Es hat bereits Tradition: Jedes Jahr im Frühsommer treffen sich vier anerkannte Literaturexperten, um über die ideale Sommerlektüre zu beraten. Das „lesenswert“-Quartett beschäftigt sich in diesem Jahr mit vier Romanen, die die politische Gegenwart im Blick haben – aber dabei die spannende Erzählung nicht aus dem Blick verlieren. Im Palais Biron in Baden-Baden diskutiert Moderator Denis Scheck mit der Literaturkritikerin Insa Wilke, dem ZEIT-Literaturchef Ijoma Mangold und mit der Schriftstellerin Felicitas Hoppe, die als Gast eingeladen wurde. Karine Tuil – Die Zeit der Ruhelosen Ein Gesellschaftsroman – das hört sich an nach Fontane und Balzac, nach gemütlichen Leseabenden. Aber Karine Tuil füllt diesen Begriff neu: Sie beschreibt die französische Gesellschaft der Gegenwart. Und wir entnehmen fast täglich den Nachrichten, dass da Geld, Macht und Intrigen eine gehörige Rolle spielen. In „Die Zeit der Ruhelosen“ begegnen sich ein ehemaliger Afghanistankämpfer, eine Journalistin, ein reicher Unternehmer, ein Politiker. Der Roman ist rasant geschrieben, beschreibt die inneren wie die äußeren Konflikte seiner Helden und hat in Frankreich für erhebliches Aufsehen gesorgt. Karine Tuil wird manchmal mit Michel Houellebecq verglichen, dessen Erzählungen ebenfalls immer dahin gehen, wo es weh tut. Ihr erster Roman „Die Gierigen“ wird übrigens derzeit verfilmt. Christoph Hein: Trutz Christoph Hein erzählt die Geschichte zweier Familien, die sich zwischen Russland und Deutschland abspielt. Waldemar Gejm und Rainer Trutz begegnen sich in Moskau, ihre Kinder im
wiedervereinigten Deutschland. Es geht um stalinistische Säuberungen, faschistische Greuel, um die ganze Katastrophe jener Zeit und das seltsam von der Vergangenheit vernebelte Glück danach. Christoph Hein beschreibt mit freundlich einfühlsamer Lakonie, wie historische Ereignisse Unglück in die Lebensläufe einschreiben. Der Verlag kündigt das Buch stolz als „Jahrhundertroman“ an. Denis Johnson: Die lachenden Ungeheuer In Afrika ist außer der Hitze nichts sicher. Alle spielen ein doppeltes Spiel. Zwei Agenten, die sich belauern, Geheimdienste, eine Uranlieferung, Hotels, die Sicherheit vorgaukeln. Denis Johnson tut in seinem düsteren Sierra Leone-Roman alles, um dem Leser den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Trotzdem, da ist sich die Kritik sicher, ist es mehr als ein Agententhriller – da ist auch noch ein Afrika spürbar, das an das von Joseph Conrad erinnert: „Ich wünschte, ich könnte diese Stille aufzeichnen. Sie ist wie der Grund des Meeres. Ich kann den Mond hören, ich kann die Sterne hören.“ Ursula K. Le Guin: Freie Geister Die Erzählung um zwei Planeten, von denen einer den anderen ausplündert, ist ein festes Motiv der Science Fiction Literatur und von Star Wars bis Avatar immer wieder auch im Kino aufgegriffen worden. Ursula K Leguin macht eine Diskussion über die richtige Gesellschaftsform daraus: Sie erzählt vom Planeten Urras und seinem Mond Annaras, auf dem sich eine scheinbar ideale und herrschaftslose Gesellschaft entwickelt hat. Und sie fragt, ob die glückliche Anarchie ein stabiler Zustand sein kann. Einer der großen klassischen Science-Fiction-Romane in neuer Übersetzung. (Text: SWR)