Wenn jemand über sie sagen würde, „sie raubt Männern den Atem“, wäre für Jessica Bartling beruflich gesehen irgendetwas schief gelaufen, denn ihre Krawatten reißt sich keiner gleich nach dem Geschäftstermin entnervt vom Hals. Darauf ist die Hamburger Manufakturchefin stolz. „Sprungelastisch“ heißt das Zauberwort und „Handarbeit“. Ansonsten bringt die blonde Cravatiére, so nennt sich ihr in Deutschland fast schon ausgestorbener Berufsstand, durchaus Männeraugen zum strahlen, wenn sie mit einem Musterkoffer anreist, in dessen Innerem es in allen Regenbogenfarben leuchtet. Von der seidigen Sinnlichkeit ihrer Kreationen weiß sie inzwischen auch Prominente zu überzeugen. Schauspieler wie Marek Ehrhardt schwören auf Jessica Bartlings Paisley- und Streifen-Binder. Auch auf dem ZDF-„Traumschiff“ tragen die Crewmitglieder Qualitätskrawatten, gefertigt in Hamburg-Altona. Der Geruch der frisch gedämpften Seidenstoffe, die üppigen Farben, die Wände voller Stoffballen, Schachteln mit bunten Garnen: die Krawattenmanufaktur ihrer Eltern war für Jessica Bartling schon als Kind das Paradies. Trotzdem wollte sie die Firma nie übernehmen. Mode ja, aber Binder und Schleifen nein. Doch während des Modestudiums stellte sie fest: Frauenmode ist ihr zu Chi-Chi. Während eines Praktikums in New York hatte sie dann doch plötzlich mit
Krawattendesign zu tun und wurde neugierig. Ein Jahr arbeitete sie in Norditalien in den Webereien, die die Stoffe für den Betrieb ihrer Eltern herstellten, dann waren die letzten Zweifel getilgt. Die Faszination für das kunstvolle Handwerk der Seidenweber hatte sie endgültig gepackt. Sie wurde Juniorchefin eines inzwischen 175 Jahre alten Traditionsunternehmens. Heute sind Vater Rüdiger und Mutter Elke vor allem begeisterte Großeltern. Die Firmenleitung haben sie an ihre Tochter abgegeben. Die 45-Jährige hat alleine die Verantwortung für 15 Mitarbeiter und für den zehnjährigen Sohn Jona. Ihr Mann Dirk ist Fotograf und über die Hälfte des Jahres überall in der Welt unterwegs. Die Chefin ist nicht nur für die zwei jährlichen Kollektionen zuständig, sondern auch für die Qualität der Stoffe, fürs Design der Muster und die Farben. Aber auch Liebeskummer oder Kindererziehungsprobleme ihrer Mitarbeiterinnen bleiben in einem so kleinen Betrieb nicht verborgen. 1905 hatte „Laco“ noch 500 Mitarbeiter. Wenn die Emotionen im reinen Frauenteam mal wieder hochkochen, ist Jessica Bartling froh, dass es nicht mehr so ist. Trotzdem liebt sie es, die alten Schwarz-Weiß-Fotos und die bunten Werbeplakate aus den Glanzzeiten des Unternehmens durchzublättern. Sie ist stolz, dass es die Firma noch gibt, denn die meisten Textilunternehmen produzieren längst in Südostasien. (Text: NDR)