„Heartstopper“: Netflix-Triumph voller Intelligenz und Wärme – Review

Verfilmung des queeren Graphic Novels lässt uns hoffnungsvoll zurück

Ralf Döbele
Rezension von Ralf Döbele – 21.04.2022, 16:00 Uhr

„Heartstopper“ startet am 22. April bei Netflix – Bild: Netflix
„Heartstopper“ startet am 22. April bei Netflix

In Deutschland ist er vermutlich noch ein Geheimtipp, doch im englischsprachigen Ausland sorgt „Heartstopper“ als Graphic Novel bereits seit Jahren für Furore. Alice Oseman, Autorin und Zeichnerin, erzählte die Geschichte der britischen Teenager Nick und Charlie zunächst als Webcomic auf Tumblr und Tapas. Sie schuf sie laut eigenen Angaben einfach, weil es ihr Freude machte. Die Gefolgschaft wuchs nach dem Start rasant, eine Print-Veröffentlichung folgte. Inzwischen sind vier Bände erschienen, ein fünfter folgt im kommenden Jahr. Und nun ganz folgerichtig: die Netflix-Serie, in deren Vorfeld nun auch in Deutschland der erste Band erschienen ist.

Schon bei der Ankündigung 2019 war klar, „Heartstopper“ sollte als Serie der Vorlage so treu wie möglich bleiben und Oseman selbst würde sämtliche Drehbücher verfassen. Etwas anderes hätte die breite Fanbasis des Graphic Novels wohl auch kaum akzeptiert. Was als vermeintlicher „Fan-Service“ auch grandios hätte schiefgehen können, erweist sich als absoluter Glücksgriff. Alice Oseman hat ihre Geschichte als Drehbuchautorin nicht minder im Griff als bei der Vorlage, vielleicht sogar noch mehr.

„Heartstopper“ schafft das Kunststück, nicht nur seine Young-Adult-Fans glücklich zu machen, sondern eine universelle Coming-of-Age-Geschichte zu erzählen, die auf vielen Ebenen überzeugt und die hoffentlich bei älteren Zuschauern genauso viel Zuspruch finden wird. Die schönste Vorstellung ist sicher, dass Eltern die Serie mit ihren Kindern gemeinsam gucken können, vielleicht sogar sollten. Schimpfwörter, Alkoholgelage oder Drogen-Exzesse à la „Euphoria“ sucht man hier vergebens. So ist „Heartstopper“ zwar hochgradig romantisch, aber nicht nur. Mit großer Beobachtungsgabe und emotionaler Intelligenz verarbeitet Oseman Themen wie die erste Liebe, das Dasein als Außenseiter an der Schule, Angst im Alltag, Gruppendynamiken, Mobbing und dessen Folgen. Zeitgleich lässt „Heartstopper“ uns überaus beschwingt und hoffnungsvoll zurück. Ein wohltuendes Gegengift in recht düsteren Zeiten.

„Hi.“ – „Hi.“ … Nick (Kit Connor) und Charlie (Joe Locke) finden sich sofort sympathisch. Netflix

Charlie Spring (Joe Locke) ist 14 und hat schon einiges hinter sich. An der Truham Boys School wurde er unfreiwillig geoutet und hatte danach monatelanges Mobbing zu überstehen. So freut sich der zurückhaltende Junge zunächst auch über die Aufmerksamkeit, die ihm der gutaussehende Ben Hope (Sebastian Croft, „Penny Dreadful“) schenkt. Doch Ben will sich stets nur heimlich mit ihm treffen und findet es sichtlich praktisch, Charlie auf Abruf zu haben. Nach den Weihnachtsferien findet sich Charlie in einem seiner Kurse neben Nick Nelson (Kit Connor, „Rocketman“) wieder. Charlie fühlt sich sofort zu dem sympathischen, zwei Jahre älteren Star des Rugby-Teams hingezogen, doch seine Freunde warnen ihn: Nick sei ja wohl der heterosexuellste Typ, den man je gesehen hat.

Dennoch weist Nick Charlie nicht ab, im Gegenteil. Nick sucht seine Nähe und schlägt dem schnellen und begabten Läufer Charlie sogar vor, dem Rugby-Team beizutreten. Spätestens da läuten bei Charlies Freund Tao (William Gao) sämtliche Alarmglocken. Tao hat hautnah miterlebt, wie Charlie im vergangenen Jahr von mehreren Rugbyspielern systematisch drangsaliert worden ist. Dass Charlie nun ganz offensichtlich dabei ist, sich in Nick zu verlieben, macht ihn mehr als ein wenig nervös. Er kann nicht wissen, dass auch bei Nick das Gefühlschaos längst entfacht ist. Dabei dachte er immer, er stehe auf Mädchen. Und doch sprühen zwischen den beiden die Funken – wortwörtlich. Kleine Animationen verschönern immer wieder die Momente der Anziehung zwischen den Hauptfiguren und unterstreichen einen Rausch an Gefühlen, den jeder kennt, der sich irgendwann einmal nach jemand anderem gesehnt hat.

Nick (Kit Connor) und Hund Nellie versuchen herauszufinden, was mit ihm los ist. Netflix

Das Grandiose an „Heartstopper“ ist, dass die Serie dem vermeintlich banalen Alltag queerer Teenager eine bunte, intelligente und absolut authentische Stimme gibt. Verletzungen, Schmerz und traumatische Erlebnisse spielen sich hier nicht auf einer großen, konstruiert wirkenden Handlungsbühne ab – sondern in den Gängen der Schule, auf dem Nachhauseweg oder einsam und alleine im eigenen Bett, wo unsere Charaktere im Chat nicht die richtigen Worte finden und wo Nick letztendlich nur die Google-Suche bleibt, um herauszufinden, ob er nicht vielleicht doch bisexuell sein könnte.

Um „Heartstopper“ auf den Bildschirm zu bringen, wurde in einem offenen Casting in ganz Großbritannien nach Schauspielern gesucht, die tatsächlich noch im Teenageralter sind. Diese hatten zu einem großen Teil bislang kaum Schauspielerfahrung. Unter der Regie von „Sherlock“-Veteran Euros Lyn blüht das Ensemble in der Produktion von See-Saw Films („The Power of the Dog“, „Shame“) auf und spielt sich rasant in unser Herz.

Die Besetzung ist ein wahrer Kunstgriff. Kit Connor und Joe Locke tragen als Nick und Charlie die Serie mühelos und das, obwohl es für den 18 Jahre alten Locke die erste Fernsehrolle überhaupt ist. Der schüchterne Mathe-Nerd Charlie, der Musik liebt und gerne Schlagzeug spielt, kämpft sich still durch einen Alltag, in dem er sich fragt, warum er so ist wie er ist – und ob er damit nicht sowieso für alle anderen nur eine Belastung darstellt. Ob es nicht besser wäre, wenn er überhaupt nicht existieren würde. Manchmal wirkt er vollkommen verloren in den Gängen der Schule, als würde er darauf warten, dass die ihn endgültig auffressen.

Strenge Wächterin und Stimme der Weisheit: Charlies Schwester Tori (Jenny Walser, l.) Netflix

Als seine Schwester Tori (Jenny Walser) ihn fragt, was für einen Jungen er sich an seiner Seite wünscht, meint Charlie, jemanden, der nett und lieb sei und jemanden, der es mag, mit ihm zusammen zu sein – sicher die niedrigsten aller Ansprüche an eine Beziehung. Das zeigt, wie sehr Charlie bereits daran gewöhnt ist, von den meisten in seinem Umfeld im besten Fall links liegen gelassen, im schlimmsten Fall angefeindet zu werden. Und dann steht da plötzlich ein sonniger, einfühlsamer und humorvoller Kerl von nebenan, der ihm nicht nur sagt, wie toll er sei, sondern auch bereit ist, um ihn zu kämpfen. Charlie versteht noch nicht, dass er reich beschenkt ist mit etwas, was Nick eigentlich überhaupt nicht hat: einer Gruppe treuer Freunde.

Charlie (Joe Locke, r.) versucht Nick (Kit Connor, l.) das Schlagzeugspielen beizubringen. Netflix

Nick steht tatsächlich recht alleine da. Auf dem Spielfeld ist er zwar der Beste, aber in der Umkleidekabine auch isoliert in einem Kokon aus pubertierendem Männlichkeits-Gehabe. Für seine vermeintlichen Kumpel scheint es bereits die Erfüllung zu sein, über andere lästern zu können und dann in den Pausen auch mit diversen Dingen nach ihnen zu werfen. Die Treffer landen auch bei Charlie oder Tao, in deren Gesellschaft sich Nick aber plötzlich und endlich viel mehr wie sich selbst fühlt. Kit Connor stehen die Offenheit, die Neugier und die Sorgen von Nick Nelson geradezu ins Gesicht geschrieben. Sich tatsächlich über diesen Erwartungsdruck seines langjährigen Umfelds hinwegzusetzen, zu sich selbst zu stehen, wenn man noch nicht mal richtig fassen kann, wer man denn nun bitte ist – das ist auch für den Ausnahme-Sportler alles andere als leicht.

So fängt „Heartstopper“ die Euphorie, Wärme und Zärtlichkeit einer ersten Liebe mit großer Romantik ein, gaukelt aber glücklicherweise nie vor, dass jetzt, durch die gefundene Liebe, endlich alles gut und rosig werden wird. Jeder Zentimeter Zweisamkeit, den Nick und Charlie sich hier erkämpfen, stellt kein Happy End dar, sondern lediglich den Anfang einer noch sehr wechselvollen Geschichte. Zwar findet Nick letztendlich den Mut, den Bullys die Stirn zu bieten. Doch es wird sich zeigen, dass die bei Charlie noch tiefere Spuren hinterlassen haben, als irgendjemand zunächst ahnt. Das Wunderschöne daran: Charlies Trauma kippt hier in der Serie nie ins Melodrama. Auch hier bleibt „Heartstopper“ bei den kleinen Kämpfen des Alltags, welche die tiefsten Narben hinterlassen können.

Freunde, wie man sie sich nur wünschen kann: Elle (Yasmin Finney, M.), Tao (William Gao, r.) und der Bücher verschlingende Isaac (Tobie Donovan, 2. v. r.) Netflix

Immerhin sind Nick und Charlie nicht allein: Bereits in den eigenen Familien gibt es wertvolle Alliierte. Charlie hat seine gnadenlos alles beobachtende Schwester Tori, die immer wieder scheinbar aus dem Nichts auftaucht und mit bohrenden Fragen zum Kern des Geschehens vordringt. William Gao glänzt als strenger Beschützer Tao, der Charlie auch derart heftig vor Nick warnt, weil er selbst Angst hat, dass sich jetzt alles verändern und er ihn verlieren könnte.

Schließlich musste sich Tao bereits mit dem „Verlust“ von Elle (TikTok-Star Yasmin Finney) abfinden. Das junge Trans-Frau geht jetzt auf eine Schule für Mädchen, die beiden sehen sich deutlich seltener. Unter der Freundschaft der beiden, die zu einem großen Teil aus Interventionen im Freundeskreis und dem Fachsimpeln über Filme zu bestehen scheint, brodelt ebenfalls tiefe Romantik. Allerdings hatten beide bereits genug Veränderung, alles andere muss jetzt erst einmal warten. Nicht nur bei ihnen tritt „Heartstopper“ kategorisch dafür ein, dass die Basis jeder funktionierenden Beziehung erst einmal tief empfundene Freundschaft ist. Wie kann eine vermeintliche Teenager-Serie derart weise und erwachsen sein?

Aus tief empfundener Freundschaft wird Liebe: Elle (Yasmin Finney, l.) und Tao (William Gao, r.) Netflix

Die wunderbare Chemie zwischen Gao und Finney macht Tao und Elle zu einem mindestens so interessanten potentiellen Liebespaar wie Nick und Charlie. Umso begrüßenswerter ist es, dass die beiden in der Serienfassung deutlich mehr Handlungsraum erhalten als in der Vorlage. Ähnlich sieht es mit dem dritten Pärchen im Bunde aus. Elle freundet sich in ihrer neuen Schule mit dem lesbischen Paar Tara (Corinna Brown) und Darcy (Kizzy Edgell) an. Gerade für Nick werden die beiden zu wichtigen Beraterinnen. Wie ist es, offen mit seiner eigenen Sexualität umzugehen? Wie fällt die Reaktion im Freundeskreis und an der Schule aus? Wie Tara nach ihrem eigenen Outing feststellen muss, bleibt das große Gefühl von Befreiung zunächst aus. Hinter ihrem Rücken wird getuschelt, verletzende Kommentare tauchen immer wieder auf ihrem Instagram-Account auf. Plötzlich ist für sie alles anders und sie weiß nicht, wie sie damit umgehen soll.

Auch hier zeigt die Serie mit erfrischender Offenheit: Das Richtige kann trotzdem wehtun und die immer wieder beschworene Outing-Formel von It gets better (Es wird besser) ist eigentlich immer auch mit einem Zusatz verbunden: Gib dir Zeit, gib deinem Umfeld Zeit! So ist es auch für Nick ein weiter Weg, bis er voller Überzeugung in die Welt hinausschreien kann: Ich mag Charlie Spring! Auf ’ne romantische Art, nicht nur auf ’ne freundschaftliche Art!

Nick (Kit Connor, l.) und Charlie (Joe Locke, r.) im Frühling der Gefühle Netflix

Dieser Weg selbst findet sich mit acht Episoden à 30 Minuten in der besten schwul-lesbischen Serie seit „It’s a Sin“ im vergangenen Jahr (fernsehserien.de berichtete) und in dem besten queeren Format, das Netflix je hervorgebracht hat. „Heartstopper“ steht voller Überzeugung dafür, dass trotz aller, teils brutaler Hindernisse im Alltag auf LGBTQ-Teenager ein Leben voller Liebe, Würde und Freundschaft wartet mit Menschen, die fast alles für einen tun würden. Ein Leben, das unbedingt lebenswert ist.

„Heartstopper“ ist intelligent, emotional, verspielt, verträumt, dramatisch in seiner Ehrlichkeit, wunderschön gefilmt, hervorragend inszeniert und voller Hoffnung – eine Serie, die wir gerade jetzt dringend gebraucht haben und die sich trotz ihres überaus ernsthaften Kerns dystopischer Streaming-Massenware selbstbewusst in den Weg stellt. „Heartstopper“ ist die Geschichte, die jeder an die Hand bekommen sollte, der jemals als Außenseiter mit geducktem Kopf einen Schulkorridor entlanggelaufen ist – egal ob damals oder heute.

Meine Wertung: 5/​5

Dieser Text basiert auf der Sichtung der kompletten ersten Staffel von „Heartstopper“, die am Freitag, den 22. April auf einen Schlag bei Netflix erscheint. Der Graphic Novel von Alice Oseman ist in seiner deutschen Fassung im Loewe-Verlag erschienen.

Über den Autor

Ralf Döbele ist Jahrgang 1981 und geriet schon in frühester Kindheit in den Bann von „Der Denver-Clan“, „Star Trek“ und „Aktenzeichen XY …ungelöst“. Davon hat er sich als klassisches Fernsehkind auch bis heute nicht wieder erholt. Vor allem US-Serien aus allen sieben Jahrzehnten TV-Geschichte haben es ihm angetan. Zu Ralfs Lieblingen gehören Dramaserien wie „Friday Night Lights“ oder „The West Wing“ genauso wie die Prime Time Soaps „Melrose Place“ und „Falcon Crest“, die Comedys „I Love Lucy“ und „M*A*S*H“ oder das „Law & Order“-Franchise. Aber auch deutsche Kultserien wie „Derrick“ oder „Bella Block“ finden sich in seinem DVD-Regal, das ständig aus allen Nähten platzt. Ralf ist als freier Redakteur für fernsehserien.de tätig und kümmert sich dabei hauptsächlich um tagesaktuelle News und um Specials über die Geschichte von deutschen und amerikanischen Kultformaten.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Star Trek – Enterprise, Aktenzeichen XY … Ungelöst

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • am

    Klingt, als ginge es hier um die Alltagsprobleme von Hinz und Kunz von nebenan.
    Normalerweise ist so etwas eine Nebenhandlung. Sehe da wenig Spannungspotential.
    • am

      Also ich fand sie so interessant, daß ich gleich alle Folgen angesehen habe, was ich sonst nie mache.
      Es sind ja nur 8 und meist jeweils lediglich 22 Minuten.
      Was 4200 schrieb, trifft zu 100 % zu, bezüglich der Schauspieler und so...
      Da freut man sich auf eine Fortsetzung.
      • am

        Bin zwar aus dem Teenalter längst heraus, allerdings werde ich mir diese Serie auf jeden Fall ansehen,
        da aus GB generell gute Serien kommen, die von den Schauspielern, der Geschichte und auch der Ausstattung her immer sehr hochwertig sind und mir viel Freude bereiten.
        Und die sexuelle Ausrichtung ist eine von vielen, die es nun mal gibt auf der Welt und das sollte eigentlich mittlerweile bei jedem Zuschauer angekommen sein.

        Und zum wiederholten Male mein Tipp für die unvermeidlichen Miesmacher, eventuell die lieber Fussball und/oder Vin Diesel-Filme bevorzugen: man muß nicht anschauen, was einem nicht gefällt!!!
        • (geb. 1968) am

          Text nicht gelesen? Noch mal für Dich die Zusammenfassung: "„Heartstopper“ ist intelligent, emotional, verspielt, verträumt,
          dramatisch in seiner Ehrlichkeit, wunderschön gefilmt, hervorragend
          inszeniert und voller Hoffnung"
          Oder ist für Dich queer
          • am

            Produziert Netflix nur noch Müllformate in den englischssprachigen Ländern? Ist ja schrecklich

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