Darby Hart (Emma Corrin, l.) und Bill (Harris Dickinson) sind ungeklärten Mordfällen auf der Spur.
Bild: FX
Man nehme ein illustres Figurenensemble, führe es an einem einsamen Ort zusammen, lasse ein Verbrechen geschehen und langsam dunkle Flecken in der Vergangenheit der Anwesenden ans Tageslicht kommen. Schon Agatha Christie, die ungekrönte Queen of Crime, erkannte die Sogkraft dieser erzählerischen Konstruktion und spielte sie in ihrem 26. Kriminalroman „Und dann gab’s keines mehr“ aus dem Jahr 1939 wirkungsvoll durch. Einen ganz ähnlichen Ansatz wählen auch Brit Marling und Zal Batmanglij, Schöpfer der gefeierten Netflix-Scifi-Serie „The OA“, für ihr neues Projekt „A Murder at the End of the World“. Verknüpft wird darin ein Mordrätsel mit einem Blick auf eine unsichere Zukunft und auf die Gewalt, die Frauen in unserer Gesellschaft häufig widerfährt. Klingt ambitioniert? Ist es wohl auch. Nach Sichtung der ersten beiden von insgesamt sieben Folgen poppen viele interessante Ideen auf. Ob sie am Ende zufriedenstellend verknüpft werden, lässt sich allerdings noch nicht treffsicher sagen.
„No ID, no case!“, heißt es in der Originalfassung an einer Stelle – womit der Antrieb der Hauptfigur pointiert umschrieben wäre. Darby Hart (Emma Corrin) hat, so sagt sie selbst, eine spezielle Verbindung zu den Toten. Besonders zu jenen erschreckend vielen Frauen, die Jahr für Jahr in den USA gewaltsam ums Leben kommen und, da sie nicht identifiziert werden können, zu den Akten wandern. Schon als Teenagerin begleitet Darby immer wieder ihren Vater (Neal Huff), einen Gerichtsmediziner, an unterschiedlichste Tatorte und muss beobachten, wie schnell die Vergessenheit Besitz von manchen Opfern ergreift. Ihr Schicksal zu klären, schreibt sie sich mit Überzeugung auf die Fahne und nutzt jede freie Minute für unbezahlte Detektivarbeit.
Darby (Emma Corrin) sucht in Ronsons Rückzugsort nach Hinweisen. FX
Ihr eigenwilliges Interesse macht die mit Hackerfähigkeiten ausgestattete Darby zu einer Außenseiterin. Und doch findet sie in einem Online-Kontakt namens Bill (floddermäßig zurechtgemacht: Harris Dickinson) einen partner in crime. Gemeinsam suchen sie nach Hinweisen und Mustern, die auf Mordserien hindeuten könnten, und verlieben sich dabei. Eine ihrer Recherchen, die Darby in einem True-Crime-Buch verarbeitet, mündet allerdings in einer unerwarteten Trennung.
Im Hier und Jetzt – sechs Jahre der Funkstille sind inzwischen vergangen – kommt es jedoch zu einem ebenso überraschenden Wiedersehen. Nicht nur Darby ist der Einladung des Tech-Milliardärs Andy Ronson (Clive Owen) zu einem geheimnisvollen Meeting mehrerer kluger Köpfe mitten in der isländischen Einsamkeit gefolgt. Auch Bill nimmt am Tisch des Gastgebers Platz, ist aber in erster Linie anwesend, weil er dessen Ehefrau Lee (Serienschöpferin Brit Marling) treffen möchte. Eine einst berüchtigte Hackerin, die nach der Preisgabe ihrer Identität im Internet untertauchen musste. Wenig verwunderlich kennt Darby ihre Geschichte und freut sich ungemein, ihr persönlich zu begegnen. Ein kurz nach der Ankunft in Island zu beklagender Todesfall sorgt unter den neun angereisten Gästen schließlich für Unruhe.
Tech-Mogul Andy Ronson (Clive Owen) hat zum Gedankenaustausch eingeladen. FX
„A Murder at the End of the World“ wirkt ein bisschen wie eine Mischung aus dem oben erwähnten Christie-Roman „Und dann gab’s keines mehr“ und dem cleveren Science-Fiction-Kammerspiel „Ex Machina“. Diese Assoziationen wecken zumindest die beiden Auftaktepisoden. An den 2014 veröffentlichten Film von Alex Garland muss man schon deshalb denken, weil der abgelegene Schauplatz einen wahrlich spektakulären Eindruck hinterlässt. Regelrecht hineingeworfen in die eisige Einöde scheint das von Ronson gebaute Hotel aus Glas und Holz, das Darby und Co mit allerlei technischem Schnickschnack empfängt. Eine Künstliche Intelligenz (Edoardo Ballerini), vom Hausherrn mit Nachdruck „alternative Intelligenz“ genannt, umsorgt die Besucher, ist natürlich aber auch ein Überwachungstool.
Technikängste, Technikmöglichkeiten, unter anderem der KI-Einsatz in der Film- und Fernsehindustrie, drohende ökologische Katastrophen, der allgemein instabile Zustand der Welt und die Frage, wie wir der Menschheit eine sichere Zukunft bauen können – all dies möchte Andy Ronson bei der klandestinen Zusammenkunft besprechen. Welche Ergebnisse er erzielen will, mit welchen Erwartungen die Gäste an das Treffen herangehen und ob Einzelne von ihnen im Vorfeld ausführlichere Informationen erhalten haben, wird in den ersten Folgen nicht ganz klar. Abgesehen von Darby fehlt es den anderen Besuchern, etwa der Astronautin Sian (Alice Braga), dem Filmemacher Martin (Jermaine Fowler) und der Smart-City-Architektin Lu Mei (Joan Chen), noch an Profil. Besonders hervortun kann sich bis zum Ende der zweiten Episode leider niemand unter ihnen.
Welche Rolle spielt Ronsons Eherfau Lee (Brit Marling, vorne)? Das möchte Darby gerne (Emma Corrin, hinten) wissen. FX
Etwas anders sieht das beim Gastgeber aus, den Clive Owen zwischen freundlicher Offenheit und energischer Bestimmtheit anlegt. Mehr als einmal blitzt in Andys Ansagen oder Blicken eine Schärfe auf, die irritiert. Hat der Tech-Gigant etwas zu verbergen? Führt er Unheilvolles im Schilde? Beiseiteschieben lassen sich diese Vermutungen nicht. Denn weshalb ist er so sehr darauf erpicht, den plötzlichen Tod eines Anwesenden auf eine Überdosis zurückzuführen? Darbys Misstrauen ist jedenfalls geweckt, hat sie die letzten Momente des Opfers doch aus der Nähe miterlebt. Schwer greifbar ist anfangs Ronsons Gattin Lee, mit der Brit Marling einmal mehr ihre Vorliebe für mysteriöse Charaktere demonstriert. Ob „The OA“ oder der Sektenthriller „Sound of My Voice“ – gerne schlüpft die mittlerweile auch als Drehbuchautorin etablierte US-Darstellerin in Rollen, die eine sonderbare Aura umweht.
Zusammen mit ihrem langjährigen Kreativpartner Zal Batmanglij untermauert Marling in „A Murder at the End of the World“ zudem ihren Faible für leicht unkonventionell gestrickte, nicht aggressiv vorwärtsdrängende Geschichten. Des Öfteren hält die Miniserie inne, um dem Befinden der Figuren nachzuspüren, wobei die ausgewählten Musikstücke eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Darbys Erlebnisse in Island werden kontinuierlich von Rückblenden unterbrochen, in denen die Annäherung an Bill, die ersten gemeinsamen Ermittlungen in den Fokus rücken. Ihre Love Story hat nichts mit den üblichen Hollywood-Fantasien zu tun, ist irgendwie anders – im positiven Sinne. Spüren kann man die ungewöhnliche Verbundenheit auch beim Wiedersehen im Hause Ronsons.
Als Protagonistin mit Ecken und Kanten hat Darby ihren Reiz. Nicht zuletzt, weil Emma Corrin Neugier, Entschlossenheit und Verletzlichkeit gut auszubalancieren weiß. Obwohl viele Elemente zu passen scheinen, fehlt es nach dem Einstieg noch ein wenig an Zugkraft, an Spannungsmomenten, die den Puls für längere Zeit nach oben treiben. Gute Ansätze sind da. Um das Interesse sieben Episoden lang zu halten zu können, muss es aber noch etwas mehr knistern.
Der Text basiert auf der Sichtung der ersten beiden von insgesamt sieben Folgen der Miniserie „A Murder at the End of the World“.
Meine Wertung: 3,5/5
Die ersten beiden Episoden der Miniserie „A Murder at the End of the World“ sind ab dem 14. November bei Disney+ verfügbar. Die restlichen Folgen werden dann im wöchentlichen Rhythmus veröffentlicht.
Über den Autor
Christopher Diekhaus, Jahrgang 1985, erlebte seine TV-Sozialisation in den 1990er-Jahren. Seine echte Liebe für den Flimmerkasten entbrannte allerdings erst gegen Ende der Schulzeit. Nach seinem Studium landete er zunächst in einer Film- und Fernsehproduktionsfirma. Seit 2013 schreibt Christopher als Freiberufler Film- und Serienkritiken. Das Portal fernsehserien.de unterstützt er seit Ende 2019. Im Meer der Veröffentlichungen die Perlen zu entdecken – diese Aussicht spornt ihn immer wieder an. Insgeheim hofft er, irgendwann eines seiner in der Schublade liegenden Drehbücher zu verkaufen. Bis er den Oscar in Händen hält, sichtet und rezensiert er aber weiter fleißig die neuesten Serien.
Das Finale in der 7. Folge ist verstörend und gesellschaftlich sehr wichtig zugleich, weil es in schonungsloser Weise die Grenzen von Künstlicher Intelligenz aufzeigt. Eine wichtige Serie für die weitere Debatte über «Künstliche Intelligenz» und dessen Werte-Kontext...