„American Primeval“: Jeder gegen jeden – Review
Netflix zertrümmert mit grimmig-packender Westernserie Vorstellung des amerikanischen Traums
Rezension von Christopher Diekhaus – 09.01.2025, 09:01 Uhr
Ein aufregendes Panorama der Westerschließung Nordamerikas zu erzählen – mit diesem Vorsatz werkelte Hollywood-Star Kevin Costner weit über 30 Jahre lang an seinem absoluten Herzensprojekt herum. 2024 kam mit „Horizon“ der erste Teil einer auf vier Kapitel angelegten Leinwandsaga in die Kinos – und legte eine gewaltige Bruchlandung hin. Nicht nur an den Kassen blieb der Film hinter den Erwartungen. Auch die Kritiker waren alles andere als begeistert. Dass die Geschichte der USA auf Blut und Leiden gründet, unterschlug Costner nicht. Seine Vision der Kolonisation und der mit ihr einhergehenden Auseinandersetzungen wirkte insgesamt aber zu glattgebügelt und hinterließ eine arg sprunghaften, holprigen Eindruck. Wie es besser geht, zeigt die Netflix-Miniserie „American Primeval“, die den sogenannten Wilden Westen als eine Art Vorhölle, einen Schauplatz unerbittlicher Kämpfe inszeniert. Klassische Helden gibt es hier nicht. Wie es die Texttafel zu Anfang unheilvoll ankündigt, geht es einzig und allein ums nackte Überleben. Wer auf der Suche nach dem eigenen Glück nicht gefressen werden will, muss bereit sein, zu töten.
Hinter dem von wahren Ereignissen inspirierten Sechsteiler steht mit Schöpfer und Showrunner Mark L. Smith ein Autor, der schon das Drehbuch für Alejandro González Iñárritus preisgekrönten Western „The Revenant – Der Rückkehrer“ (2015) verfasste. Eine knallharte Survivalgeschichte rund um einen halbtoten Trapper, der sich auf einen kräftezehrenden Rachefeldzug begibt. Leonardo DiCaprio brachte die herausfordernde Rolle nach mehreren Nominierungen bekanntlich den lang ersehnten Oscar-Triumph ein.
Vor diesem Hintergrund war zu erwarten, dass Smith in „American Primeval“ kein romantisch verklärtes Bild der US-Geschichte zeichnen würde. Im Gegenteil, selten hat in den letzten Jahren eine Westernproduktion derart im Dreck gewühlt wie diese. Erhaben erscheint die Landschaft nur selten. Oft strahlt sie etwas Bedrohliches, Unwirtliches aus. Tief hängen die Wolken. Dicht ist das Schneetreiben in den Bergen. Und schlammig sind viele Untergründe. Von Verheißung also keine Spur!
Das auf dem Gebiet des heutigen Bundesstaates Utah liegende Fort Bridger, das Jim Bridger (Shea Whigham) sein Eigen nennt, ist keine Glanzleistung der Baukunst, sondern eine Ansammlung von Baracken. Nicht viel anders sieht es beim Stützpunkt von Armee-Captain Dellinger (Lucas Neff) aus, der die Regierung der Vereinigten Staaten in der Region vertritt. Auch Utahs Gouverneur Brigham Young (eine real existierende Figur verkörpernd: Kim Coates), der Anführer der Glaubensgruppe der Mormonen, muss auf Luxus jeglicher Art verzichten. Ein Leben der Entbehrung führen nicht zuletzt die verschiedenen indigenen Stämme in der Gegend.
Fort Bridger ist im Jahr 1857 Anlaufpunkt für die in den noch wenig erschlossenen Westen reisende Sara (Betty Gilpin), die mit ihrem Sohn Devin (Preston Mota) vor einer unschönen Vergangenheit flieht. Lange aufhalten möchte sie sich hier nicht. Doch unerwartet hat sie Probleme, einen Begleiter zu finden, der sie und den Jungen an den Ort bringen kann, wo Devins Vater es angeblich zu etwas Wohlstand gebracht hat. Jim Bridger macht sie mit dem barschen Einzelgänger Isaac (charismatisch in einer archetypischen Rolle: Taylor Kitsch) bekannt, der allerdings kein Interesse hat, Mutter und Sohn zu eskortieren. Kurzerhand gesellt sich Sara daraufhin zu einem aufbrechenden Mormonentrupp, ohne zu merken, dass sich in ihrem Planwagen die stumme Ureinwohnerin Two Moons (Shawnee Pourier) versteckt, die ihren sexuell übergriffigen Vater mit einem Messer attackiert hat.
Als die Reisegruppe den Schutz eines anderen, gerade Halt machenden Siedlertrecks sucht, kommt es zu einem brutalen Überfall, den Regisseur Peter Berg (in dieser Sequenz auch in einer kleinen Nebenrolle zu sehen), ganz ähnlich wie sein Kollege Iñárritu beim Einstieg von „The Revenant – Der Rückkehrer“, in einer langen, hochdynamischen Einstellung dreht. Schüsse peitschen durch die Luft, Tiere geraten in Panik, Menschen taumeln durchs Bild, und mittendrin versucht Sara, sich und ihren Sohn zu schützen. Auf ihrer Flucht erhalten sie plötzlich Unterstützung von jenem Isaac, der es zuvor noch abgelehnt hatte, ihnen zu helfen. Das Trio, dem sich auch die unversehrte Two Moons anschließt, ist jedoch zunächst uneins, wohin es gehen soll.
Während der Mormone Jacob Pratt (Dane DeHaan) das Massaker schwer verletzt überlebt, gerät seine Frau Abish (Saura Lightfoot-Leon) auf Umwegen in die Gefangenschaft des indigenen Stammes von Rote Feder (Derek Hinkey). Das Blutbad ruft Captain Dellinger auf den Plan, der die Schuldigen zur Strecke bringen will. Jacob wiederum ist wild entschlossen, seine verschwundene Gattin zu finden, und tut sich dafür mit einer von Virgil Cutter (Jai Courtney) angeführten Kopfgeldjägerbande zusammen. Deren Ziel: die steckbrieflich gesuchte Sara aufzuspüren.
„American Primeval“ serviert uns ein dickes Bündel an Konflikten und gegeneinanderstehenden Interessen, aus dem die Serie, anders als das eingangs erwähnte Costner-Epos „Horizon“, einen narrativen Flow entwickelt. Mark L. Smith treibt die Handlung geschickt voran, verzahnt die einzelnen Stränge so, dass kein Leerlauf entsteht. Das lässt sich zumindest nach den ersten vier Folgen konstatieren, die für diese Kritik in Augenschein genommen wurden. Regelmäßig gibt es druckvolle, mit Spannung aufgeladene Konfrontationen, bei denen man stets mit einer Eskalation rechnen muss. Mitunter greift die Netflix-Produktion sogar ins Horrorhafte aus. Etwa, wenn Sarah, Devin und Isaac in die Hände einer französischen Sippe fallen, die ebenso gut aus einem postapokalyptischen Schocker oder einem Backwoods-Thriller der Marke „The Texas Chain Saw Massacre“ (1974), hierzulande auch bekannt als „Blutgericht in Texas“, stammen könnte. Vor allem in diesen Momenten sind die Macher dem Reißerischen nicht abgeneigt und schießen in der Darstellung des Schreckens ein wenig übers Ziel hinaus.
Im Gegensatz zu vielen anderen Westernarbeiten zeigt „American Primeval“ eine Welt, in der die Grenzen zwischen Gut und Böse dramatisch verschwimmen. Fast jeder ist sich hier selbst der Nächste. Der eigene Vorteil steht über allem. Und ständig dient Gewalt als Mittel zur Durchsetzung der Ambitionen. Der amerikanische Traum als blutgetränkte Perversion.
Die Mormonen fühlen sich von der Regierung drangsaliert, haben selbst aber eine Privatmiliz, die nicht davor zurückschreckt, Glaubensbrüder und -schwestern abzuschlachten. Der nach wie vor grassierende Streit in den USA um staatliche Regulierung und Selbstverwaltung blitzt in der Auseinandersetzung zwischen der religiösen Gemeinschaft und der Armee unverkennbar auf. Parallel setzt Brigham Young Siedler wie Jim Bridger mit Drohungen unter Druck, Grund und Boden abzutreten. Der Fortbesitzer indes gibt sich keinen Illusionen hin, begegnet den brutalen Umständen mit Pragmatismus, macht Geschäfte und hat nicht vor, sein kleines Stück Freiheit kampflos aufzugeben. Ein amerikanischer Individualist, wie er im Buche steht.
Höchst gespalten zeichnet die Miniserie auch die indigene Seite. Manche Ureinwohner kollaborieren offen mit den weißen Kolonisatoren. Andere, beispielsweise Rote Feder, werden von Wut auf die Eindringlinge geleitet und wollen das über sie gebrachte Leid, die Landnahme auf blutige Weise rächen. Und dann gibt es solche, die für Mäßigung eintreten, ein friedliches Miteinander beschwören, weiteren Schmerz abzuwenden versuchen. Angst vor dem Unbekannten, dem Anderen, das wird an einer Stelle deutlich formuliert, sei die Triebfeder für Hass und Gewalt. Ein Hinweis auf unsere spannungsgeladene Gegenwart, in der Ausgrenzung und Diskriminierung leider wieder mehr und mehr um sich greifen.
Was zudem auffällt: Frauen stehen in der Netflix-Produktion etwas stärker im Fokus, als es im Westerngenre üblich ist. Gerade sie sind es, die bei all der Gier, all der Barbarei noch Empathie entwickeln können, wobei das Mitgefühl in manchen Augenblicken auch hochgefährlich sein kann. Die wichtigsten weiblichen Figuren – Sara, Two Moons und Abish – brechen auf jeweils eigene Weise aus Opferrollen aus, lernen, mit den grausamen Bedingungen umzugehen. Besonders die innere Reise der jungen Mormonin hätten man allerdings noch ein bisschen genauer in den Blick nehmen können.
Ein interessanter Widerspruch ergibt sich in der Gestaltung von „American Primeval“. Einerseits sind Peter Berg und Mark L. Smith um raue Authentizität bemüht, die sich in wackeligen Handkamerabildern, nahen Einstellungen und harten, direkten, schnörkellos choreografierten Kampfszenen ausdrückt. Andererseits tritt eine gewisse Künstlichkeit zum Vorschein. Sei es der gelegentliche Ausflug ins Horrorkabinett oder aber die massive Graufärbung zahlreicher Passagen, die wohl das Gefühl der Tristesse und Hoffnungslosigkeit verstärken soll. Manchmal kommt die Miniserie zwar etwas holzhammermäßig daher. Ihrer Sogwirkung tut das jedoch keinen Abbruch.
Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten vier von insgesamt sechs Folgen der Miniserie „American Primeval“.
Alle sechs Episoden der Miniserie „American Primeval“ stehen ab dem 9. Januar bei Netflix zum Abruf bereit.
Über den Autor
Christopher Diekhaus, Jahrgang 1985, erlebte seine TV-Sozialisation in den 1990er-Jahren. Seine echte Liebe für den Flimmerkasten entbrannte allerdings erst gegen Ende der Schulzeit. Nach seinem Studium landete er zunächst in einer Film- und Fernsehproduktionsfirma. Seit 2013 schreibt Christopher als Freiberufler Film- und Serienkritiken. Das Portal fernsehserien.de unterstützt er seit Ende 2019. Im Meer der Veröffentlichungen die Perlen zu entdecken – diese Aussicht spornt ihn immer wieder an. Insgeheim hofft er, irgendwann eines seiner in der Schublade liegenden Drehbücher zu verkaufen. Bis er den Oscar in Händen hält, sichtet und rezensiert er aber weiter fleißig die neuesten Serien.
Lieblingsserien: Devs, Lass es, Larry!, Severance
Kommentare zu dieser Newsmeldung
Cable am
Habe jetzt übers WE die Serie angeschaut. Ok hat wirklich recht viele Grautöne und ist teilweise hart und Krass aber absolut sehenswert. Für mich sicher nah bei 4.5. einfach selber anschauen.streamingfan am
man muß echt mal die Kritik von American Primeval und danach die Kritik von The Pitt lesen. Beide Serien haben fast gleich viele Sterne bei der Bewertung bekommen. Das paßt nicht wirklich wie ich finde.User 65112 am
Eine so gute Kritik und dann nur dreieinhalb Sterne? Also doch nur Mittelmaß? - ich werde es mir auf jeden Fall anschauen. Die Filme von Peter Berg waren immer super.Hans18 am
Hab mir genau das gleich gedacht. Was waren die Kritikpunkte, dass 1.5 Sterne abgezogen wurden? Es steht nämlich nur positives im Text. Habe mit 4.5 gerechnet. Also irgendwas muss dann schlußendlich doch nicht überzeugt haben.Tom_Cat am
3,5 von 5 ist kein Mittelmaß! Das ist im Wertungsgenre der Medien ein GUT. Mittelmaß wären 2 bis 3 Sterne (vom unteren bis gehobenen Mittelmaß). Sprich, ok für 3 Punkte!/Sterne, 2.,5 für Durchschnitt und 2 für lau.
Dennoch, wenn man es im Text fast abfeiert erscheinen die 3,5 als gering.LeeShaw am
Oder weil ja noch 2 Folgen fehlen zum anschauen
😏😉