„Ich und die Anderen“: Sky-Miniserie mit Tom Schilling als überambitioniertes Gesamtkunstwerk – Review

„Braunschlag“-Macher David Schalko bricht auf verstörende Weise alle Regeln

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 28.07.2021, 17:30 Uhr

„Ich und die Anderen“ mit Tom Schilling und Katharina Schüttler – Bild: © [2020] Superfilm/Pertramer/Sky
„Ich und die Anderen“ mit Tom Schilling und Katharina Schüttler

David Schalko gilt seit einigen Jahren als innovativster und furchtlosester Serienmacher Österreichs. Mit seinen bisherigen Miniserien „Braunschlag“, „Altes Geld“ und „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ testete er wiederholt aus, was im Rahmen des ORF-Fernsehprogramms möglich ist. Deutsche Kritiker bewunderten dabei den Mut des öffentlich-rechtlichen Nachbarsenders, solche ebenso frechen wie stilistisch herausragenden Formate am Hauptabend im ersten Programm zu zeigen. Jetzt hat Schalko seine erste Miniserie für einen Bezahlsender gemacht: Das sechsteilige „Ich und die Anderen“ läuft exklusiv bei Sky. Dabei sind die nun anscheinend völlig fehlenden künstlerischen Schranken seiner Arbeit allerdings nicht gut bekommen.

Tom Schilling, der irgendwie in jeder seiner Rollen so aussieht, als könne er kein Wässerchen trüben, spielt Tristan, einen gerade noch jungen Mann, der mit seiner schwangeren Freundin Julia zusammenlebt und in einem hippen Start-Up arbeitet, einer Mischung aus Tech-Firma und Werbeagentur. Die meiste Zeit des Tages treibt er durch sein Leben, ohne zu echten Entscheidungen fähig zu sein. Doch eines Morgens ist alles anders: Wildfremde Menschen sprechen ihn auf der Straße auf intime Gedanken an, der Barista im Hipstercafé schreibt seinen richtigen Namen auf den Becher, obwohl er ihm einen falschen genannt hat und all seine kleinen alltäglichen Ausreden laufen ins Leere. Anscheinend weiß jeder alles über ihn. Und dann ist da noch ein geheimnisvoller Taxifahrer, der ständig auf ihn wartet und seine Wünsche schon im Voraus kennt.

Am Ende der Auftaktfolge fordert er Tristan auf, einen Wunsch zu äußern. Könnten sich nicht alle Menschen einfach immer die Wahrheit sagen? Am nächsten Morgen wird dieser Wunsch Wirklichkeit, die schonungslose Offenheit endet aber in bürgerkriegsähnlichen Zuständen. So wird jede Episode zu einem neuen Gedankenexperiment mit völlig geänderter Ausgangssituation. Wie wäre das Leben, wenn einen alle Menschen bedingungslos lieben würden? Wie wäre es, wenn man selbst umgekehrt alle und alles lieben würde? Und in Folge 5 gibt es dann sogar ein kleines Gerät, das einem alle Entscheidungen abnimmt.

Lars Eidinger spielt Tristans Chef, das überzeichnete Stereotyp eines Start-Up-Gründers. Sky Deutschland/​Superfilm/​Ingo Pertramer

Es geht Schalko also mal wieder um die condition humana, diesmal allerdings nicht anhand von individuell gezeichneten Figuren wie in seiner meisterhaften Provinzposse „Braunschlag“, sondern eher auf einer abstrakten, übergreifenden Ebene. Tristan ist letztlich nur eine Chiffre, ein Mister Mustermann, der über sein Alter und seine Ziellosigkeit hinaus keine besonderen Eigenschaften hat. Das trifft leider auch auf seine Freundin Julia (Katharina Schüttler) zu sowie auf die meisten anderen Figuren. Diese sind bestenfalls treffend überzeichnete Stereotype wie Lars Eidingers egozentrischer Start-Up-Chef, der den ganzen Tag auf einem Hoverboard durchs Büro gleitet. Schlimmstenfalls sind es groteske Gestalten wie Tristans Eltern: Der Vater (Martin Wuttke) ist von seinem übergroßen Penis besessen, die überbeschützende Mutter (Sophie Rois) reitet am liebsten auf ihrem geliebten, aber längst ausgestopften Hengst. Tristans Schwester Isolde (Sarah Viktoria Frick) wiederum ist eine Künstlerin, die großflächige Bilder mit aufgerissenen Vaginen malt und zur Ausstellungseröffnung einen nach dem Riesenpenis ihres Vaters modellierten Dildo trägt.

In der ersten Folge ist das alles noch lustig, weil irre überdreht, ermüdet aber schnell, wenn Schalko immer neue Absurditäten aufeinander türmt, ohne dass diese ein größeres Ganzes ergeben würden. Eine Handlung im herkömmlichen Sinn ist spätestens ab Episode 4 nicht mehr zu erkennen, in der fünften lösen sich endgültig alle Realitätsebenen auf, wenn Wuttke und Rois plötzlich erkennbar über eine spärlich ausgestattete Bühne ziehen wie die Figuren in einem Theaterstück. Zudem zeigt Schalko eine unangenehme Lust an Gewaltdarstellung, wenn Isolde und ihre Geliebte in einem Nachtclub einen Amoklauf mit phallisch aufgesetzten Messern starten – ohne dass es dafür irgendeine nachvollziehbare Motivation gäbe.

Sophie Rois als Übermutter auf ihrem geliebten, leider schon ausgestopften Hengst Sky Deutschland/​Superfilm/​Ingo Pertramer

Stilistisch ist die Miniserie zu großen Teilen brillant. Da stimmt einfach alles, von der detailverliebten Ausstattung bis zur passend eingesetzten Musik. Das erreicht seinen Höhepunkt in Folge 3, der, in der Tristan von allen Menschen unendlich geliebt wird. Sein Alltag wird dadurch zum Hollywood-Musical, in dem erst nur Julia, dann weitere Freunde und Angehörige und schließlich die ganze Nachbarschaft für ihn singen und tanzen, in einer perfekt inszenierten Plansequenz mit Dutzenden Statisten, die zudem noch alle wunderbar farbenfroh aufeinander abgestimmt gekleidet sind. Solche Szenen hat man in einer deutschsprachigen Serie noch nicht gesehen. Das wiederholt sich dann später noch beim Dreh eines Werbespots.

Aber was nützt die ganze handwerkliche Brillanz, wenn die Handlung seltsam wirr und die Figuren leer bleiben? Schon in „Altes Geld“ fragte man sich, worauf Schalkos in alle Richtungen feuernde Gesellschaftskritik eigentlich zielte. In seinem neuesten Werk ist die Sozialkritik nun hinter allgemein philosophischen Fragen zurückgetreten: Gibt es einen freien Willen? Macht es überhaupt einen Unterschied, wie wir uns entscheiden? Oder wird ein zum Unglück geborener Mensch nicht immer unglücklich bleiben, egal, welche Entscheidungen er trifft?

Brillant inszenierte Massenszene: Alle lieben plötzlich Tristan Sky Deutschland/​Superfilm/​Ingo Pertramer

Das wären alles interessante Ausgangsfragen für eine Miniserie. Leider hat Schalko kein echtes Interesse daran, Antworten zu suchen, sondern präsentiert uns die moderne Gesellschaft lieber als eine Freak-Show aus lauter liebesunfähigen EgomanInnen, deren geistiger Horizont nicht bis zur nächsten Straßenecke reicht. Die Lust an der Provokation wird ungefähr in der Mitte der Gesamtlaufzeit zum reinen Selbstzweck, wodurch einige der Folgen leider zu den längsten 40 Minuten werden, die man als TV-Zuschauer durchlitten hat.

„Ich und die Anderen“ entzieht sich im Grunde allen gängigen Bewertungsmaßstäben, die man als TV-Kritiker normalerweise anlegen kann. Die komplett von Schalko geschriebene und inszenierte Miniserie ist viel mehr ein kompromissloses Gesamtkunstwerk als eine herkömmlich narrative Serie. So sind diese knapp sechs Stunden über weite Strecken weder unterhaltsam noch erbauend, sondern eher wie der Gang durch eine Beuys-Ausstellung. Manche werden das lieben, andere sich verständnislos oder angeekelt abwenden. Etwas weniger künstlerische Freiheit hätte in diesem Fall dem Werk wohl besser getan.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten fünf Episoden der Miniserie „Ich und die Anderen“.

Meine Wertung: 3/​5

Jeweils zwei Folgen von „Ich und die Anderen“ sind ab dem 29. Juli donnerstags ab 20:15 Uhr bei Sky Atlantic zu sehen. Am gleichen Tag sind bereits alle sechs Episoden über Sky Ticket und Sky Go abrufbar.

Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

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