John Turturro) schaut, der ihn einarbeiten soll. Hier will jemand unbedingt alles richtig machen, verkrampft aber gerade deshalb. Interessant ist der Vergleich zwischen Marks Auftreten in der Firma und seinem Leben außerhalb. Sein „Outie“, so wird die Version jenseits der Arbeitswelt bezeichnet, ist deutlich nachdenklicher und trägt eine nicht überwundene Last mit sich herum: Der Tod seiner Frau nagt schwer an ihm, wie ein Tränenausbruch in den ersten Minuten nahelegt. Durchquert er die Eingangstür zum Lumon-Industries-Sitz, verfliegt dieser Schmerz jedoch in Windeseile. Für ein paar Stunden vergisst er schlicht die Trauer.

Vielleicht kann man diesen Umstand auch positiv sehen. „Severance“ schlägt aber schon früh beunruhigende Töne an. Nahezu alles ist bei Lumon Industries reglementiert. Abweichungen vom Protokoll ziehen umgehend Bestrafungen nach sich. Ständig werden die Mitarbeiter überwacht. Und weder Mark noch seine Kollegen wissen, wofür genau ihre Arbeit, die Beobachtung von Zahlenkolonnen auf Monitoren und das Herausfiltern besorgniserregender Kombinationen – gut ist. Das Unternehmen, dessen Tätigkeitsfeld in den für diese Kritik gesichteten Folgen eins und zwei nie richtig benannt wird, zieht sich mithilfe der Trennungspraxis, so sieht es jedenfalls aus, fleißige, gehorsame, von persönlichen Problemen unbelastete Arbeitstiere heran.

Dylan (Zach Cherry, links), Helly (Britt Lower) und Irving (John Turturro) haben eine unheimliche Zahlenkombination entdeckt. AppleTV+

Die sich schnell auftürmenden Fragen und Irritationen verleihen dem Geschehen eine gute Grundspannung. Ein mulmiges Gefühl beschleicht allerdings nicht nur den Zuschauer. Auch Mark kommt ins Grübeln, als sein Kollege Petey (Yul Vazquez) von heute auf morgen nicht mehr im Büro auftaucht. Eben dieser Aspekt setzt eine Thriller-Mechanik in Gang, die den Protagonisten im weiteren Verlauf in Bedrängnis bringen dürfte. Dass die Augen seiner Vorgesetzten Peggy (furchteinflößend kalt: Patricia Arquette) bis in sein privates Leben reichen, deutet sich jedenfalls schon am Ende der ersten Episode an.

Sehr wichtig für das manchmal mit einem Schuss Absurdität abgeschmeckte Unbehagen, das sich beim Schauen einstellt, ist die formale Gestaltung der Apple-Produktion. Die beiden Auftaktfolgen unter der Regie Ben Stillers lassen großes Stilbewusstsein erkennen. Vor allem das Innere des Konzerngebäudes hat etwas Bedrohliches an sich. Eine starke Enge strahlen etwa die schier endlos langen Gänge aus, die wir mit Mark regelmäßig entlangschreiten. In großen Räumen sind oft nur wenige Möbel und Gegenstände platziert, was die Figuren häufig merkwürdig verloren aussehen lässt. Die stets nach Unheil klingende Musikuntermalung trägt schließlich ihren Teil dazu bei, dass „Severance“ mitunter eine an David Lynch erinnernde rätselhaft-gruselige Stimmung heraufbeschwört. Eine Atmosphäre, in der komische Zwischentöne schnell ins Verstörende kippen – siehe zum Beispiel den Moment, als Irving ausnahmsweise Informationen über seine Outie-Existenz erhält. Sollte es den Machern gelungen sein, die schaurige Aura auch den restlichen Episoden einzuimpfen, darf man Stiller und Co zu einer wirklich überzeugenden und originellen Serie gratulieren.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten zwei von insgesamt neun Folgen der Serie „Severance“.

Meine Wertung: 4/​5

Die ersten zwei Folgen der Serie „Severance“ sind ab dem 18. Februar bei Apple TV+ verfügbar. Die Ausstrahlung der übrigen Episoden erfolgt im wöchentlichen Rhythmus.

Kommentare zu dieser Newsmeldung

    weitere Meldungen