„A Friend of the Family“: Wenn der nette Nachbar sich als Teufel entpuppt – Review

Anna Paquin in wahrer, aber unglaublicher Geschichte einer zweifachen Kindesentführung

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 25.11.2022, 15:22 Uhr (erstmals veröffentlicht am 10.10.2022)

„A Friend of the Family“: Anna Paquin mit Hendrix Yancey – Bild: Peacock
„A Friend of the Family“: Anna Paquin mit Hendrix Yancey

Dieser Text zur Miniserie „A Friend of the Family“ entstand anlässlich des Beginns der US-Ausstrahlung der Serie bei Peacock. Eigentlich sollte die Serie ab dem 25. November 2022 ihre Deutschlandpremiere beim hiesigen Peacock haben und bei WOW und Sky Q abrufbar sein – die Veröffentlichung wurde jedoch kurzfristig aufgeschoben.

Es sind oft die unglaublichsten Geschichten, die mit dem Hinweis „Basierend auf wahren Ereignissen“ versehen werden. Frei nach dem Motto: Zu verrückt, um es sich auszudenken. Zum Beispiel die Geschichte einer streng religiösen Familie aus Idaho, deren minderjährige Tochter nicht nur einmal, sondern innerhalb von zwei Jahren zweimal vom selben Mann entführt wird, den die Familie sehr gut kennt. Teilen sie mit ihm doch nicht nur die Kirchengemeinde, sondern auch große Teile ihrer Freizeit. Selbst nach der ersten Entführung sind die Eltern der Gekidnappten noch zu naiv, um zu erkennen, wie perfide der Psychopath sie manipuliert.

Den realen Kriminalfall um die Familie Broberg und ihren „engen Freund“ Robert „B“ Berchtold hat Netflix bereits 2017 in der Dokumentation „Abducted in Plain Sight“ aufgearbeitet. Mit „A Friend of the Family“ legt der US-Streamingdienst Peacock, hinter dem NBCUniversal steckt, jetzt eine neunteilige fiktionalisierte Miniserie nach. Bei der fungieren das damalige Entführungsopfer Jan Broberg und deren Mutter Mary Ann als ausführende Produzentinnen. Und so führt die erwachsene Jan zu Beginn selbst in die Serie ein und erklärt, dass es damals andere Zeiten gewesen wären und man ihre Eltern deshalb nicht für ihre Naivität verurteilen solle.

Genauer gesagt ist es die Mitte der 1970er Jahre, in die uns die Serienhandlung katapultiert. Im kleinstädtischen Idaho führt die Mittelschichtsfamilie Broberg ein glückliches Leben, das den meisten heute Zusehenden recht fremd sein dürfte: fast vollkommen beschränkt auf die Vorstadt und die eigene Nachbarschaft, wo Pädophilie noch ein unbekanntes Fremdwort ist, mit einem Alltag, der aus Arbeit, Kernfamilie und sonntäglichem Kirchgang besteht, wobei erstere für Mutter Mary Ann (Anna Paquin, „True Blood“) natürlich nur Hausarbeit bedeuten kann, während Vater Bob (Colin Hanks, „Fargo“) einen Blumenladen betreibt. Drei kleine Töchter bilden den Mittelpunkt der Idylle. Robert und Mary Ann sind Mormonen und erziehen ihre Kinder religiös, aber nicht fanatisch.

US-amerikanische Musterfamilie: die Brobergs mit Mutter Mary Ann (Anna Paquin), Tochter Jan (Hendrix Yancey) und Vater Bob (Colin Hanks) Peacock

In ihrer Gemeinde lernen sie auch Robert Berchtold (Jake Lacy, „The Office“) und dessen Familie kennen, bestehend aus Gattin Gail (Lio Tipton), drei Söhnen und einer Baby-Tochter. Schnell haben sich die beiden gleichgesinnten Familien angefreundet, verbringen immer mehr ihrer Freizeit miteinander und insbesondere Robert, den die Brobergs wegen der Namensgleichheit der beiden Väter bald nur noch „B“ nennen, macht sich selbst zunehmend zu einer Art Zweitvater für die Töchter.

Während man als Zuschauer schnell misstrauisch wird, bleibt das Ehepaar Broberg lange naiv – auch als Robert immer mehr Zeit alleine mit der zwölfjährigen Jan (Hendrix Yancey) verbringt. Als er sie eines Nachmittags – gegen das ausdrückliche Verbot Bobs – zum Reiten bringen will, kommen die Beiden nicht mehr zurück. Obwohl das Gespräch mit Gail weitere Verdachtsmomente aufwirft, schalten die Brobergs auf deren Flehen hin erst drei Tage später die Polizei ein. Das FBI findet heraus, dass „B“ Jan in seinem Wohnmobil nach Mexiko entführt hat. Doch das Mädchen fühlt sich auch nach ihrer Befreiung nicht als Opfer, sondern weiterhin als Bs Vertraute, hat der doch eine ausgeklügelte Geschichte inszeniert, nach der die Beiden von Außerirdischen entführt wurden, Jan selbst einen Alien-Vater hat und dessen Planeten retten muss.

Der perfekte Nachbar ist in Wahrheit ein pädophiler Psychopath: Robert (Jack Lacy) ruft aus Mexiko an Peacock

Die Identifikation des Opfers mit ihrem Entführer, dem kein sexueller Missbrauch nachgewiesen werden kann, geht weit über das bekannte Stockholm-Syndrom hinaus. Mit seiner Mischung aus Charme, Schmeichelei, Mitleidstour und – im Falle von Bob – auch Erpressung, schafft Robert es aber auch, die Eltern zu indifferenten bis eher positiven Aussagen über ihn zu bewegen. Das wird die Grundlage dafür, dass er zwei Jahre später die inzwischen 14-Jährige (dann gespielt von Mckenna Grace) ein zweites Mal entführen kann.

Erzählen die ersten beiden Episoden der Miniserie noch eine recht bekannt anmutende Geschichte, wie man sie schon in vielen Kriminalfilmen oder -serien gesehen hat, gerät man ab Folge 3 zunehmend in ungläubiges Staunen ob des Verhaltens der Brobergs. Die Episode springt noch einmal zurück und enthüllt, dass sich Robert schon längere Zeit vor der ersten Entführung teils höchst merkwürdig verhalten hat. Verdachtsmomente hat es dann vor allem bei Bob auch tatsächlich gegeben, trotzdem wirkt das Handeln der Eltern fast wie eine Verletzung ihrer Aufsichtspflicht für Jan.

Geschenkkorb von den Nachbarn: die Brobergs Peacock

Völlig absurd wird es in Folge 4, wenn die Brobergs nicht nur selbst (unabsichtlich) das Strafverfahren gegen den Entführer ihrer Tochter torpedieren, sondern Mary Ann ihm sogar noch näher kommt. In dieser Episode entwickelt die Serie auch einen religionskritischen Aspekt, denn letztlich sind es ihre übersteigerten christlichen Moralvorstellungen (Nächstenliebe und Vergeben als oberste Gebote), die die Brobergs so fehlleiten. Und wenn Jan in ihrem Nachtgebet mit Gott über ihre Alien-Verwandten spricht, kann man kaum anders, als zu denken: Wer von klein auf an ein höheres allmächtiges Wesen im Himmel glaubt, ist wohl auch anfälliger dafür, an Außerirdische zu glauben, die einen entführt haben sollen.

Inszenatorisch erlaubt sich die Miniserie keine großen Experimente (Regie bei Episode 1 und 3 führte Eliza Hittman, die für den Indiefilm „Niemals Selten Manchmal Immer“ bekannt ist). Auch die Drehbücher sind klassisch ausgefallen, sie erzählen geradlinig die ohnehin schon unglaublich anmutende Geschichte, ohne allzu dramatisch zuzuspitzen. Das ist insgesamt angemessen, führt streckenweise aber auch zu Längen bei den immer gut 50-minütigen Folgen. Gleichzeitig werden die Figuren mit Respekt behandelt, ohne dass sich die Serie über die Naivität der Brobergs erheben würde – eigentlich auch klar, wenn zwei von ihnen selbst an der Produktion beteiligt waren. Schauspielerisch überzeugen vor allem Lacy als ebenso charmanter wie diabolischer Pädophiler sowie Kinderdarstellerin Yancey.

Als 14-Jährige wird sie erneut entführt: Teenagerin Jan (Mckenna Grace) Peacock

Was bleibt, ist eine Geschichte aus einer Welt ohne Internet und Boulevardmedien, die aber nicht unbedingt besser gewesen ist als unsere heutige mit ihren oft überhitzten Debatten und der medialen Überflutung. So kann man, je länger sich die Handlung entfaltet, fast schon froh sein, dass es heute an jeder ländlichen Milchkanne WLAN gibt und solch grenzenloses Gottvertrauen selten geworden ist. Um das zu erkennen, hätte es allerdings keine neun Episoden gebraucht.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten vier Episoden von „A Friend of the Family“.

Meine Wertung: 3,5/​5

Die neunteilige Miniserie läuft in den USA derzeit auf dem Streamingdienst Peacock.

Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • (geb. 1967) am

    Wie ich es langsam aber sicher hasse, dass HBO max Inhalte noch immer auf Sky laufen dürfen und dann auf den nicht minder beschissenen Streaming Dienst RTL+!!

    HBO und peacock und paramount müßten hier in Deutschland auch NUR für sich alleine laufen dürfen!
    • (geb. 1968) am

      Dürfen? Dann sollen sie die Rechte halt nicht verkaufen.

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