Folge 2

  • 2. Petersburg, 25. Oktober 1917 – Der Aufstieg des Kommunismus

    Folge 2
    Sankt Petersburg, Petrograd ab 1914, als der Krieg ausbrach und man den deutsch klingenden Namen „Sanktpeterburg“ in Russland nicht mehr hören wollte. Später „das rote Petrograd“, dann, nach Lenins Tod, am Beginn einer langen Eiszeit, Leningrad. Heute wieder Sankt Petersburg. Der Name ruft nach den alten Zeiten. Aber was ist von ihnen geblieben? Baudenkmäler. Das Venedig des Nordens. Kommunistisch-postkommunistische Serenissima. Petrograd 25. Oktober 1917, Sturm auf das Winterpalais. Wie die bürgerliche Revolution den Sturm auf die Bastille, so hatte die proletarische den Sturm auf das Winterpalais.
    Kaum ein Ereignis der Geschichte – vielleicht keines – ist so nachinszeniert worden. Seine nachträgliche Inszenierung in Massenspektakeln und Spielfilmen verdunkelt das wirkliche historische Ereignis völlig. Die Bilder aus Eisensteins „Oktober“ sind im Bewußtsein ganzer Generationen an die Stelle historischer Tatsachen getreten. Noch in den Werken westlicher Historiker liest man, der Panzerkreuzer Aurora habe das Winterpalais von der Njewa aus unter Beschuß genommen.
    In Wahrheit feuerte er nur einen Signalschuß ab. Als Pretiose der Revolution dümpelt der Panzerkreuzer noch heute am Englischen Ufer. Was geschah an jenem Tag wirklich, der von vielen Millionen Menschen unseres Jahrhunderts Jahr für Jahr gefeiert wurde als Beginn einer Zeitenwende, einer besseren Weltordnung? Vom Palastplatz, der – aus historischer Perspektive gesehen – an jenem Abend Nabel der Welt war, zum Njewski Prospekt sind es nicht einmal 100 Meter.
    Man sollte annehmen, Petersburgs Flaniermeile sei damals in Aufruhr oder leergefegt oder von aufständischen Matrosen bevölkert gewesen. In Wahrheit waren die Restaurants gut besucht, Fedor Schaljapin, Rußlands großer Baß, trat in „Don Carlos“ auf, im Marijnski-Theater gab es „Boris Godunow“, im Teatr Zimena konnte man die Ballerina Karsawina zum erstenmal in einer Operette erleben. Niemand schien wahrhaben zu wollen, dass die Bolschewiki die Zügel der Macht bereits in der Hand hielten: Die Petrograder Garnison und die Peter-Pauls-Festung unterstanden praktisch dem Befehl Leo Trotzkis.
    Brücken, Bahnhöfe, Post, Telegrafenamt, Staatsbank und Elektrizitätswerk wurden von bolschewistischen Soldaten bewacht. Im Malachitsaal des Winterpalais harrten die Minister der Provisorischen Regierung aus. Verlassen von ihrem Ministerpräsidenten Kerenski, der sich in einem von der amerikanischen Botschaft requirierten Auto auf die Suche nach loyalen Armeeeinheiten gemacht hatte, und bewacht
    von vielleicht 3.000 Soldaten, darunter 300 Frauen des „Todesbataillons“.
    Die Soldaten aber wurden immer weniger, je mehr Zeit verging; sie folgten dem Ruf ihrer Mägen in die umliegenden Restaurants und Kneipen. Freund und Feind liefen durcheinander auf dem Palastplatz, ohne viel Aufhebens voneinander zu machen. Von der Peter-Pauls-Festung wurde ein paarmal geschossen, aber die Kanonen reichten nicht bis zum Palast, die Granaten fielen in die Njewa. Ob die Bolschewiki überhaupt auf ernstzunehmenden Widerstand stießen, ehe sie morgens um zwei endlich den Malachitsaal betraten, ist unklar.
    Die verhafteten Minister wurden zu Fuß aus dem Palast in die Festung geführt, über die Palastbrücke. Lenin hatte das Ende der Aktion gar nicht erst abgewartet, sondern bereits am Nachmittag verkündet, die Provisorische Regierung sei aufgelöst, die Revolution vollzogen: „Es lebe die sozialistische Weltrevolution!“ Petrograd vor dem vierten Kriegswinter. Seit der Februarrevolution besaß Rußland eine provisorische Regierung, der Zar hatte abgedankt.
    Die Russische Revolution war, als Lenin aus dem Exil nach Petrograd kam, bereits Wirklichkeit. Er wusste, dass der Griff nach der Macht erfolgen mußte, ehe allgemeine Wahlen den Einfluß der Bolschewiki auf die Geschehnisse beschränkten. Er setzte alles daran, seine Partei zum Aufstand zu bewegen. Der 25. Oktober war dieser Griff nach der Macht. War die Oktoberrevolution überhaupt eine Revolution? War sie nicht eher ein militärischer Staatsstreich der Bolschewiki? Im Smolny fand der II.
    Allrussische Rätekongreß statt. Hier machten die gemäßigten Sozialisten den Fehler, aus Protest gegen Lenins und Trotzkis Putsch den Saal zu verlassen. „Schert euch hin, wo ihr von nun an hingehört,“ rief Trotzki ihnen nach, „auf den Kehrichthaufen der Geschichte!“ Und sie scherten sich. Alle, die in irgendeiner Form als „gemäßigt“ gelten konnten, worin auch immer, hatten von nun an ausgespielt. Es war der Tag der bedingungslosen Fanatiker.
    Lenin oder Trotzki, Rivalen im gleichen Boot. „Rettet die Revolution!“ war bezeichnenderweise die Losung der wenigen, die sich gegen den Putsch und vor Alexander Kerenskis Provisorische Regierung stellten. Frühmorgens verlas Lunatscharski auf dem Rätekongress Lenins Manifest „An alle Arbeiter, Soldaten und Bauern“, danach löste sich die Versammlung auf. „Nur ein schwaches, kaum merkliches Dämmern stahl sich über die stillen Straßen, ließ die Wachtfeuer matt erscheinen,“ schrieb der Augenzeuge John Reed. „Ein Vorbote des schrecklichen Morgengrauens, das über Russland heraufzog.“ (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereMi 14.04.1999Das Erste

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Mi 14.04.1999
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